ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Tatjana Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei 1939-1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003, 387 S., geb., 48,00 €.

Nach der Teilung der Tschechoslowakischen Föderation 1993 versuchte die politische Elite der Slowakei die nationale Geschichte des Landes durch organisiertes Vergessen und Erinnern sowie eine gesteuerte Legendenbildung neu zu kreieren, urteilt die Inhaberin der Jean-Monnet-Professur für Europäische Integration an der Universität Bratislava, Silvia Miháliková.(1) Um die Vergangenheit mit dem postkommunistischen status quo zu verknüpfen und die nationale Legitimation zu stärken, sollte, so Miháliková, ein neues kollektives Gedächtnis etabliert werden, ,,in dem ein negatives Bild von der Sowjetunion, den Tschechen und den Ungarn transportiert" wurde.

Solange Geschichte als potentieller Fundus nationaler Traditions- und Identitätsstiftung gesehen wird, wird ein Diskurs über sensible Themen wie die Frage nach dem Ausmaß der deutschen Einflußnahme und der staatlichen Kooperation mit dem nationalsozialistischen Regime während des Zweiten Weltkrieges in der slowakischen Öffentlichkeit kaum stattfinden. Als wichtiger Forschungsimpuls von außen und Wegbereiter zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema, auch innerhalb der Slowakei, kann nun eine von Tatjana Tönsmeyer vorgelegte Studie dienen. Ihre 2002 am Historischen Seminar der Humboldt-Universität angenommene Dissertation untersucht die wirtschaftliche und militärische Zusammenarbeit des Slowakischen Staates mit dem Deutschen Reich im Zeitraum 1939-1945 und gewährt eine differenzierte Binnenansicht auf die politische Struktur des deutschen Verbündeten.

Die Gründungskonstellation als ,,Schutzstaat" des Deutschen Reiches begünstigt bis heute die Tradierung eines stark vereinfachten Bildes von einer slowakischen ,,Marionettenregierung" und dem deutschen ,,Mustersatelliten" in Südosteuropa. Tönsmeyer versucht nicht allein ereignisgeschichtlich die Vorgänge um die Protagonisten beider Seiten nach einem Aktions-Reaktionsmodell zu rekonstruieren, sondern fragt auch nach bestimmten Perzeptionsmustern: Unterschied sich die deutsche Wahrnehmung der Slowakei von jener der Nachbarn und spielte dies für die Ausgestaltung der Beziehungen eine wesentliche Rolle?

Das erste Kapitel widmet die Autorin einer überblicksartigen Darstellung der Deutschen Außenpolitik bezogen auf die Tschechoslowakei, beginnend mit der Weimarer Republik. Dabei konstatiert sie eine ,,Tradition der Nicht-Wahrnehmung hinsichtlich der Slowaken [...], die einhergeht mit einer Fixierung auf die negativ stereotypisierten Tschechen" (S. 57). Deutsche Interessen hätten sich vor 1933 auf die Revision der Versailler Vereinbarungen konzentriert. Besonders auffällig sei die unterschiedliche Verortung der benachbarten Slowaken und Tschechen nach 1933. In der durch ,,Volkstumskampf" geprägten nationalsozialistischen Gedankenwelt, die das Streben nach ,,Lebensraum im Osten" propagierte, kam, so Tönsmeyer, die Slowakei ,,in all diesen Planungen dagegen nicht vor" und habe in einem ,,weißen Fleck" der ideologischen Landkarte gelegen (S. 57 f). Tönsmeyers Interpretation der deutschen Sicht erscheint indes allzu monokausal und reduziert auf ein perzeptives Erklärungsmuster. Die slowakische Staatsgründung 1939 vorwiegend als Nebenprodukt der Zerschlagung der Tschechoslowakei zu werten, und die deutsche Nicht-Wahrnehmung der Slowaken als Hauptmovens auszumachen (S. 51 f., S. 57), erscheint wenig schlüssig, stark vereinfacht und stellt die deutsche Beteiligung als passives Laissez-faire dar. Immerhin schob das Deutsche Reich über den Satellitenstaat Slowakei seine geostrategische Position weit nach Südosten vor und die militärischen Hoheitsrechte im slowakischen Staatsgebiet lagen bei der deutschen Wehrmacht. So lässt sich die von Tönsmeyer zitierte Eintragung Ernst von Weizsäckers vom 27. März 1939 (S. 55) durchaus als aktive Rekrutierung des slowakischen Gebietes als ,,Verschiebemasse" innerhalb der nationalsozialistischen ,,Raumplanung" im Osten werten: ,,Der Verlauf der Einverleibung der Tschechei in das Reich war ein normaler, die Wirkung international die erwartete. Ungeklärt bleibt noch das Schicksal der Slowakei, die unseren Schutz erbat und erhielt. Sie bleibt trotzdem Objekt unserer weiteren Mitteleuropapolitik und dient uns gleichzeitig als Glacis gegen Polen wie als neue Abschlagszahlung an Ungarn."(2)

