ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans Walden, Stadt - Wald. Untersuchungen zur Grüngeschichte Hamburgs, (Beiträge zur hamburgischen Geschichte, Bd. 1) DOBU-Verlag, Hamburg 2002, 740 S., 60 Abb., kart., 39, 90 €.

Wer die vorliegende, von der Universität Hamburg im Jahre 2000 angenommene, für den Druck nur unwesentlich veränderte Dissertation zur Hand nimmt, verspürt zunächst eine gewisse Irritation: Gleicht die Beziehung der Stadt zum Wald nicht einem chronischen Missverhältnis, in dem der Stadt-Bürger unverdrossen die Rolle der Axt spielt? In der historischen Vorstellungswelt fristet der Stadt-Wald auf jeden Fall ein anhaltendes Schattendasein, dessen bedingte Reflexe auch heute noch von der kulturkritischen Naturmetaphorik des 19. und 20. Jahrhunderts beherrscht werden. Bereits in den ,,Steinwüsten" der Urbanisierung schien es gar keinen Wald mehr zu geben oder doch allenfalls surrealistische Ersatzbildungen wie den ,,Mastenwald", den ,,Schilderwald", den ,,Antennenwald" oder den alles verschlingenden ,,Asphaltdschungel". In diesem sozialdarwinistischen ,,Dickicht der Städte" (Bertolt Brecht) wirkte ,,ein Gespräch über Bäume" nicht nur deplatziert, sondern zuweilen ,,fast [wie] ein Verbrechen, weil es ein Schweigen über so viele Untaten [einschloss]."

Diesen ,,verpönten" Gegenstandsbereich hat der Verfasser am Beispiel des Stadt-Staates Hamburg beherzt angepackt und mit einer erstaunlich ,,kriminellen" Energie durchforstet. Waldens Studie schlägt nämlich gleich zwei elementare Schneisen in die Waldgeschichte des deutschen ,,Tors zur Welt": eine polit-ökonomische Analyse der Bestands-, Besitz- und Wirtschaftsentwicklung seit dem Spätmittelalter, die alle zur Ausbildung eines ,,Waldklimas" (S. 14) geeigneten Bestände ab 0,2 ha Mindestgröße umfasst, und eine kultur-historische Untersuchung ihrer Wohlfahrtswirkungen als stadtnaher Erholungsraum seit dem 18. Jahrhundert.

Der erste Teil beginnt mit einem doppelten Propädeutikum: einem systematischen Rückblick auf die Rolle des Waldes als Hauptrohstofflieferant des ,,hölzernen Zeitalters" (Joachim Radkau) und einer methodischen Einführung in die Möglichkeiten (und Grenzen) der Rekonstruktion historischer Waldgebiete, die Walden zu Recht ausführlich problematisiert (S. 53-65). Die auf dieser Grundlage gewonnene Bestandserhebung bietet zunächst einen detaillierten Überblick über die charakteristische Gemengelage spätmittelalterlicher Besitz- und Nutzungsverhältnisse, an denen die Stadt am Anfang nur indirekt, über soziale Einrichtungen wie Hospitäler, Klöster und Stifte oder reiche, erbgesessene Bürger partizipierte. Genuin staatliche Erwerbungen größeren Ausmaßes erfolgten erst im Zuge der Landgebietspolitik des 15. Jahrhunderts, die freilich nicht nur eine selbst-kontrollierte Versorgung gewährleisten, sondern auch wichtige Handelswege strategisch schützen sollte. Das in diesem Zusammenhang erworbene Walddörfergebiet im Norden und Nordosten Hamburgs wurde dadurch zum Kristallisationskern einer ersten, wenn auch bescheidenen Forstverwaltung. Eine echte Fundierung erfuhr diese Administration allerdings erst im Gefolge eines 1698 aufgedeckten Korruptionsskandals wegen Raubbaus. Er bescherte der Stadt am 14. April 1701 das erste ,,Waldreglement" (S. 145) und die dauerhafte Einrichtung eines Waldreiterdienstes zu seiner Überwachung, machte aber zugleich deutlich, dass die ohnehin zu kleinen stadtstaatlichen Wälder erheblicher Anstrengungen zur Konservierung und Regeneration bedurften. Die frühesten Versuche auf diesem Gebiet wurden trotzdem nicht von Amts wegen, sondern von einem engagierten Privatpächter durchgeführt, blieben also nach Art und Umfang begrenzt, zumal der ,,rechtschaffene Cameralist" (S. 150) 1748 Bankrott machte.

