Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Matthias Willing, Das Bewahrungsgesetz (1918-1967). Eine rechtshistorische Studie zur Geschichte der deutschen Fürsorge, (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 42), Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2003, 447 S., kart., 59.00 €.
Obgleich das Bewahrungsgesetz nie in Kraft getreten ist, hat es als Desiderat die Gefährdetenfürsorge ein halbes Jahrhundert maßgeblich beschäftigt. In der Weimarer Republik gab es mindestens elf Gesetzentwürfe, im Nationalsozialismus sieben und in den Westzonen bzw. in der Bundesrepublik wiederum elf.
Die Beständigkeit der Bewahrungsdiskussion über verschiedene politische Systeme belegt, mit welcher Selbstverständlichkeit man in Fürsorgekreisen Hilfe und Zwang als die zwei Seiten einer Medaille, der wohlfahrtsstaatlichen Fürsorge, begriffen hat. Im Bewahrungsgesetz sahen oft hilflose Fürsorger die Ultima Ratio, um gegen soziale Abweichler, die durch ihr Verhalten sich und andere dauerhaft gefährdeten, vorzugehen. Die Zielrichtung des Gesetzesvorhabens variierte: Es war nicht immer klar, ob die Freiheitsbeschränkung mehr dem Wohle des zu Bewahrenden oder dem Schutz der Gesellschaft dienen sollte. Sprach man bis 1925 auch in den Gesetzentwürfen noch von ,,Verwahrung", so setzte sich im Bemühen um Abgrenzung zum Strafgesetz nach 1925 der Begriff der ,,Bewahrung" durch. Während der Strafrichter über die Verwahrung im Interesse der Gesellschaft entscheiden sollte, fiele die Bewahrung in die Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts.
Das Bewahrungsgesetz wird zwar in vielen Studien zur Fürsorgepolitik der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus, besonders zu einzelnen Sonderfürsorgebereichen, mit behandelt, aber eine neuere Monografie, die den Diskussionsprozess über die gesamte Dauer von mehr als einem halben Jahrhundert zusammenfassend darstellt, fehlte bisher.
Die hier vorgelegte Studie macht deutlich, dass es eine wahre Fülle von Quellen zum Thema gibt, die bisher der systematischen Auswertung harrten. Der Verfasser hat in einer enormen Fleißarbeit zeitgenössische Aufsätze und Monografien - darunter allein 200 Zeitungsartikel - zusammengetragen, anhand derer er akribisch das wiederholte Scheitern des Gesetzes analysiert. Das Verzeichnis der gedruckten Quellen und der Literatur umfasst nahezu 40 Seiten.
Archivalische Quellen fand der Autor im Archiv des Deutschen Caritasverbandes in Freiburg, im Archiv des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge in Frankfurt/Main, im Bundesarchiv und im Hessischen Wirtschaftsarchiv in Darmstadt. Das Schwergewicht der benutzten Quellen liegt auf Verbandsschriftgut und den Stenografischen Protokollen des Reichs- und Bundestages und des Bundesrates sowie auf der Überlieferung des Bundesinnenministeriums und jener Reichsministerien, die an den verschiedenen Gesetzentwürfen maßgeblich beteiligt waren, mit Ausnahme des für die Fürsorge in der Weimarer Republik zuständigen Reichsarbeitsministeriums. Diese Quellen begünstigen den positivistischen Blick auf das Thema. Gemessen an der Zielsetzung dieser Arbeit, ,,diesen rund 50 Jahre umfassenden [...] Prozess nachzuzeichnen, Konzeptionen und Motive führender Köpfe der Fürsorge zu beleuchten und die Frage nach dem Fortwirken von gedanklichen Kontinuitäten in diesem Zeitraum zu beantworten" (Vorwort), ist der Verzicht auf die Einbeziehung kommunaler und regionaler Überlieferung durchaus nachvollziehbar. