ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Stefan Noethen, Alte Kameraden und neue Kollegen. Polizei in Nordrhein-Westfalen 1945-1953, Klartext Verlag, Essen 2003, 567 S., geb., 39,90 €.

,,Die Polizei, dein Freund und Helfer" lautet ein Slogan, dessen Popularität seit den 1920er-Jahren ungebrochen ist. In der Weimarer Republik entstanden als ein Versuch, den gesellschaftlichen Veränderungen mit einem neuen Leitbild zu entsprechen(1), wurde nach 1945 versucht, an das positive ,,Schutzengel"-Bild anzuknüpfen. Nicht die Verkörperung des Obrigkeitsstaates, sondern die Funktion des Polizeibeamten als helfender Berater wurde propagiert. Es mag in diesem Zusammenhang aus heutiger Sicht geradezu zynisch anmuten, dass beim Aufbau der Polizei in Nordrhein-Westfalen nach dem Ende des NS-Regimes keine ausreichenden Anstrengungen unternommen worden sind, ,,um die Polizei von denjenigen Beamten zu reinigen, die während der NS-Zeit und während des Krieges im Reich wie in den deutsch besetzten Ländern an Verbrechen teilgenommen hatten, obwohl die britische Seite von den Verbrechen der Polizei in Osteuropa gute Kenntnis hatte" (S. 498).

Zu diesem wichtigen Ergebnis kommt Stefan Noethen in seiner fundierten Untersuchung zu den Wurzeln der nordrhein-westfälischen Polizei, die 2002 als Dissertation am Historischen Seminar der Universität Köln angenommen wurde. Besondere Brisanz gewinnt das Thema nicht nur, weil die Polizei im nationalsozialistischen Deutschland eine feste Stütze des Systems war, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass bereits über den Systembruch von 1933 hinweg die allermeisten Polizeibeamten der Weimarer Demokratie ,,der NS-Herrschaft treu gedient" (S. 13) haben. Eine Kernfrage Nothens lautet demnach, ob es nach 1945 in der Polizei im Gebiet Nordrhein-Westfalens eine personelle Erneuerung oder Kontinuität gegeben habe. Hier ergeben sich interessante Schnittpunkte zu Sabine Meckings Untersuchung zur Kommunalbeamtenschaft zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik.(2)

Der Vorgeschichte widmet Stefan Noethen eine knappe, aber inhaltlich und sprachlich sehr präzise Darstellung zur Rolle der Polizei im nationalsozialistischen Staat sowie speziell in den preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen. Es war die britische Besatzungsmacht, die nach 1945 den Aufbau der Polizei entscheidend prägte und die hierfür bereits lange vor Kriegsende mit den Planungen begonnen hatte. Auf breiter Quellenbasis britischen Archivmaterials aus dem Public Record Office und dank profunder Literaturkenntnis erläutert der Autor im zweiten Kapitel die britischen Planungen vor 1945. Beeindruckend ist auch die Ausstattung des Buches mit 36 Abbildungen, zahlreichen Schaubildern und Tabellen sowie rund vierzig ausgewählten Kurzbiografien ausgewählter Polizeichefs im Anhang.

Überaus lobenswert ist die gute Lesbarkeit, die trotz aller Wissenschaftlichkeit eine spannende Lektüre garantiert, etwa wenn es um den Wissensstand der unterschiedlichen britischen Stellen, wie der Militärischen Abwehr, der United Nations War Crimes Commission oder der für Feindaufklärung zuständigen Stabsabteilung SHAEF zu NS-Verbrechen geht (S. 61-65). So heißt es im ,,Memorandum on the German Police System" von November 1944 über den Polizeieinsatz im Osten: ,,[...] in Poland especially, they have conducted military operations against partisans behaving with the utmost brutality" (S. 63 f.). Noethen kommt in seinem Fazit allerdings zu dem Schluss, dass weder die britische Besatzungsmacht noch die deutschen Stellen nach dem Krieg ausreichende Anstrengungen unternommen hätten, um die Polizei von denjenigen Kräften zu reinigen, die während der NS-Zeit und während des Krieges an Verbrechen teilgenommen hatten, obwohl die britische Seite von den Verbrechen der Polizei in Osteuropa gute Kenntnis gehabt habe (S. 498).

