ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Anne Applebaum, Der Gulag, aus dem Englischen von Frank Wolf, Siedler Verlag, Berlin 2003, 733 S., geb., 32,00 €.

Die deutsche Übersetzung des Werkes von Anne Applebaum, ,,Gulag. A History", das im Jahre 2003 bei Doubleday in New York erschien, ist nicht die erste dem deutschen Leser zugängliche Darstellung der sowjetischen Straflager und Zwangsarbeitslager. 2001 erschien im Propyläen-Verlag Berlin/München ,,Das Jahrhundert der Lager" von Pierre Rigoulet und Joel Kotek und 2002 im Styria-Verlag Graz unter der Herausgeberschaft von I. Dobrowolsski das ,,Schwarzbuch GULAG", um nur zwei Veröffentlichungen aus dem umfangreichen Schrifttum zu dieser Thematik zu nennen. Allerdings gilt die Veröffentlichung von Anne Applebaum als die bisher umfangreichste und wissenschaftlich präziseste. Behandelt wird das gewaltige Lagersystem, das von 1929 bis zu Stalins Tod im Jahre 1953 von etwa 18 Millionen Menschen durchlaufen wurde, von denen schätzungsweise etwa 4,5 Millionen Menschen nicht mehr zurückkehrten. Die Autorin greift für ihre Untersuchung auf Akten des Russischen Staatsarchivs in Moskau, Akten der Kommunistischen Partei, Dokumente aus dem persönlichen Archiv Stalins, Presseveröffentlichungen, Interviews mit ehemaligen Angehörigen des Wachpersonals, Interviews mit ehemaligen Lagerinsassen und Memoirenliteratur der Dissidenten zurück.

Gulag ist die Abkürzung für ,,Glavnoje Upravlenije Lagerej" (Hauptverwaltung der Lager) und wird seit geraumer Zeit als Synonym für das System des kommunistischen Terrors gebraucht, das sich vom bolschewistischen Russland aus über die gesamte Sowjetunion und später auch über die Ostblockstaaten ausdehnte. Schon im Jahre 1918, ein Jahr nach der kommunistischen Machtergreifung in Russland, forderte Lenin, ,,verdächtige Personen in Konzentrationslagern" unterzubringen. In den Jahren 1917-1923 herrschten in den sowjetischen Gefängnissen und Lagern, bedingt durch den Bürgerkrieg, teilweise chaotische Verhältnisse.

Im Juni 1923 errichtete die sowjetische Geheimpolizei (Tscheka/GPU) das erste ,,Lager zur besonderen Verwendung" auf den Solowezki-Inseln im Weißen Meer. 1923 waren in diesem Lager einige Hundert Häftlinge, 1925 waren es bereits mehr als 6.000: Offiziere und Sympathisanten der Weißen Armee, Teilnehmer des Kronstädter Matrosenaufstandes, ehemalige Adelige und gewöhnliche Kriminelle. Die Gefangenen, darunter auch Frauen, wurden zu schweren körperlichen Arbeiten, beispielsweise Holzfällen und Torfstechen, eingesetzt. Die medizinische Versorgung der Gefangenen war unzureichend; wirtschaftlich warf das Lager zunächst keinen Gewinn ab. Bis 1930 wurde es jedoch zu einem Musterlager und durchorganisierten Wirtschaftsunternehmen, nach dessen Vorbild Tausende von weiteren Lagern in allen Teilen der Sowjetunion errichtet wurden. Diese Entwicklung ist untrennbar verbunden mit dem Namen von Naftali Aronowitsch Frenkel, der vom Häftling zum Lagerkommandanten aufstieg. Frenkel teilte die Häftlinge entsprechend ihrer Einsetzbarkeit in drei Kategorien ein, die für Schwerarbeit, die für leichte Arbeit und die der Invaliden. Jede Gruppe erhielt unterschiedliche Arbeitsnormen und Verpflegungssätze. Die niedrigste Kategorie bekam nur halb so viel zu essen wie die höchste. So blieben in der Praxis nur zwei Kategorien übrig - die Häftlinge mit und die ohne Überlebenschance. Diese Einteilung diente später als Richtlinie für alle Lager.

