ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Ute Gerhard/Trudie Knijn/Anja Weckwert, Erwerbstätige Mütter. Ein europäischer Vergleich, Verlag C.H. Beck, München 2003, 253 S., kart., 14,90 €.

Das Foto auf dem Buchdeckel, eine berufstätige Mutter mit der kleinen Tochter an der Hand, beschreibt anschaulich die Realität, aber auch das Problem, um das es in allen Beiträgen dieses Sammelbandes geht. Kinderbetreuung ist fest in Frauenhand, aber im Gegensatz zum Foto ist diese Tatsache im Mainstream der Diskussion zum Wandel des Sozialstaates nicht sichtbar. In Deutschland wird mit dem weit verbreiteten Slogan von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein grundlegendes Problem verdeckt. Die so genannte Vereinbarkeit bezieht sich nämlich auf zwei grundsätzlich verschiedene Arbeitsformen, die privat organisierte Fürsorgearbeit und die anderen Normen folgende Erwerbsarbeit. Ein Blick in andere Wohlfahrtsstaaten zeigt, dass Ausmaß und Form der privaten Fürsorgearbeit sehr unterschiedlich sein können. Die Notwendigkeit zu dieser Arbeit wird durch staatliche Angebote reguliert. Während es in einigen Staaten z.B. selbstverständlich ist, dass Kinder ab dem 2. Lebensjahr in eine öffentliche Erziehungs- und Betreuungseinrichtung gehen, ist dies in anderen Staaten nicht der Fall. Die EU-Politik hat es sich zum Ziel gesetzt, die Erwerbstätigkeit von Frauen und insbesondere von Müttern zu fördern. Mutterschutz, Elternurlaub, Teilzeitarbeit, das sind die erwerbsbezogenen Regelungen, die die Vereinbarkeit erleichtern sollen. Wie aber sieht die Praxis der dies vereinbarenden Frauen und Männer überhaupt aus? Brauchen sie eigentlich genau das, oder etwas anderes?

Der vorliegende Band ist entstanden aus der Arbeit des EU-Netzwerkes ,,Working and Mothering. Social Practices and Social Policies", an dem sich Sozialwissenschaftlerinnen aus neun europäischen Ländern beteiligten und das drei Jahre lang dem Forschungsschwerpunkt ,,Targeted Socio-Economic Research" der Europäischen Kommission angehörte. Mit ihren Beiträgen versuchen die Sozialwissenschaftlerinnen, Sozialpolitik für Mütter, aber auch deren reale Lebenspraxis aus verschiedenen Perspektiven und immer im Vergleich der europäischen Staaten zu beleuchten. Die ersten drei Beiträge behandeln Hintergrundannahmen und theoretische Zugangsweisen. Jane Lewis beschäftigt sich mit den Modellen, auf denen sich die Sozialpolitik gründet. Auf der Basis der Entwicklungen in den Niederlanden und Großbritannien stellt sie fest, dass es dort einen Wandel vom Ernährermodell hin zu dem des ,,Adult-Worker" gibt, d.h. also einem Modell, das davon ausgeht, das möglichst alle erwachsenen Menschen, Männer wie Frauen, in den Arbeitsmarkt integriert sind. Sie stellt fest, dass im Ernährermodell, dem alten Modell, die unbezahlte Arbeit wenigstens noch erfasst war, wenn auch als unbezahlte Frauenarbeit, die durch den Lohn des Mannes abgesichert sein sollte. Kritisch analysiert sie, dass bei dem Weiterverbreiten des Adult-Worker-Modells, das einer Individualisierung von Männern und Frauen als Marktsubjekten entspricht, die Notwendigkeit der Fürsorgearbeit noch weiter verdrängt wird. Das hat wiederum zur Folge, dass die, die sie real leisten, die negativen Konsequenzen zu tragen haben: Sie gehören nicht mehr (richtig) dazu, in liberalisierten Märkten stehen sie am Rande.

Auch Ute Gerhard befasst sich mit der oft diskutierten, so genannten nachholenden Individualisierung der Frauen. Sie argumentiert, dass die Individualisierung der Frauen nicht dem männlichen Muster folgt oder folgen kann, vielmehr dass die alltägliche Notwendigkeit zur Vereinbarung von Arbeit und Leben Mütter zu Expertinnen einer sozialen Praxis macht, auf die die Gesellschaft für ihren Fortbestand angewiesen ist. Im Grunde gehe es statt der Anpassung an männliche Lebensmuster um eine ,,Zivilisierung des männlichen Ichs". Insbesondere beim Umbau des Wohlfahrtsstaates ist die Tatsache, dass Menschen nicht nur fertige Individuen sind, sondern auch Kinder und Alte, zu berücksichtigen.