Wie schwierig die Ressourcensicherung im Rahmen der Landgebietspolitik war, lässt sich freilich nicht nur am Scheitern dieser - und anderer (beispielsweise S. 249 ff.) - Pflegemaßnahmen erkennen. Weit schwerer wogen externe Auseinandersetzungen um konkurrierende Besitzansprüche, die ,,regelhaft zu einem gesteigerten Raubbau" führten (S. 240), die Devastationen des Dreißigjährigen Krieges sowie interne Zielkonflikte zwischen Holzgewinnung, Tiermast und Umnutzungen zum Zweck der Deich- oder Landesverteidigung, die durchweg erhebliche Rodungen mit sich brachten. Obwohl der Verfasser die landläufige These, dass alle Wälder des Hamburger Umlandes bereits um 1350 abgeholzt gewesen seien, mit guten Gründen ins Reich der Fabel verweist, lässt er keinen Zweifel daran, dass es ungeachtet des kontinuierlichen Holzimports aus Nordeuropa, der ,,eine[n] große[n] Teil des [...] Drucks zum Waldraubbau sozusagen exportiert[e]" (S. 226), bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zu erheblichen Waldverlusten kam. Echte Ansätze zu einer rationellen Waldwirtschaft entwickelte die Stadt denn auch erst ab 1772 mit der Schaffung eingefriedeter ,,Holzkoppeln". Ihre Einführung stand in engem Zusammenhang mit den zeitgleich einsetzenden, von England und Schottland inspirierten Agrarreformen der Spät-Aufklärung und führte bis 1811 zur Errichtung von 34 flurbereinigten Forstrevieren mit einer Gesamtgröße von gut 492 ha (S. 280). Dank großzügiger Aufforstungen mit schnellwüchsigen Nadelhölzern und dem partiellen Übergang vom Kahlschlag mit Nach- zum Plenterbetrieb mit Vorverjüngung konnte dieser Bestand (ungeachtet diverser Einzel-Abgänge) in den folgenden 100 Jahren mehr als verdoppelt werden (S. 313 ff.). Durch Zukäufe außerhalb des Staatsgebietes und die durch das Groß-Hamburg-Gesetz veranlassten Gebietsübertragungen des Jahres 1937 wurde dieses Areal bis 1951 noch einmal verdreifacht (S. 338). Trotz der im 19. Jahrhundert einsetzenden Großstadtbildung und schwerer Rückschläge aufgrund der Verwüstungen des Ersten, vor allem aber des Zweiten Weltkrieges war es der Stadt damit gelungen, ihren seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gefährdeten Waldbestand kontinuierlich zu erhöhen und dauerhaft in Wert zu setzen. Dieses erstaunliche Ergebnis lag zum einen an dem durch die Industrielle Revolution hervorgerufenen Bedeutungsverlust des Holzes als Energieträger und Rohstofflieferant, den der Verfasser bemerkenswerter Weise gar nicht thematisiert, zum anderen an dem mit ihm verknüpften Funktionswandel zum Erholungswald, der die Groß-Städter Schritt für Schritt dazu führte, im Walde nicht mehr allein die Axt, sondern zunehmend auch den Spazierstock zu schwingen.