Auch bei den Besatzungsplanungen 1944/45 hätten die Verbrechen der deutschen Polizei im Krieg keine zentrale Rolle gespielt, man habe sich eher mit den Strukturen befasst (S. 65). Noethen skizziert hier die divergierenden Vorstellungen Colonel Gordon Herbert Ramsay Hallands, ranghoher Beamter der britischen Polizeiverwaltung mit Polizeierfahrung im Kolonialdienst, und Major Brian Mellands, Polizeiexperte des Militärgeheimdienstes M.I. 14. Brian Melland war der Ansicht, dass die Frage der deutschen Polizeiorganisation und ihres verfassungsgemäßen Rahmens erst zu einem späteren Zeitpunkt von den Alliierten gemeinsam entschieden werden sollte. Anders urteilte Gordon Halland, der im August 1944 eine grundlegende Reform des deutschen Polizeiwesens nach dem Vorbild der britischen Polizei forderte. Halland hielt die Dezentralisierung und Beseitigung des militärischen Charakters der Polizei für unabdingbar und schlug ein Reform von Verhältnis und Stellung der Polizei gegenüber der Öffentlichkeit durch Erziehung und Kontrolle vor (S. 66-69).

Einer Schilderung der Ausgangssituation bei Kriegsende und dem Aufbau der britischen Militärregierung folgt die Darstellung der Tätigkeit der Public Safety Branch, die den Wiederaufbau und die Kontrolle der deutschen Polizei in der britischen Zone gewährleisten sollte (S. 96 ff.). Die britische Personalpolitik, die u.a. die Ernennung und Entlassung von Polizeichefs betraf, und die alliierten Maßnahmen zur personellen Säuberung der Polizei stehen im Mittelpunkt der beiden zentralen Kapitel, die die Brüche und Kontinuitäten unter der Besatzungsherrschaft minutiös rekonstruieren und diskutieren. Angesichts des Umfanges der einzelnen Kapitel wären kurze Zwischenbilanzen allerdings hilfreich gewesen, zumal sich die beiden abschließenden Kapitel der Entwicklung unter deutscher Verantwortung zuwenden.

Anfang 1947 ging aufgrund einer Militärregierungsverordnung die Zuständigkeit für die Gesetzgebung im Bereich der Polizei auf das Land Nordrhein-Westfalen über (S. 275). Stefan Noethens Untersuchung fokussiert hier auf die Personalpolitik der Polizeibehörden. Rund 980 Akteneinheiten des NRW-Hauptstaatsarchivs Düsseldorf, der Staatsarchive in Detmold und Münster sowie von Polizeibehören und Stadtarchiven stellen die Studie auf eine breite Quellenbasis. Der Autor griff zudem auf Nachlässe und Justizakten zurück und befragte 35 Personen, die im Untersuchungszeitraum im Bereich der Polizei tätig waren, darunter den späteren Ministerpräsidenten Dr. Franz Meyers.

Vier Fehlentwicklungen benennt Stefan Noethen abschließend, die eine umfassende personelle Erneuerung der Polizei verhindert hätten: die Revidierung politischer Säuberungen durch Wiedereinstellungen, der Verzicht auf Neuausbildung junger unbelasteter Führungskräfte unmittelbar nach Kriegsende, die fehlende Entfernung von an NS-Verbrechen beteiligten Polizisten aus dem Polizeidienst und die mangelnde politische Erziehung von Polizeibeamten zur Bindung an die Demokratie (S. 497 f.).

Insgesamt ist die Studie ein überaus wichtiger Beitrag zur Polizeigeschichte der Bundesrepublik, der über Nordrhein-Westfalen hinaus wichtige Unterschiede etwa zur Sowjetischen Besatzungszone herausarbeitet und zugleich eine sehr lesenswerte Spurensuche betreibt.

Matthias Schröder, Münster




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