Im Jahr 1929 besuchte der Schriftsteller Maxim Gorkij die Lager auf den Solowetzki-Inseln und schrieb einen schönfärberischen Bericht, in dem er die Lebensbedingungen der Häftlinge positiv bewertete und die Zwangsarbeitslager als ,,Schulen der Arbeit" pries. Im gleichen Jahr begann die durchgängige Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion. Innerhalb kürzester Zeit wurden Millionen von Bauern gezwungen, den Kollektivwirtschaften beizutreten. Von 1930-1932 wurden über zwei Millionen ,,Kulaken" nach Sibirien und Kasachstan verbannt, wo sie den Rest ihres Lebens als Zwangsumsiedler verbrachten, die ihren neuen Aufenthaltsort nicht verlassen durften. Etwa 100.000 von ihnen wurden verhaftet und kamen in den Gulag. 1931 wurde auf Anweisung Stalins und unter der Leitung des späteren NKWD-Chefs Jagoda mit dem Bau des Ostsee-Weißmeer-Kanals begonnen, der 1933 fertiggestellt wurde. Er wurde vorwiegend von Zwangsarbeitern gebaut. Mitte der 30er Jahre, zu Beginn der stalinistischen Säuberungen, verfügte die GPU über mehrere Lager mit insgesamt etwa 300.000 Insassen. Die ,,Erschließung des Hohen Nordens" begann. In den unwirtlichsten Gegenden der Sowjetunion wurden Lager errichtet, um die Kohle-, Erdöl- und Goldvorkommen dieser Gebiete ausbeuten zu können. 1934 wurden etwa 200.000 Häftlinge beim Bau des Moskwa-Wolga-Kanals eingesetzt.

Während der Zeit des ,,Großen Terrors" (1936-1939) kam es zu Massenerschießungen in den Lagern. 1939 wurde Lawrentij Berija Chef der GPU und blieb es bis zu Stalins Tod im März 1953. Unter ihm wurde das Lager Norilsk nördlich des Polarkreises errichtet, dessen Hauptfunktion der Abbau von Nickel war. Insgesamt gab es zwischen 1929 und 1953 476 Lagerkomplexe, mit teilweise enormen Unterschieden in den Arbeits- und Lebensbedingungen. Während des Zweiten Weltkrieges wurden zwar die Arbeitsnormen in den Lagern teilweise drastisch erhöht und die Lebensmittelrationen ebenso drastisch verringert, anderseits kam ein großer Teil der politischen Häftlinge frei aufgrund von Amnestien für diejenigen, die bereit waren, in der Roten Armee zu kämpfen. Nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete die Sowjetunion Lager in den Satellitenstaaten und in ihrer deutschen Besatzungszone, davon zwei auf dem Gelände der ehemaligen Nazikonzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen.

Nach Stalins Tod 1953 kam es zu Aufständen in den Lagern Workuta, Norilsk und Kengir. Nachdem Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU die Verbrechen Stalins angeprangert hatte, kam es zunächst zu einer großen Freilassungswelle, danach jedoch wieder zu zahlreichen Verhaftungen aus politischen Gründen. Allmählich kamen die sowjetischen Machthaber zu der Erkenntnis, dass ein wirklicher ökonomischer Nutzen durch den Einsatz von Zwangsarbeitern nicht erzielt werden konnte. Allerdings wurde das System der Lager bis zum Ende der Sowjetunion nie vollständig aufgegeben. Ende 1986 erließ Michail Gorbatschow eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen, aber erst 1992, bereits nach dem Ende der Sowjetunion, wurden die letzten Zwangsarbeitslager aufgelöst.

Ein eigenes Kapitel ihres Buches widmet die Autorin der Frage, wie hoch die Zahl der Opfer ist. Während des Kalten Krieges beruhten die veröffentlichten Zahlen auf Schätzungen und waren das ,,reinste Ratespiel" (S. 613). Auch heute sind es immer noch Vermutungen, aber auf einer gesicherteren Grundlage. Die Autorin nennt - unter Vorbehalt - für die Jahre 1929-1953 die Zahl von 2,8 Millionen. Allerdings sagen Archive und Erinnerungen ehemaliger Häftlinge übereinstimmend aus, dass schwerkranke Häftlinge kurz vor ihrem Tode aus der Haft entlassen wurden, um die offizielle Todesrate niedrig zu halten, und dass die Zwangsumsiedler, zu denen ganze Volksgruppen (Krimtataren, Wolgadeutsche und Tschetschenen) gehörten, sowie die Kriegsgefangenen nicht in dieser Statistik enthalten sind.

Das Werk von Anne Applebaum, die mit dem Pulitzer-Preis für den Bereich Nonfiction für dieses Buch geehrt wurde, wird für lange Zeit das Standardwerk zur Geschichte der sowjetischen Lager und darüber hinaus ein wichtiges Werk zur Geschichte der Sowjetunion während des Bolschewismus bleiben. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Untersuchung der Sozialstrukturen totalitärer Herrschaftsformen. Die umfangreiche Bibliographie und der Registerteil bieten wertvolle Hilfen für den Fachhistoriker; der Preis von 32 € ist auch wegen der soliden Ausstattung durchaus gerechtfertigt.

Johann Frömel, Nürnberg


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