Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Stefan Appelius, ,,Der Teufel hole Hitler". Briefe der sozialdemokratischen Emigration, Klartext Verlag, Essen 2003, 406 S., geb., 21,90 €.
Nur wenige Quellen illustrieren so plastisch die Situation von Emigration und Exil während der NS-Zeit wie die zeitgenössischen Briefe der Zeitzeugen. In ihnen kommen die Alltagsprobleme, Ängste und Sorgen, Hoffnungen und Enttäuschungen unmittelbarer zum Ausdruck als in der Memoirenliteratur oder in jeder noch so intensiven Darstellung. Briefe sind in ihrem Erfahrungshorizont begrenzt, d.h. ihre Verfasser konnten nicht mehr, eher weniger über das Geschehen ihrer Zeit wissen, als sich tatsächlich abzeichnete. Sie lassen Vorgänge und Entwicklungen offen und damit den Leser vielfach im Ungewissen, wie es denn weiterging.
Fritz Heine, der in der Sozialdemokratie der Weimarer Republik in der Presse-, Verlags- und Medienarbeit seiner Partei tätig gewesen war, war ein scharfsichtiger Beobachter des Exils, in das er im Frühjahr 1933 nach Prag geflüchtet war, und zudem ein fleißiger Briefeschreiber. Bis ins hohe Alter verfasste er täglich mehrere Briefe, zu denen gelegentlich auch der Rezensent gehörte, um dieses zu bemängeln oder jenes zu loben oder anzuregen. Seine umfangreichen, leider auf viele Archive verteilten Korrespondenzen stellen daher eine wichtige Quelle auch für das Exil in der Tschechoslowakei (1933-1938), in Frankreich (1938-1942) und Großbritannien (1942-1946) dar. Unter seinen Briefpartnern fehlt fast kein wichtiger Name des sozialdemokratischen Exils, und so ist es zu begrüßen, dass Stefan Appelius, der bereits eine Biografie über Fritz Heine verfasst hat, hier eine Sammlung von Briefen von, an und über Fritz Heine aus einer besonders dramatischen Zeit, den Jahren 1940-1942, vorgelegt hat.
Fritz Heine stand als Politiker und als Mensch immer im Schatten anderer. Er gehörte als junger Mann nicht zur ersten Garnitur in der SPD, in die er 1922 mit 18 Jahren eintrat. Nach einer kaufmännischen Lehre arbeitete er in der Deutschen Bank, danach in einer Firma für Vervielfältigungsmaschinen, um 1925 als Volontär in der Presse und Bildungsarbeit zum Parteivorstand in Berlin überzuwechseln. Von nun an waren sein persönliches Schicksal und das der Partei aufs engste miteinander verbunden, auch in der Zeit des Exils. Bereits 1931 war er an Vorbereitungen für den Fall eines SPD-Verbots beteiligt und organisierte nach der NS-Machtergreifung Personen- und Materialtransporte von und nach Deutschland. Wegen persönlicher Gefährdung berief ihn der inzwischen in die Tschechoslowakei geflüchtete Rest-Parteivorstand nach Prag, wo er in der Pressearbeit der Partei aktiv war und auch weiterhin Kurierdienste nach Deutschland unternahm. 1938 wurde er in den nunmehr in Paris residierenden Parteivorstand kooptiert. 1940 vorübergehend interniert, vertrat er den Parteivorstand in verschiedenen Hilfsorganisationen in Marseille und beteiligte sich aktiv an Aktionen zur Rettung verfolgter und besonders bedrohter Personen aus Frankreich. 1941 musste er selbst fliehen - über Portugal nach Großbritannien, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1946 verblieb. Seine wichtige Rolle im Pressewesen der Nachkriegs-SPD wurde von Appelius bereits gewürdigt (1999).
Die Briefedition konzentriert sich auf die Jahre 1940-1942, also eine besonders dramatische Zeitspanne in der Geschichte des Exils. Die Briefe spiegeln die Situation in Frankreich wider, aber durch Berichte seiner Korrespondenzpartner auch das Szenario in anderen - auch überseeischen - Ländern. Details über Rettungsaktionen, die Zusammenarbeit mit Varian Fry, jüdischen und politischen Hilfsorganisationen und den Quäkern, die Festnahme Rudolf Breitscheids und Rudolf Hilferdings, Auseinandersetzungen mit Behörden, Ängste und Hoffnungen werden in diesen Briefen deutlich: Man blättert an beliebiger Stelle und liest sich fest. Die Briefedition ist sorgfältig bearbeitet. Personen und Sachzusammenhänge werden in Fußnoten erläutert, der biografische und politische Kontext durch eine biografische Einleitung/Einführung und einen Dokumentenanhang beleuchtet. Ein Kapitel über Fritz Heines Wirken in der Nachkriegszeit sowie Notizen und Interviews von Heine selbst ergänzen die Ausgabe.
Trotz der editorischen Qualität des Bandes sind zwei Mängel hervorzuheben. In den Fußnoten gibt der Herausgeber zwar die Quellen der zitierten Schriftstücke an, die abgedruckten Briefe selbst jedoch enthalten keine Quellenangabe, und wer als Historiker konkreten Fragen nachforschen will, muss sich umständlich mit jeder Frage an Stefan Appelius wenden und sich von dessen Bereitschaft abhängig machen, derartige Anfragen zu beantworten - oder auch nicht. Ein zweiter schwerer Mangel ist das Fehlen eines Personenregisters, zu dessen Gunsten der Herausgeber getrost manchen Text im Anhang hätte streichen können. Derartige Briefeditionen sind immer auch Nachschlagewerke, in denen man Materialien von und über bestimmte Personen oder Ereignisse sucht, ohne deswegen den ganzen Band studieren zu wollen. Mit der vorliegenden Briefsammlung kann man nicht praktisch arbeiten. Es ist unzumutbar, wegen der biographischen Daten einer gesuchten Person unter Zeitdruck mehr als 250 Seiten Briefe und etwa 150 Seiten weiterer Texte zu überfliegen. Es ist bedauerlich, dass eine sonst in vielfacher Hinsicht vorbildliche Edition sich wegen solcher Mängel selbst demontiert.
Patrik von zur Mühlen, Bonn