ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Kai F. Hünemörder, Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950-1973), (Historische Mitteilungen; Beihefte, Bd. 53), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004, 387 S., kart., 54,00 €.

Was Umwelthistoriker und Politikwissenschaftler bisher eher ahnten als wussten wird nun von der materialreichen Kieler Dissertation von Kai Hünemörder in beeindruckender Weise bestätigt: Die frühe westdeutsche Umweltpolitik zu Beginn der Siebzigerjahre war das Ergebnis einer Kombination nationaler Verwaltungstraditionen und internationaler Wissenschaftsdiplomatie. Ihre Entstehung wurde begleitet von einer publizistischen Debatte, die über nationale Grenzen hinweg in den Ländern der westlichen Welt geführt wurde und in Deutschland im Jahre 1972 eine regelrechte ,,Untergangsstimmung" auslöste - nur wenige Monate bevor Ölpreisschock und Fahrverbote die ökonomische Krise der Siebzigerjahre einläuteten.(1)

Dazu muss man wissen, dass die westdeutsche Umweltpolitik entgegen landläufigen Annahmen keine Reaktion auf die Proteste und Forderungen der Umweltbewegung darstellte. Vielmehr handelte es sich um eine genuin bürokratische Erfindung aus der Frühzeit der Regierung Brandt, verbunden mit dem Namen des damaligen Innenministers Hans-Dietrich Genscher. 1970, als von der Ökobewegung noch nicht die Rede war, verkündete der FDP-Politiker den Beginn eines Umweltprogramms der Bundesregierung. Dem folgte eine große Zahl von Gesetzen und Verordnungen von der Luftreinhaltung bis zur Abfallentsorgung (Kap. V).

Kai Hünemörder legt jedoch keine reine Bürokratiegeschichte des Umweltschutzes vor. Er untersucht die Prozesse gegenseitiger Beeinflussung von Verwaltung, Diplomatie, Printmedien, Publizistik und populärer Wissenschaft, die das Feld der frühen Umweltpolitik in Westdeutschland konturierten. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf den Jahren 1970 bis 1973, wobei Vorläufer und Traditionen bis in die Fünfzigerjahre zurück verfolgt werden.

Da Umweltpolitik ein tendenziell uferloses Feld von Sachproblemen umfasst, konzentriert sich Hünemörder vor allem auf die Regelungsbereiche Luftverunreinigung und Wasserverschmutzung, allerdings mit deutlichem Schwerpunkt auf dem ersten. Damit reiht er sich in eine lange Reihe umwelthistorischer Arbeiten über Luftverschmutzung seit dem frühen 19. Jahrhundert ein, trägt aber auch der Tatsache Rechnung, dass Deutschland hier weltweit offenbar stets in der ersten Liga spielte.

Das wohl wichtigste Ergebnis dieser Untersuchung ist der Hinweis auf die Bedeutung internationaler Organisationen und Expertentagungen für die Entstehung umweltpolitischer Konzeptionen - immer freilich in Verbindung mit nationalen Traditionen. Auf dem Gebiet der Luftreinhaltung gingen vom Ruhrgebiet und den zuständigen nordrhein-westfälischen Behörden entscheidende Impulse für bundeseinheitliche Regelungen aus, ja selbst auf internationalem Gebiet konnte Westdeutschland mit diesem Pfund bereits in den Sechzigerjahren wuchern (Kap. III).

Hünemörder zeigt in überzeugender Weise, dass die Grundlagen für das spätere Umweltprogramm, für das vernetzte Denken weltweiter umweltpolitischer Zusammenhänge und den systematischen Zugriff auf den Schutz aller Umweltmedien als Fortentwicklung traditioneller Gesundheitspolitik in den geschlossenen Zirkeln von technischen Experten, Diplomaten und Vertretern der nationalen Verwaltungen entstanden. Schrittmacher waren Organisationen wie die Internationale Union für Naturschutz (IUCN), der Europarat, die Europäische Wirtschaftskommission, die OECD, die UNESCO. Seit dem Beginn der Sechzigerjahre erbaten sie mit Forschungsprogrammen und Konferenzen zum Gesundheitsschutz, zur Ressourcenproblematik und schließlich zur Biosphäre von den Teilnehmerstaaten immer neue Stellungnahmen, Untersuchungen und Lösungsvorschläge.

Der Leser erfährt, dass ausgerechnet die NATO, das Hassobjekt aller Antiimperialisten in den sozialen Bewegungen und bei den frühen GRÜNEN, offenbar entscheidende Anstöße für die ,,Erfindung" der westdeutschen Umweltpolitik gab. US-Präsident Nixon sah im Nordatlantischen Verteidigungsbündnis an der Wende zu den Siebzigerjahren ein Instrument internationalen Technologie- und Wissenschaftstransfers. Im NATO-Ausschuss zur ,,Verbesserung der Umweltbedingungen" sollten aber nicht nur die Mitgliedsstaaten enger zusammenarbeiten. Die Washingtoner Strategen erhofften sich darüber hinaus ein Entspannungssignal in Richtung Warschauer Pakt. Probleme, die die gesamte Menschheit betrafen und von ihrer technischen Natur her Ideologiefragen scheinbar ausblenden, so war das Kalkül, könnten Block übergreifende Lösungsstrategien motivieren. Doch scheiterte der entspannungspolitische Ansatz der in diesem Kontext geplanten UN-Umweltkonferenz von 1972 an einem klassischen diplomatischen Problem: Da die westliche Seite die DDR nicht als gleichberechtigte Konferenzpartnerin akzeptieren wollte, boykottierten die Ostblockstaaten außer Rumänien die Tagung (Kap. IV sowie VIII).