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit liegt eindeutig auf dem Diskussionsverlauf zum Bewahrungsgesetz, nicht auf der Praxis der Bewahrung oder anderer Zwangsmaßnahmen der Gefährdetenfürsorge, für die die Heranziehung von Beständen von Landes- und Stadtarchiven unverzichtbar gewesen wäre. Für die Zwecke dieser Arbeit erwies sich die Überlieferung des Deutschen Gemeindetages, des Deutschen Städtetages und des Deutschen Landkreistages, den Repräsentanten der kommunale Ebene auf Verbandsebene, als vollkommen ausreichend. Die Länderregierungen kommen in der Bundesrats-Überlieferung zum Tragen. Ob die Einbeziehung von Quellen eines exemplarisch ausgewählten Landesfürsorgeverbandes oder von Landesregierungen wie Sachsen oder Hamburg, den wohlfahrtsstaatlichen Pionierreitern der 1920er- und 1930er-Jahre, eine wesentliche Bereicherung für die Arbeit gewesen wäre, darf bezweifelt werden, weil sich ihre Repräsentanten, soweit sie leitende Funktionen in der staatlichen Fürsorgeverwaltung innehatten, in der einschlägigen Fachpresse oder mit eigenen Monografien zu Worte gemeldet haben. Der Verfasser hat z. B. die zeitgenössischen Veröffentlichungen von Georg Steigertahl und Hans Maier, den führenden Köpfen des Hamburger bzw. des sächsischen Wohlfahrtswesens, systematisch ausgewertet.
Treibende Kräfte des Bewahrungsgedankens waren Fürsorger, in erster Linie weibliche Fürsorgerinnen aus dem Katholischen Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder, aus deren Reihen schon weit vor dem Ersten Weltkrieg (1904) erstmals die Forderung nach einer rechtlichen Handhabe zur zwangsweisen Anstaltsunterbringung Erwachsener laut wurde. Die Fürsorgerinnen zielten auf gefährdete junge Frauen aus dem Prostituiertenmilieu, denen nach Erreichen der Volljährigkeit nicht mehr mit fürsorgerechtlichen Zwangsmaßnahmen beizukommen war. Nach Kriegsende erfolgte die Ausdehnung der Zielgruppe auf aus der Fürsorgeerziehung entlassene oder wegen Geistesschwäche entmündigte Personen. In den 1920er-Jahren schlossen sich andere Sparten der Gefährdetenfürsorge, etwa die Trinker- oder die Wandererfürsorge, dem Vorschlag eines Bewahrungsgesetzes an. Kennzeichnend für den Gesetzentwurf wurde die Auseinandersetzung um den einzubeziehenden Personenkreis. Dies erklärt die Abhängigkeit des repressiven Fürsorgegesetzes vom Zustandekommen verwandter Gesetzesvorhaben wie dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, dem Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und schließlich der Strafrechtsreform in der Weimarer Zeit. Das Nichtzustandekommen der Strafrechtsreform beispielsweise blockierte das Bewahrungsgesetz erheblich, da eine klare Abgrenzung zwischen den Personen, die zu bestrafen und jene, die fürsorgerisch zu erziehen waren, auf diese Weise verhindert wurde.
Eine der zentralen Fragestellungen der vorliegenden Arbeit für den Zeitraum vor 1945 ist die nach dem Verhältnis von fürsorgerischer Bewahrung zur eugenischen Asylierung. Der Autor gelangt zu dem Schluss, dass für die Weimarer Republik zwischen Bewahrung aus fürsorgerischem und aus eugenischen Gründen getrennt werden muss. Die Asylierung von angeblich erblich ,,minderwertigen" Personen zielte auf eine dauerhafte Anstaltsunterbringung und auf einen viel größeren Personenkreis ab als die fürsorgerische Bewahrung, die höchstens nach einer langjährigen Beobachtungsphase in eine dauerhafte Maßnahme münden sollte. Der von einer dauerhaften Asylierung nach dem Bewahrungsgesetz betroffene Personenkreis dürfte freilich aus eugenischer Sicht - und dies nicht erst nach 1933 - zu den ,,erbbiologisch Minderwertigen" gezählt haben, so dass auch der Autor einräumt, hier überschnitten sich fürsorgerische und eugenische Asylierung, ohne dass dieses jedoch von den Verfechtern des fürsorgerischen Bewahrungsgesetzes beabsichtigt gewesen sei.
