FES: Archiv für Sozialgeschichte - Online: 44. [2004] / Rezensionen
ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Robert Arsenschek, Der Kampf um die Wahlfreiheit im Kaiserreich. Zur parlamentarischen Wahlprüfung und politischen Realität der Reichstagswahlen 1871-1914, (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien Bd. 136), Droste Verlag, Düsseldorf 2003, 419 S., 9 Tab., 7 Abb., Leinen, geb., 49,80 €.

Vor fast drei Jahrzehnten hat Manfred Rauh die Parlamentarisierung des Kaiserreichs postuliert; in der Folgezeit wurde auf verschiedenen Feldern Demokratisierungsprozesse bis 1914 untersucht, zuletzt in Margaret Andersons vielbeachteter Studie ,,Practicing Democracy" die Reichstagswahlen und die Wahlkultur.(1) Robert Arsenschek legt nun eine noch von G. A. Ritter betreute Münchener Dissertation vor, die zu einem guten Teil als Pendant dazu zu verstehen ist und anhand der parlamentarischen Wahlprüfung eine ,,integrative Analyse von Parlamentarisierung und Demokratisierung" (S. 25) versucht. Denn am Umgang des Reichstags mit den 974 strittigen Wahlen zeige sich, wie das Reichsparlament die jeweiligen politisch-sozialen Konflikte wahrnahm und welche Problemlösungskapazität es angesichts des politischen Massenmarkts entwickelte. Die Untersuchung der Wahlprüfung bildet aber nur den ersten Hauptteil des Buches. Im mindestens ebenso wichtigen zweiten Hauptteil geht es um die politische Realität der Reichstagswahlen, vor allem die staatlich-amtliche und parteipolitisch motivierte Wahlbeeinflussung. Als Ergebnis seiner gut geschriebenen, aus 16 Archiven schöpfenden, empirisch ungemein reichen, aber stets auf die analytischen Fragen bezogenen soliden Studie urteilt Arsenschek kritisch, der Reichstag habe sich bis 1914 im ,,Vorhof der Macht wohnlich eingerichtet" (S. 380). Er unterstützt damit die jüngst u. a. von Christoph Schönberger vertretene Sicht, wonach unbezweifelbarer Machtgewinn des Parlaments keineswegs den bevorstehenden Übergang zum parlamentarischen Regierungssystem bedeuten musste, sondern - bei fünf Milieuparteien - im deutschen monarchischen Konstitutionalismus mittels einzelner Junktims und Kompensationsgeschäfte meist der Regierung die politische Leitungs- und Ausgleichsfunktion vorbehalten blieb.

Der erste Hauptteil des Buches zeichnet in bisher nie gebotener Ausführlichkeit alle Aspekte der Wahlprüfung nach, von den rechtlichen Grundlagen über den Ablauf in Wahlprüfungskommission und Plenum bis zu den beiden gescheiterten Anläufen zur Beschleunigung (1884) bzw. Übertragung des Prüfungsprozesses an ein Gericht (1913). Erkennbar sind unterschiedlich intensive Phasen der Wahlprüfung, die wesentlich der jeweiligen parteipolitischen Konstellation geschuldet waren. Etablierten anfangs die dominierenden (National-)Liberalen den Schutz der Wahlfreiheit gegen die traditionellen Autoritäten, so verteidigte in den 1880er- und 1890er-Jahren eine ,,Koalition Gladstone" (S. 375) aus Zentrum, Linksliberalen und Sozialdemokraten Wahlgeheimnis wie korrektes Wahlverfahren gegen Regierung und gouvernementale Parteien. Mit der Einführung von Wahlkuverts und Wahlkabinen durch die so genannte Lex Rickert 1903 schützte man das Wahlgeheimnis wohl besser. Aber parallel dazu wurde die Waffe der Wahlprüfung stumpf, weil die informelle Koalition aus Konservativen und Zentrum nun weniger auf Wählerproteste, denn auf Sicherung ihrer Mandate bzw. Einvernehmen mit der Regierung Bedacht nahm. Erst mit dem SPD-Sieg 1912 trat die Wahlprüfung kurzzeitig wieder hervor, um unter dem Burgfrieden 1915 auszuklingen.

