Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages, Sitzungsprotokolle 1957-1961. Bearb. von Joachim Wintzer und Josef Boyer, (Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte des Parlaments und der politischen Parteien, 13/III), 2 Halbbde., mit einer CD-ROM, zus. 1.592 S., Leinen, geb., Droste Düsseldorf 2003, 160,00 €.
Zumindest in dieser Frage besteht unter den Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine überparteiliche Gemeinsamkeit: Ein Sitz im Auswärtigen Ausschuss des Hohen Hauses verspricht seinem Inhaber neben der Teilhabe an den Arkana der Außenpolitik einen beträchtlichen Zugewinn an Prestige, Einfluss und Exklusivität. Alle, so Rainer Barzels Beobachtung, wollten ,,in einen 'wichtigen' Ausschuß, am liebsten in den für Außenpolitik."(1) Der jetzt vorliegende dritte Band der Sitzungsprotokolle, herausgegeben in zwei umfangreichen Halbbänden im Auftrag der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, dokumentiert die 72 Sitzungen des besagten Ausschusses während der 3. Legislaturperiode von 1957 bis 1961.
Die akribische, außerordentlich informative Einleitung von Joachim Wintzer macht den Leser en detail mit den organisatorischen und formalen Modalitäten der Arbeitsweise vertraut und gewährt aufschlußreiche Einblicke in die personelle Zusammensetzung und inhaltliche Tätigkeit des illustren Gremiums. Im Spiegel der sorgsam kommentierten Dokumente gewinnen nicht nur die seinerzeitigen Grundprobleme bundesdeutscher Außen- und Deutschlandpolitik Kontur - allen voran die Berlin-Krise mit den Zäsuren des Chruschtschow-Ultimatums 1958 und des Mauerbaus 1961. Neben Dauerthemen wie Wiedervereinigung, Sicherheits- und Rüstungspolitik oder europäische Integration nahm die Art und Weise einer der deutschen Einheit zuträglichen Transformation des Ost-West-Konflikts in Mitteleuropa fraglos den breitesten Raum in den Debatten ein. Hierbei treten durchaus neue Akzente, Bekanntes präzisierende Nuancen ans Licht, wie beispielsweise im Bericht Erich Ollenhauers über sein spektakuläres Treffen mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow in Ost-Berlin am 19. März 1959.
Deutlich wird zudem, daß die Ausschussarbeit in starkem Maße durch die jeweilige Persönlichkeit seines Vorsitzenden geprägt wurde: Unter der ausgleichenden Leitung des späteren Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger etablierte sich überraschenderweise bereits 1957/58 ein sachlich-unpolemisches, auf eine gemeinsame Außenpolitik abzielendes Grundverständnis zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien - was Kiesinger reichlich Missfallensbekundungen Adenauers eintrug, dem die Außenpolitik für seine innere Polarisierungsstrategie nun einmal unentbehrlich schien. Ein Problem anderer Art lag darin, dass der Bundeskanzler wenig Lust verspürte, den Ausschuss - und damit die Opposition! - in die Kernbereiche 'seiner' Außenpolitik einzuweihen, zumal es mit der formalen ,,Vertraulichkeit" der Zusammenkünfte nicht weit her war. Immerhin nahm Adenauer in der 3. Legislaturperiode zweimal an einer Ausschusssitzung teil; am 10. März 1961 stellte er, in Rede und Gegenrede und aller Ausführlichkeit, seine Ost- und Deutschlandpolitik dar.
Kiesingers Gemeinsamkeitskurs wurde unter seinen Nachfolgern Hans Furler und Wilhelm Kopf fortgesetzt. Dies geschah unter Mitwirkung und sehr zum Wohlgefallen der SPD in Gestalt ihres stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner. Nach einer Zuspitzung der Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition um die deutsche Frage 1958/59 wollte Wehner endlich die Außenpolitik ,,als Wahlkampfthema vom Tisch" haben und der ersehnten Regierungsbeteiligung seiner Partei den Weg ebnen. In diesem Sinne begannen sich die Sozialdemokraten seit dem Jahreswechsel 1959/60 des Auswärtigen Ausschusses ganz gezielt zu bedienen, um ihr Einschwenken auf den außenpolitischen Kurs der Regierung Adenauer zu präludieren, das mit der Bundestagsrede Wehners vom 30. Juni 1960 seinen öffentlichen Ausdruck fand.
Ein Hauch von Großer Koalition schien bereits in jenen Jahren in der Luft zu liegen - zumindest glaubt ihn der rückschauende Betrachter bei der Lektüre der betreffenden Sitzungsprotokolle zu verspüren. Ähnliches gilt für die Ostpolitik: Auch hier verweisen die Diskussionen des Ausschusses mitunter weit über den Tag hinaus, insbesondere bei der Erarbeitung des sogenannten Jaksch-Berichts Anfang Mai 1961, der die Neuordnung der Beziehungen zu Osteuropa bereits konzeptionell vorwegnahm.
Zusammengefasst ergibt sich der Befund, dass auch der neue, voluminöse Dokumentenband zum Wirken des Auswärtigen Ausschusses - die entsprechenden Archivalien zur 1. und 2. Wahlperiode sind bereits ediert - hochklassiges Quellenmaterial enthält und in adäquater Form der Öffentlichkeit präsentiert. Besonders positiv ist in diesem Zusammenhang die Beigabe einer CD-ROM hervorzuheben, die den raschen und gezielten Zugriff auf den Volltext der Edition erlaubt und damit der Benutzung neue Möglichkeiten erschließt.
Frank Fischer, Erlangen