Angestoßen durch die rassehygienische Überformung der Fürsorgepolitik und der Gleichschaltung in der freien Wohlfahrtspflege stellte das Jahr 1933 eine Zäsur in der Bewahrungsdiskussion dar. Zwei Gesetze machten dem Bewahrungsgesetz gewissermaßen Konkurrenz: Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (1933) und das Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung (1934) eröffneten Möglichkeiten der Zwangssterilisation beziehungsweise der lebenslangen Arbeitshausunterbringung bei Bagatelldelikten. Vor dem Hintergrund des eskalierenden Streits zwischen Polizei und Fürsorge um die Zuständigkeit für die arbeitsfähigen ,,Asozialen" entstand 1939 der erste Entwurf des Gemeinschaftsfremdengesetzes, der sich gegen die so genannten ,,Antisozialen" richtete und mit der Einbeziehung von angeblich Kriminellen und Verbrechern einen weiter gefassten Personenkreis ins Visier nahm als das Bewahrungsgesetz. Der Verfasser unterstreicht, dass es schon allein aus diesem Grunde unzulässig ist, im ,,Gemeinschaftsfremdengesetz" eine Art verschärfte Variante des Bewahrungsgesetzes zu sehen. Das Gemeinschaftsfremdengesetz bediente die Interessen von Polizei und nicht, wie das Bewahrungsgesetz die der Fürsorge. Es bildete gewissermaßen ein Scharnier zwischen den von ihm unterschiedenen zwei Phasen der Bewahrungsdiskussion im Nationalsozialismus, die sich mit der bekannten Periodisierung nationalsozialistischer Fürsorgepolitik deckt: Die noch von Fürsorgekreisen dominierte ,,autoritäre Phase" von 1933 bis 1938/39 und die von polizeilicher Willkürherrschaft im Zeichen des Krieges gekennzeichnete zweite Phase von 1939 bis 1945. Wegen des Krieges kam auch das Gemeinschaftsfremdengesetz nicht mehr zum Abschluss, obgleich das NS-Regime längst in seinem Sinne vorging und sich polizeiliche Vernichtungsmaßnahmen gegenüber fürsorgerischen immer stärker durchsetzten.
Auf die spannende Frage, wie die Verfechter des Bewahrungsgesetzes mit der ,,Konkurrenzsituation" der nationalsozialistischen Gesetze seit 1933 umgingen, gibt die vorliegende Arbeit leider keine überzeugende Antwort. Dies mag mit dem Verstummen schriftlicher Äußerungen unter Kriegsbedingungen zusammenhängen. Zu Recht verweist der Verfasser darauf, dass viele Vertreter der Fürsorge sich an den willkürlichen Maßnahmen des NS-Regimes beteiligten, ohne im Einzelfall nach den rechtlichen Grundlagen zu fragen, und dass sie dadurch Schuld auf sich luden.
Die in der Weimarer Republik vorgelegten Gesetzentwürfe tauchten fast unverändert in den Anfangsjahren der Bundesrepublik in Entwürfen der Fürsorgeverbände oder des Bundesministeriums des Innern wieder auf. Es kam jedoch kein eigenes Bewahrungsgesetz zustande. Vielmehr wurde die Möglichkeit der fürsorgerischen Bewahrung in den Abschnitt ,,Hilfe für Gefährdete" des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) eingefügt, das am 1. Juni 1962 in Kraft trat. Alle Beteiligten hatten mit diesem Gesetz die Frage bejaht, ob der Staat Personen gegen ihren Willen seine Hilfe aufzwingen dürfe - bis hin zur zwangsweisen Unterbringung in einer Arbeitseinrichtung. Es mutet grotesk an, dass von der Möglichkeit der zwangsweisen Anstaltseinweisung nach dem BSHG in den 1960er-Jahren kaum Gebrauch gemacht wurde. Der Verfasser erklärt dies mit einem Generationenwechsel in den Fürsorgekreisen, die das Bewahrungsgesetz jahrzehntelang gefordert hatten, und mit den veränderten Moral- und Wertvorstellungen, die in den 1960er-Jahren nicht vor der Sozialarbeit Halt machten. Vor diesem Hintergrund entschied das von drei Bundesländern angerufene Bundesverfassungsgericht im Juli 1967, dass die zwangsweise Unterbringung eines Erwachsenen, die nur seiner Besserung diene, nicht jedoch dem Schutz der Gesellschaft oder seinem eigenen Schutz, verfassungswidrig sei. Damit war die Vorstellung von Hilfe durch Zwangsmaßnahmen, für die eine ganze Generation von Fürsorgern über Jahrzehnte gekämpft hatte, auch höchstrichterlich für nicht mehr zeitgemäß erklärt worden.
