ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Friso Wielenga/Ilona Taute (Hrsg.), Länderbericht Niederlande. Geschichte - Wirtschaft - Gesellschaft, (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 399), Bonn 2004, 495 S., kart., kostenlos (Bereitstellungspauschale 2,00 €).

Mit dem von Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien der Universität Münster, und Ilona Taute, Niederlandistin und Studienrätin in Emden, herausgegebenen Länderbericht Niederlande der Bonner Bundeszentrale für politische Bildung hat die deutsche Niederlandeforschung einen entscheidenden Schritt zur Verbreitung ihrer Ergebnisse über die scientific community hinaus getan. Der Sammelband ist ein zugleich grundsolides und konzeptionell anspruchsvolles Kompendium, das sich als länderkundliches Nachschlagewerk ebenso wie zur Gesamtlektüre als politisch-historische Analyse eignet. Man wird nicht fehlgehen, in diesem Beitrag die wichtigste in Deutschland erschienene Bilanz der Beschäftigung mit dem europäischen Nordwesten seit Horst Lademachers monumentaler niederländischer Geschichte 1993 zu sehen. Lademachers damaliger, auf die Gesamtgeschichte und Besonderheit des niederländischen Kulturraums bezogener Untertitel ,,Politische Kultur zwischen Individualität und Anpassung" wird in dem vorliegenden Band an zeitgeschichtlichen Beispielen der Kultur- und Sozialgeschichte konkretisiert.

Der ausgeprägte zeitgeschichtliche Bezug ist, wie Wielengas Einleitung zeigt, auch eine Reaktion auf die Ambivalenzen im deutschen Niederlande-Bild der jüngsten Zeitgeschichte. Den deutschen Blick auf die Niederlande prägen nach wie vor die Wunschbilder eines europäischen Modells von Westernization, Sozialstaatlichkeit und Multikulturalität auf der Grundlage eines diskursvermittelten gesellschaftlichen Konsenses bei gleichzeitig außerordentlicher individueller und kollektiver Permissivität - selbst das niederländische 'Jobwunder' der 1990er-Jahre wurde diesseits der Grenze nicht als harte wirtschaftlich-soziale Realität, sondern wiederum sogleich zum 'Modell' stilisiert. ,,Unberücksichtigt", so Wielanga zu derartigen Perspektiven, ,,bleibt dabei meistens die Geschichte dieser politischen Kultur seit 1945" (S. 9) und die ihr zugrundeliegenden Konflikte. Anders gesagt: Es fehlt bei deutschen Kommentatoren häufig an pragmatischem Bewusstsein für die historische Dimension der niederländischen Gesellschaft und ihrer bei näherem Hinsehen erheblichen, historisch gewachsenen Eigenarten.

Wielenga thematisiert die innen- und außenpolitischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Nachkriegsjahrzehnte, fragt u.a. nach der Bedeutung der ,,Versäulung" der niederländischen Gesellschaft in stark voneinander abgegrenzte sozialmoralische Milieus und nach der Bedeutung der unruhigen 1960er-Jahre für die Veränderungen der politischen Kultur: dementsprechend sieht er die entscheidende Zäsur in der niederländischen Zeitgeschichte auch nicht im Jahr 1945 oder in den 'langen' 1950er-, sondern in den spannungsreichen 1960er-Jahren. Das besondere Interesse seines Beitrages ,,Konsens im Polder? Politik und politische Kultur in den Niederlanden nach 1945" gilt parteipolitischen und politisch-gesellschaftlichen Trends sowie der Rolle der Niederlande im europäisch-atlantischen Raum. Gerrit J. Schutte entmythologisiert das Bild von den Niederlanden als einer calvinistischen Nation. In einem konfessionsgeschichtlichen Abriss verfolgt er die Entstehung politisch-religiöser Identität und Pluralität in einem Land, in dem Toleranz keine unverbindliche Verständigungsideologie, sondern eine im Wortsinn existenzielle Koexistenzstrategie mit vielfältigen Wirkungen auf Wahrnehmung und Organisation des Politischen darstellte. Auch James C. Kennedy beschäftigt sich mit der Tradition niederländischer Toleranz, allerdings in gesellschaftsgeschichtlicher Hinsicht. Kennedys Anliegen ist es, Eigenarten der zumal in Deutschland gern als exemplarisch 'liberal' und permissiv wahrgenommenen - und damit substanziell entpolitisierten - niederländischen Gesellschaftpolitik z.B. im Umgang mit Drogen und Prostitution als Ergebnisse von Abwägungen zwischen historischer Erfahrung, politischem Nutzen und gesellschaftlichem Klima erkennbar zu machen. Wim van den Doel beschäftigt sich mit einem Thema, das traditionell in besonderer Weise die deutsche Aufmerksamkeit auf sich zieht, da es als Grundlage des niederländischen Multikulturalismus gilt: die moderne niederländische Kolonialgeschichte. Im Vordergrund stehen die gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen um Kolonien und der Prozess der Dekolonisation, einschließlich des Kolonialkrieges mit der Republik Indonesien 1945-1949. Anita Böcker und Kees Groenendijk stellen, hier anschließend, die politischen Reaktionen des Mutterlandes auf die Herausforderungen des kolonialen Erbes im Bereich der Integrationspolitik seit 1945 vor. Kees van Paridon bietet unter dem Titel ,,Wiederaufbau - Krise - Erholung" einen Überblick zur niederländischen Wirtschaftsentwicklung seit 1945. Erkenntnisleitend ist für ihn die Frage nach den sozialökonomischen Verteilungsspielräumen: ,,Es gibt viele Gründe dafür, in einer Analyse der niederländischen Wirtschaft seit 1945 dem Begriff der 'Lohnmäßigung' eine zentrale Stellung einzuräumen [...]." (S. 363). Ilona Taute beschreibt in ihrem Beitrag über Raumordnung und -planung die gezielte Gestaltung des niederländischen Siedlungs- und Verdichtungsraums seit 1945, gewissermaßen als modernisierungsgeschichtliche Illustration des Satzes ,,Gott schuf die Welt, aber die Niederländer schufen die Niederlande".

Wielenga hat die Hoffnung geäußert, dass ,,in Zukunft auch andere niederländische Themen auf mehr Interesse stoßen", dass damit ,,die vagen Konturen des 'unbekannten Hollands' verschwinden und einem schärferen und differenzierten Bild Platz machen." (S. 11). Dazu leistet der Länderbericht der Bundeszentrale einen unverzichtbaren Beitrag.

Rolf-Ulrich Kunze, Karlsruhe


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