Eine klare und hilfreiche Statistik erhellt, welche Parteien im Zeitraum 1871-1914 bei rigoroser Wahlprüfung am meisten zu verlieren hatten: Rund 33 Prozent der Mandate der Freikonservativen, über 29 Prozent bei den Deutschkonservativen und fast 25 Prozent bei den Nationalliberalen wurden angefochten, noch gut 17 Prozent bei Polen und Welfen, hingegen nur je ca. acht Prozent bei Zentrum und Sozialdemokratie (S. 160). Bei 974 strittigen Wahlen erklärte der Reichstag ganze 89 Mandate für ungültig, wobei 32 Mal die angefochtene Partei ihren Sitz bei der angeordneten Nachwahl behauptete. Insbesondere das fraktionell gespaltene Plenum vertrat in der Regel eher eine ,,großzügige" Linie; nur belegbare, massive Unregelmäßigkeiten in für das Wahlergebnis bestimmt relevanter Zahl zogen Ergebniskorrekturen oder Ungültigkeitserklärungen nach sich.

Für die politische Geschichte des Kaiserreichs scheint dem Rezensenten nach Arsenscheks Befund dreierlei festzuhalten. Erstens zeigt der - zugegebenermaßen durch Rechtsnormen und etabliertes Verfahren gehinderte - Zusammenhang von Wahlprüfung und Parteienkonstellation beispielhaft auch für andere Einzelprobleme, dass ganz generell nicht unbesehen von dem Reichstag zu sprechen ist. Alle Parteien sahen ebenso natürlicher- wie legitimerweise ihre Mandate, ihre Kontakte zur Regierung und ihre politischen Ziele zuerst; der Reichstag bildete insofern in der Regel keine ohne weiteres handlungsfähige Einheit. Hierzu hätte es einer relativ festen Reformkoalition bedurft, die angesichts der konservativ-liberalen bzw. liberal-zentrumskatholischen Gegensätze und bei der Außenseiterstellung der SPD bis 1917 allenfalls punktuell entstand.

Zweitens ist auch bei der Frage der Wahlprüfung wie der gouvernementalen ,,Wahlmache" ein Gefälle zwischen dem konservativen Preußen und den moderat liberalen süddeutschen Staaten feststellbar. Während in Preußen, ähnlich in Sachsen und Mecklenburg, über 22 Prozent der Wahlen angefochten wurden, lagen diese Raten in Hessen bei 13 Prozent, Baden bei zehn, Bayern bei neun und Württemberg bei sieben Prozent (S. 114 f.). Dieser Unterschied ist nicht nur als graduell abzutun, sondern der Grunddifferenz geschuldet, dass sich die süddeutschen Regierungen bei den Reichstagswahlen deutlicher zurückhielten als die preußische, kaum ihren Beamtenapparat einsetzten, direkte Wahlempfehlungen in der Regel vermieden. Im nationalliberal geführten Baden etwa wurde nach der Jahrhundertwende nur noch eine Reichstagswahl angefochten. Bayerns liberalkonservative Regierung glaubte wegen des Verhältnisses zur Zentrumsmehrheit im Landtag, eine eigene Unparteilichkeit an den Tag legen zu müssen, zumal, so der bayerische Innenminister 1907 auf eine preußische Anregung hin, die gutenteils selber katholischen Beamten eine Direktive gegen das Zentrum gar nicht umsetzen würden.

Drittens setzt Arsenschek die Bedeutung der Lex Rickert 1903, zeitgenössisch als ,,Klosettgesetz" bespöttelt, geringer an als Anderson. Er verweist einerseits auf trotzdem mögliche (behördliche) Beeinträchtigung des Wahlgeheimnisses (wie Übereinanderschichten der Stimmzettel mit analoger Listenführung) und bestreitet andererseits, daß die lex Rickert als Sieg des Reichstags über die Reichsleitung interpretiert werden kann. Denn aktenmäßig ist belegbar, dass die über ein Jahrzehnt besonders von den preußischen Ministern abgelehnte Regelung von Kanzler Bülow und Vizekanzler Posadowsky genau dann, nämlich im Januar 1903, konzediert wurde, als das Zentrum dem Zolltarif vom Dezember 1902 zugestimmt hatte (S. 356). Dieses Kompensationsgeschäft demonstrierte also keine Initiative von im Reformwillen einigen Parteien gegenüber der Reichsleitung, wie Anderson annimmt, sondern stabilisierte das System konstitutionellen Regierens ,,über den Parteien", wo Tauschgeschäfte zwischen der Regierung und den Mitte-Rechts Parteien das Tempo gesetzgeberischen Fortschritts wesentlich bestimmten (S. 358-360).