Diese wachsende Verschiebung in der theoretischen und praktischen Wahrnehmung des Waldes bildet den Gegenstand des zweiten Teils der Studie. Er überrascht zunächst dadurch, dass die Verortung des Waldes als ,,Lustwald" weit eher einsetzt als gemeinhin erwartet. Auch wenn diese frühen Quellen naturgemäß spärlich fließen, gelingt dem Autor der Nachweis, dass bereits im 17. Jahrhundert ein ,,Drang ins Grüne" (S. 393) Platz griff, der sich bei einzelnen Protagonisten, wie dem Wedeler Pastor Johann Rist, zu einer Groß-Stadtkritik avant la lettre verdichtete (S. 391). Ihren Durchbruch erfuhr die neue Wertschätzung des Waldes mit der von England ausgehenden ,,Revolte gegen den barocken Gartenstil" (S. 404) und der mit ihr verknüpften natur-religiösen Dichtung der Empfindsamkeit, die speziell in Hamburg - mit Brockes, Hagedorn und Klopstock - über exemplarische und einflussreiche Vertreter verfügte. Im Gefolge dieser, sich gegenseitig verstärkenden Einflüsse entstand im 18. Jahrhundert eine ,,blühende Ausflugskultur" (S. 423), die nach und nach immer mehr stadtnahe Gehölze ergriff und Menschen ,,aus allen Klassen" zusammenführte (S. 441), auch wenn die Attraktivität mancher Gebiete nicht immer dem Wald, sondern den dort umherschweifenden ,,Nymphen" geschuldet war, die ,,Lustorte" wie das damalige Reeperbahn-Gehölz nach allen Regeln der Liebes-Kunst umfunktionierten (S. 426 f.). Industrialisierung und Urbanisierung potenzierten diese Entwicklung und evozierten im 19. Jahrhundert einen Boom des Ausflugstourismus, der dank der Einführung dampfgetriebener Verkehrsmittel immer mehr Menschen in immer weiter entfernte Erholungsgebiete, wie den Rissener Klövensteen, das Niendorfer Gehege, den Wohldorfer Wald, den Sachsenwald, die Harburger Berge und die Lüneburger Heide, transportierte. Dieser transitorische Massenexodus führte zugleich zu einer wachsenden Kommerzialisierung, die die ,,Waldromantik" systematisch vermarktete und ,,das große volle Herz von Mutterlieb Natur" (Matthias Claudius) mit Sitzbänken, Hütten, Aussichtstürmen, waldnahen Villen und ,,eine[r] wahren Inflation von Gastronomie- und Hotelbetrieben" erfüllte (S. 525). Der Walderholungsgedanke zeitigte denn auch spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die paradoxe Folge, dass der Wald als ,,erstrebenswerte[r], reinigende[r] Gegenort zur Stadt" (S. 528) tendenziell untergraben und in Frage gestellt wurde. An diesem Widerspruch knüpften die nationalkonservativen Erhaltungsbemühungen der Heimat-, Natur- und Vogelschützer ebenso an wie die sozialpolitischen Reformbestrebungen der Stadtgrün- und Freiflächenplaner, der Kleingärtner und Sportenthusiasten, die den Walderholungsgedanken im Rahmen der Volksparkbewegung gleichsam in die Groß-Stadt inkorporierten oder durch neue Freizeitangebote ergänzten beziehungsweise ersetzten. Seit dem Ende der 1920er-Jahre lässt sich mithin eine gewisse Marginalisierung des Frei(zeit)raums Wald beobachten, die in der entwickelten ,,Freizeitgesellschaft" noch zugenommen haben dürfte. Die Bedeutung des Waldes für das Leben der Groß-Städter wird dadurch allerdings kaum gemindert. Seine vitale Funktionsvielfalt ist auch heute noch so groß, dass sie selbst das reichhaltige Informationsangebot dieser Studie mit Leichtigkeit in den Schatten stellt.

Hartwig Stein, Hamburg


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