In den westdeutschen Verwaltungen, vor allem in den beteiligten Ressorts der Bundesregierung wie auch bei den Behörden Nordrhein-Westfalens, hatten die Vorbereitungen der internationalen Konferenzen offenbar zweierlei katalytische Wirkungen. Zum einen regten sie das Interesse von teilweise fachlich nicht einschlägigen Verwaltungseinheiten am Thema Umweltschutz an und ließen damit neue Informationsflüsse in Gang kommen. Zum anderen verleiteten sie die Verwaltungen und ihre Spitzen dazu, mit großer Euphorie die Bedeutung des Themas hervor zu heben und weit gehende Ankündigungen über nationale Anstrengungen zu machen - jedenfalls so lange das Thema noch neu schien, vom nationalen und internationalen Konsens getragen wurde und die ökonomischen Konsequenzen nebulös blieben.

Das änderte sich im Klima der vermehrten Umweltwarnungen und der Ausdifferenzierung der umweltpolitischen Debatten bis 1972/73. Wichtige Stimmen in der internationalen Umweltdebatte waren die popularisierenden Futurologen. An deren Arbeiten orientierten sich zunächst und so lange ihre Diagnosen optimistisch waren auch die internationalen Konferenzen. An der Wende zu den Siebzigerjahren lösten Diskussionen über die negativen Umweltfolgen der Industrialisierung eine Wende im futurologischen Denken aus. Standen zuvor euphorische Erwartungen an die Regelungskapazitäten der modernen Industriestaaten im Zentrum, setzten sich nun zunehmend düstere Voraussagen durch, die von den Vorstellungen wie der Bevölkerungsexplosion und der Allgegenwart der Umweltgifte genährt wurden. Die deutschen Printmedien nahmen diese Warnungen und Voraussagen sofort auf, während die Politik der Bundesregierung weiter auf optimistischen Einschätzungen beruhte. 1972 löste der weltweit verbreitete ,,Bericht an den Club of Rome", gewissermaßen als Teil eines Schwarms ähnlicher Untersuchungen und Diagnosen einen Höhepunkt öffentlich artikulierter Untergangsstimmung in der westdeutschen Presse aus. Auf der Grundlage von hochgerechneten Daten zur Bevölkerungs- und Ressourcenentwicklung prophezeite der Bericht einen baldigen Zusammenbruch der industriellen Wirtschaftsweise, falls nicht umgesteuert werde. Als in diesem Zusammenhang vermehrt die Systemfrage gestellt wurde, beeilten sich Regierung, Parteien und Wirtschaftsverbände, solchen Spekulationen und der ,,Umwelthysterie" eine deutliche Absage zu erteilen (Kap. VI und VII). In den folgenden Jahren gingen die offizielle Umweltpolitik und besorgte Bürger zunehmend getrennte Wege - der kurze Honeymoon des Umweltschutzkonsenses war zu Ende. Schon im Umfeld der UN-Umweltkonferenz meldete sich eine Alternativveranstaltung zu Wort, die den optimistischen Beiträgen der Regierungsvertreter keinen Glauben schenken mochten (Kap. IX) und es häuften sich lokale Protestbewegungen gegen konkrete Belastungen (beispielhaft in Kap. X angedeutet).

Akribisch zeichnet Hünemörder die genannten Entwicklungen nach und belegt sie überzeugend mit einer Fülle von Beispielen. Für eine historische Arbeit ungewöhnlich aber interessant sind seine mehrfachen Verweise auf die Rezeption der Umweltdebatten im Bereich Literatur und bildende Kunst. Dennoch sind zwei kritische Anmerkungen zu machen. An einigen Stellen setzt Hünemörder allzu bedenkenlos die publizierte Meinung sowie vereinzelte Umfragedaten mit dem Bewusstsein(swandel) in der Bevölkerung gleich; hier wäre mehr Vorsicht angebracht gewesen. Ein für die Umweltgeschichte leider typisches Manko wird die Rezeption des Buches vermutlich behindern. Die Studie hätte sehr davon profitiert, wenn der Autor seine Ergebnisse konsequenter in den Kontext der laufenden Debatten über die Geschichte der Bundesrepublik gestellt hätte. So beschreibt er ein Paradebeispiel des Westernisierungsprozesses; auch zu den Themen Planung, Experten und mediale Öffentlichkeit liefert die Studie interessante Erkenntnisse, ohne sie für die einschlägigen aktuellen Diskussionen aufzubereiten. Hier liegen vertane Chancen, für die zeitgeschichtlich arbeitende Umwelthistoriker sensibler werden sollten. Es ist zu hoffen, dass die Zeithistoriker diese gute Arbeit dennoch zur Kenntnis nehmen.

Jens Ivo Engels, Freiburg




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