Konkreter wird es dann im Beitrag von Marie-Thérèse Letablier und Ingrid Jönsson, die fünf verschiedene Kinderbetreuungsregime in Europa beschreiben: 1.Das nordeuropäische Kinderbetreuungsregime: Gleichberechtigung und Kinderbetreuung werden als staatliche Aufgaben gesehen. 2. Die Kinderbetreuung im Zusammenspiel familienpolitischer Anliegen, bevölkerungspolitischer Ziele und republikanischer Erziehungsideale (Frankreich), 3. Kinderbetreuung als Privatangelegenheit (Großbritannien), 4. Kinderbetreuung als Verantwortung der Mutter (Deutschland) und 5. das mediterrane Kinderbetreuungsregime: Kinderbetreuung als Angelegenheit von Familie und Verwandtschaft. Deutlich wird, dass die Kinderbetreuung ein hoch politisches Gestaltungsfeld ist. Die sehr unterschiedlichen Logiken haben Auswirkungen auf die Gleichberechtigung der Geschlechter und die soziale Konstruktion von Mutterschaft und Vaterschaft. Einen konzeptionellen Beitrag zum Begriff der Strategie bieten Constanza Tobio und Rossana Trifiletti. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass Strategien solche Praktiken sind, die für eine Phase des Umbruchs charakteristisch sind. Damit ist die empirische Erfassung der Strategien von Müttern in den Zeiten möglich, in denen sich Institutionen wie die Familie und der Sozialstaat wandeln. Die Praxis der Mütter steht im Mittelpunkt des Beitrags von Arnlaug Leira, Constanza Tobio und Rossana Trifiletti. Sie untersuchen, wie die erste Generation erwerbstätiger Mütter in Norwegen, Spanien und Italien die doppelte Anforderung von Beruf und Familie bewerkstelligen und finden länderübergreifend die verwandtschaftliche Hilfe als eine Übergangslösung. Diese Strategie verfolgen Mütter in der Übergangsphase des sozialstaatlichen Ernährermodells zum Doppelverdienermodell. Sie funktioniert auch, weil die Großmütter noch Hausfrauen waren und sind, die Mütter das aber nicht mehr sein wollen. Trudie Knijn, Ingrid Jönsson und Ute Klammer zeigen in dem Vergleich der Praxen von schwedischen, deutschen und niederländischen Mütter, dass die so genannte Vereinbarkeit kein einfacher Akt ist, sondern vielmehr Ressourcen aus Staat, gemeinnützigen Organisationen, Markt und Familie in Form von ,,Betreuungspaketen" auf komplexe Weise verbindet und nutzt. Diese unterschiedlichen Betreuungspakete basieren aber, und das wird zum Problem, nur zum Teil auf Rechten, zum großen Teil basieren sie auf Forderungen und labilen Zugeständnissen. Damit garantieren sie aber für die Mütter weder eine stabile Arbeitsmarktanbindung noch gegenwärtig oder zukünftig eine ausreichende Einkommenssicherung und keinen vollwertigen Staatsbürgerinnenstatus: Erst wenn Mütter, aber auch Väter, Rechte auf die staatlichen, gemeinnützigen und marktmäßigen Ressourcen besitzen, sind stabile Arbeitsmarktanbindungen für betreuende Väter und Mütter gegeben. In dem letzten Beitrag fragen Ute Klammer und Mary Daly nach den Unterschieden in der Erwerbsbeteiligung von Frauen in Europa. Zunächst stellen sie fest, dass das Angebot an Kinderbetreuungsplätzen den deutlichsten Einfluss auf die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen hat, andererseits zeigen sie aber auch, dass die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse wiederum die Mütter am meisten trifft. Aufgrund der privaten Fürsorgearbeit werden sie zunehmend in die schlecht gesicherten Arbeitsverhältnisse gedrängt. Die Autorinnen plädieren dafür, das System sozialer Sicherung grundlegend zu überdenken, ohne aber auf die regulative Idee hinter dem Normalarbeitsverhältnis zurückzubleiben. Das bedeutet, ein ausreichendes Einkommen und Zugang zu sozialer Sicherung für jeden und jede zu schaffen.

In der Mainstream-Diskussion über den Umbau, Abbau oder die Reform des Sozialstaates wird vor allem der ökonomische Zwang thematisiert: Die Wirtschaft lahmt, die nachfolgenden Generationen bleiben aus und die Systeme der sozialen Sicherung sind zu großzügig gestaltet. Eben dieser äußerst lesenswerte Band bietet hier eine andere, feministische Sichtweise auf diese Umbaudiskussion: Er fokussiert auf das, was immer wieder und immer noch verdrängt wird: die Fürsorgearbeit, also Dienstleistungsarbeit im privaten Raum, die Sorge und Pflege, Erziehung und Betreuung von kleinen Menschen, von Kranken und Alten, und dies überwiegend als Frauenarbeit. Als solche spielt sie in der Mainstream-Diskussion keine Rolle, bleibt als natürliche Basis von Erwerbsarbeit in der ,,Mutter Erde". Die Geschlechterblindheit dieser Diskussion wird dann gefährlich, wenn an dem Ziel der Gleichstellung der Geschlechter festgehalten wird. Ein kleines, von den Autorinnen auch selbst formuliertes Defizit der Beiträge ist es, dass die Alltagspraxis von Vätern und die Auswirkungen sozialstaatlicher Modelle auf Männer noch zu wenig betrachtet wird. Dieses weiter zu durchdenken und empirisch zu untersuchen wird hoffentlich einem nächsten Band vorbehalten bleiben.

Barbara Stiegler, Bonn


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