ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

María Antonia Iglesias, La memoria recuperada. Lo que nunca han contado Felipe González y los dirigentes socialistas de sus años de gobierno, Aguilar, Madrid 2003, 1.017 S., geb., 28 €.

Auf 840 Seiten geben 19 Spitzenpolitiker aus den goldenen Jahren der spanischen Sozialisten, als die Partei die 1982 gewonnene Regierungsmehrheit in drei Wahlen verteidigen konnte, Auskunft über Konflikte und Bündnisse, über Errungenschaften und Versäumnisse, ergänzt um kürzere Gespräche mit zwölf weiteren früheren Regierungsmitgliedern. Zu verdanken haben wir dieses dicke Paket oral history der Journalistin María Antonia Iglesias. Während ihre heutigen Interviewpartner an der Spitze des Staates standen, war sie eine der einflussreichsten Mitarbeiterinnen des staatlichen Fernsehens. Dass sie auch heute noch den Sozialisten nahesteht, kann man bei der Lektüre nicht überlesen.

Zum allergrößten Teil behandeln die Interviews Themen der spanischen Innenpolitik. Die zeitgenössisch von vielen Linken als neoliberal kritisierte Wirtschaftspolitik aller Kabinette von Felipe González, die Überwindung der Putschgefahr, der Schwenk von der Ablehnung zur Befürwortung der NATO-Mitgliedschaft, der Kampf gegen die ETA, der Generalstreik gegen die sozialistische Regierung (ein traumatisches Erlebnis für alle Befragten), die allmähliche Entfremdung zwischen den beiden Spitzen des PSOE, González und Alfonso Guerra, schließlich die diversen Skandale am Ende der Ära González werden von den meisten Gesprächspartnern, einschließlich des früheren Ministerpräsidenten, offen (ohne aber letzte Geheimnisse zu offenbaren) und selbstkritisch behandelt. Aber auch für ein ausländisches, nicht besonders an Details der spanischen Szenerie interessiertes Publikum gibt es Einblicke, die eine Lektüre lohnen. Sie betreffen einerseits die generelle Bewertung der über 13 Jahre währenden sozialistischen Alleinregierung und andererseits Aspekte der internationalen Politik.

Einig sind sich alle Interviewten, sofern sie sich über die historische Einordnung der Jahre 1982-1996 äußern, dass diese das Ende des spanischen Sonderweges bedeuteten, der das Land von der europäischen Entwicklung weggeführt hatte, sowohl in ökonomischer als auch in politischer Hinsicht. In der Tat, wer würde heute noch den Ausspruch ernst nehmen, Afrika beginne hinter den Pyrenäen. Spanien wieder nach (West-)Europa geführt zu haben, rechnen sich die sozialistischen Spitzenpolitiker hoch an. Nicht nur Deutschland ging erst spät auf den ,,Weg nach Westen". Vorrang hatte für die Regierung González die ökonomische Modernisierung des Landes. Dazu, so die mehrheitliche Sicht der Kabinettsmitglieder (und auch die Position des Ministerpräsidenten selbst), musste das Vertrauen der wirtschaftlichen Elite gewonnen werden. Javier Solana geht im Interview sogar so weit zu sagen, dass der PSOE das zu erledigen hatte, was eigentlich Aufgabe einer modernen Bourgeoisie gewesen wäre. Dazu beschritt die Regierung einen in der Partei umstrittenen Weg, den einige Gesprächspartner heute mit dem von Tony Blair vertretenen ,,Dritten Weg" vergleichen. Zuerst wurde die hohe Inflation durch strikte Sparmaßnahmen begrenzt, bevor im nächsten Schritt die Infrastruktur modernisiert und das Sozialsystem ausgebaut wurde. González verweist zur Erklärung seiner damaligen Position darauf, dass die Linke traditionell den Fehler begangen habe, sich nur um die Verteilung, nicht aber um die Erschaffung des Reichtums zu kümmern. Auf jeden Fall habe der Eindruck vermieden werden müssen, dass - wie in Chile 1970-1973 und in Frankreich 1981/82 - die Sozialisten wieder ihre Unfähigkeit zu kompetenter Wirtschaftspolitik zeigten. Anders als oft vermutet, waren die französischen Erfahrungen des Scheiterns der expansionistischen Haushaltspolitik 1982 nicht der Ausgangspunkt einer Revision der wirtschaftspolitischen Vorstellungen des PSOE. Vielmehr habe man schon von Anfang an die Politik der französischen Genossen für falsch gehalten.