Im Hinblick auf Kontinuitätslinien ist ein hervorzuhebender Befund der vorliegenden Arbeit, dass nur wenige Fürsorgeverbände und politische Parteien aus dem Nationalsozialismus Konsequenzen in ihrer Haltung zum Bewahrungsgesetz gezogen hatten. Die eifrigsten Streiterinnen für ein Bewahrungsgesetz - nach 1945 mit denselben Formulierungen wie vor 1945 - waren die Frauen an der Spitze des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder, seit 1968 Sozialdienst Katholischer Frauen. Mit Ausnahme der Arbeiterwohlfahrt, die sich angesichts des heraufziehenden Faschismus 1933 vom Bewahrungsgesetz distanzierte, engagierten sich die Organisationen der freien Wohlfahrtspflege über den gesamten Untersuchungszeitraum für das repressive Fürsorgegesetz. Unter den politischen Parteien ist die KPD bis zur ihrem Verbot 1953 als beständige Gegnerin des Gesetzes hervorzuheben, während die SPD erst nach 1945 zu einer ablehnenden Haltung gelangte, aber die Bewahrungsinstrumente im BSHG im Grunde akzeptierte. Die liberalen Parteien interessierte das Bewahrungsgesetz nur am Rande. Die konservativen Parteien brachten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg eigene Entwürfe ein. Eifrigster Verfechter des Bewahrungsgesetzes war das Katholische Zentrum.
Die Gründe für das stetige Scheitern des Bewahrungsgesetzes lagen vor 1945 in erster Linie in der ungeklärten Kostenfrage. In der Weimarer Republik blockierte die unvollendete Strafrechtsreform zusätzlich das Gesetz, im Nationalsozialismus machte schließlich die polizeiliche Lösung der ,,Asozialenfrage" das Gesetz überflüssig. In der Bundesrepublik ließen rechtsstaatliche Bedenken und der allgemeine Wertewandel die Zwangseinweisung als Fürsorgemaßnahme obsolet erscheinen.
Als Besonderheit des vorliegenden Bandes ist der Dokumentenanhang zu erwähnen, den der Verfasser mit einer Erläuterung zum besseren Verständnis versehen hat. Die 25 Dokumente, überwiegend schwer zugängliche Quellen, sind durch den Anmerkungsapparat mit dem Text verschränkt und chronologisch angeordnet. Der handwerklich vorbildlich gemachte Band enthält nicht nur ein Personen-, Orts- und Sachregister sowie ein Abkürzungsverzeichnis, sondern im Anmerkungsapparat auch biografische Angaben zu allen Personen, die der Autor in Zusammenhang mit dem Bewahrungsgesetz für wichtig hält.
Diese Monografie füllt eine Lücke in der zeitgeschichtlichen Sozial- und Fürsorgepolitikforschung. Sie erlaubt es Historikern oder Sozialwissenschaftlern, die die konkrete Umsetzung von Zwangsmaßnahmen gegenüber ,,Asozialen" untersuchen, ihre Befunde in einen rechtshistorischen-ideologischen Diskussionsrahmen einzuordnen, der ihnen bisher gefehlt hat.
Elke Hauschildt, Koblenz/Hamburg