Diese drei Punkte berühren bereits den zweiten Hauptteil des Bandes, die Realität der in der Forschungsliteratur zuweilen unbesehen als frei und geheim angesehenen Reichstagswahlen. Hier legt Arsenschek in bisher nicht gekannter Detailfülle und Analysequalität die vielen kleinen Möglichkeiten zur Wahlbeeinflussung dar. Der Bogen möglicher Ansatzpunkte hierzu erstreckte sich von der Einteilung der Stimmbezirke und der Aufstellung der Wählerlisten durch die Behörden über die Macht der Arbeitgeber (gerade im agrarisch-konservativen ostelbischen Preußen bis 1914 notorisch) und die schwer greifbare ,,stille Agitation" des katholischen Klerus bis zur Behinderung des Wahlkampfes im von einer Partei dominierten Milieu oder der massiven Beeinträchtigung des Wahlgeheimnisses durch prozedurale Tricks. Bei diesen neuralgischen Punkten ist möglicherweise nicht alles Vorgefallene auch aktenkundig bzw. öffentlich geworden und damit für den Historiker nachvollziehbar. Insgesamt zweifelt Arsenschek die Validität der 13 Reichswahlergebnisse 1871-1914 nicht an, konstatiert aber Einschüchterungseffekte und Beeinträchtigung des Wahlgeheimnisses.

Ausführlich zeichnet Arsenschek die von ihm sogenannte Beamtenwahlpolitik Preußens und der Reichsleitung nach, d. h. den Einsatz des Beamtenapparates zugunsten konservativer oder gelegentlich nationalliberaler Kandidaten und die versuchte, aber kaum gelungene Verpflichtung aller staatlich Beschäftigten auf Stimmabgabe für diese Parteien. Die Beamtenwahlpolitik war demnach von der innenpolitischen Wende Bismarcks 1878 bis zum Abgang Puttkamers 1888 deutlich antiliberal, wurde nach einem Jahrzehnt Richtungsstreit 1898 besonders von einzelnen Ressortchefs wie Podbielski für die Postbeamten im Zuge der ,,Sammlung" gegen die Sozialdemokratie revitalisiert, aber schließlich in der politischen Sackgasse von 1912 wegen regierungsinterner Zweifel an der Nützlichkeit allenfalls halbherzig ausgeführt. In diesem letztendlichen Mißerfolg liegt wohl doch ein Erfolg für Demokratisierungstendenzen des Kaiserreichs.

In der gebotenen Kürze können nicht alle die Punkte angeführt werden, in denen Arsenschek an Befunden und Interpretationen von Margaret Anderson Zweifel anmeldet. Schon terminologisch lasse sie im unklaren, welche Kennzeichen ein Verfassungssystem aufweisen muss, um als Demokratie zu gelten, und ob Deutschland bis 1914 keine, keine volle oder eine partielle Demokratie gewesen sei (S. 22). Auch die Hemmnisse gegen die Demokratisierung setzt Arsenschek im politischen Gesamtsystem deutlich höher an, und lokalisiert sie vor allem in der Parteienkonstellation und dem Faktor Preußen, in der Nicht-Reform der geschriebenen Verfassung bis 1918 und der Problematik des Föderalismus. Doch das sind schon Themen für neue Bücher.

Der kürzlichen Klage des Politologen Marcus Kreuzer in der Zeitschrift Central European History, dass der Reichstag als politische Institution historiographisch vernachlässigt worden sei, hat die exzellente Studie von Arsenschek nunmehr auf einem Themenfeld abgeholfen.(2) Es steht zu hoffen, dass sie zudem Anregung gibt zur weiteren Befassung mit dem Wirken des Reichsparlaments in der Spannung zwischen Demokratisierung und Parlamentarisierung, insbesondere im letzten Vorkriegsjahrzehnt.

Hartwin Spenkuch, Berlin




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