Umstritten war im PSOE, wie radikal die neue sozialistische Regierung in den übrigen Politikfeldern vorgehen sollte. González wollte weit über die Wählerschaft des PSOE hinaus Vertrauen gewinnen, ,,für alle" regieren. Er sieht als Ideal den von Gruppeninteressen unabhängigen Staat, der nur die Belange der Allgemeinheit im Auge hat. Zudem saß damals González noch die chilenische Erfahrung gesellschaftlicher Polarisierung und natürlich auch der letzte Putschversuch in Spanien von Anfang 1981 in den Knochen. Die gemäßigte Politik führte zu Konflikten mit den Gewerkschaften, die sich mehr Einfluss erhofft hatten. Alfonso Guerra, González` damaliger Stellvertreter in Partei und Regierung, kritisierte das Vorgehen des PSOE früher (und tut es auch heute noch) als zu furchtsam. Immerhin konzediert er, dass ein Konflikt mit der Katholischen Kirche wie zu Zeiten der Zweiten Republik 1931-1939 vermieden werden musste.

Die Außenpolitik spielt in den Interviews nur ganz selten eine Rolle. Aus den wenigen Äußerungen wird aber deutlich, dass und warum González auf europäischer Ebene mit Mitterrand größere Probleme hatte als mit Kohl. Mitterrand hatte, wie die meisten französischen Sozialisten, in Spanien lange Zeit Kontakte mit der linkssozialistischen PSP um Tierno Galván und mit den Eurokommunisten von Santiago Carillo bevorzugt. Der PSOE hatte nicht die französische Strategie der Zusammenarbeit von Sozialisten und Kommunisten übernommen; zudem konnten die spanischen Eurokommunisten gut als Gegenbild der im Kern noch traditionalistischen französischen Kommunistischen Partei dienen. Zur Verbesserung des Verhältnisses Mitterrand-González kam es durch Vermittlung des niederländischen Sozialdemokraten Mansholt. Dennoch setzte sich nach 1982 auf französischer Seite nur langsam die Bereitschaft zur Kooperation in der Bekämpfung der ETA durch, betrachtete man doch noch lange die spanische Polizei als Geschöpf der Franco-Diktatur, auch als bereits die Sozialisten in Madrid regierten. (Übrigens wird nebenbei erwähnt, dass die Stiftung von Jimmy Carter Gespräche der Regierung González mit der ETA vermittelte.)

Helmut Kohl unterstützte die Integration Spaniens in die EU nachhaltig. Französische und britische Widerstände überwand er beim EU-Gipfel in Stuttgart 1985 durch finanzielle Zugeständnisse an diese beiden Länder. Die spanischen Interviewpartner rechnen ihm dies hoch an. In González fand Kohl einen Verbündeten in der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss. Und 1989/90 gehörte der spanische Ministerpräsident zu den engagiertesten Unterstützern der deutschen Einheit, was nicht viele europäische Regierungschefs mit ihm teilten.

Insgesamt bleibt der Eindruck eines interessanten Buches, dass zwar keinesfalls die Wahrheit präsentiert, aber viele individuelle Wahrheiten, die in der Gesamtschau erheblich zum Verständnis der spanischen Innenpolitik im Berichtszeitraum beitragen. Zu bedauern ist, dass die Fragen, die Iglesias an ihre Gesprächspartner richtete, nicht abgedruckt werden und kein Personen-, geschweige denn ein Sachregister angelegt wurde. Und schließlich hält das Buch einer intensiven Lektüre nicht stand: am Ende hielt ich den Umschlag aus Karton in der einen, das allmählich in Einzelteile zerfallende Buch in der anderen Hand.

Bernd Rother, Berlin


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