Den Schwerpunkt ihrer Untersuchung legt Tönsmeyer auf eine detaillierte Analyse der Tätigkeit der deutschen ,,Berater" in der Slowakei, die mehr als 250 Seiten ihrer Studie ausmacht. Die deutschen Berater sollten eine ,,Angleichung an die Rechtsverhältnisse im Reich, besonders bei der Sozial- und Wirtschaftspolitik" sicherstellen, wie es ein Papier des Auswärtigen Amtes im Juli 1940 forderte (S. 67). Im sogenannten ,,Salzburger Diktat" vom 28.7.1940 forderte Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop zudem die Umbildung der slowakischen Regierung. Tönsmeyer erklärt das Engagement des Auswärtigen Amtes vor allem mit dem vorhandenen Ressortegoismus (S. 91). Aus diesem Grund habe das Auswärtige Amt eine Alternative zur Kommissarlösung angestrebt, was allerdings die formale Beibehaltung der slowakischen Eigenstaatlichkeit zur Folge gehabt habe.

Einer allgemeinen Einordnung in den außenpolitischen Kontext folgt eine knappe Beschreibung des Alltags der Berater und ihres Sozialprofils. Das große Verdienst Tönsmeyers ist es, den deutschen Akteuren in der Slowakei Gesichter zu verleihen und erstmals biografisches Material zu dieser politisch-administrativen Mittelebene zu liefern. Da von den 60 eingesetzten Beratern jedoch nur von 28 Personen nahezu vollständige biografische Angaben ermittelt werden konnten, erscheint es methodisch fragwürdig, hier eine ,,weitere Gruppe von NS-Akteuren" (S. 93) definieren zu wollen. Ausgehend von einer derart eng umrissenen Untersuchungsgruppe allgemein gültige Vergleiche zum Sozialprofil des Führerkorps des Reichssicherheitshauptamtes(3) oder den Mitgliedern der Polizeibataillone(4) anzustellen, ist nicht zuletzt aufgrund der fehlenden statistischen Grundlage gewagt. So ist Tönsmeyers Fazit an dieser Stelle wenig aussagekräftig und bezogen auf die Beteiligung am Holocaust fraglich: ,,Alles in allem waren auch die Berater Männer mit guter Ausbildung aus der Mittelschicht. Sie wiesen in ihrer politischen Sozialisation große Ähnlichkeiten mit den Angehörigen des RSHA auf, wurden jedoch, mit Ausnahme von Himmlers ,Sonderbeauftragten', nicht zu Exekutoren rassistischer Ordnungsvorstellungen, da im Rahmen der Politik des Auswärtigen Amtes für entgrenzende Radikalisierung in einem verbündeten Staat kein Raum war" (S. 93).

Gestützt auf breiter Quellenbasis untersucht Tatjana Tönsmeyer im folgenden ausführlich die Kristallisationspunkte der deutschen Beratertätigkeit beim slowakischen Innenministerium, dem Wirtschaftsministerium und den Massenorganisationen wie der Hlinkapartei sowie dem Arbeitsdienst und dem Propagandaamt. Anders als es der Titel des Buches suggeriert, werden jedoch Position und Verhalten der slowakischen Protagonisten, etwa des Staatspräsidenten Jozef Tisos oder des Ministerpräsidenten Vojtech Tuka, recht knapp auf etwa zwanzig Seiten abgehandelt. Pionierarbeit leistet die Autorin mit der Darstellung der Tätigkeit des deutschen Beraters für die ,,Judenfrage", SS-Haupsturmführer Dieter Wisliceny, und des slowakischen Anteils an der Judenvernichtung. Dabei kommt sie zum Schluss, dass die deutsch-slowakische Zusammenarbeit ,,'funktionierte', weil Judenfeindschaft sowohl für die slowakischen Akteure wie für Wisliceny handlungsleitend war" (S. 161). ,,Damit tausendfacher Mord möglich wurde, reichte eine slowakische Judenfeindschaft eher altmodischen Typs und eine deutsche ,Organisationsanleitung'" (S. 162). Ob eine Formulierung wie ,,altmodisch" indes zur Charakterisierung des slowakischen Antisemitismus taugt, sei dahingestellt. Sicherlich wäre eine präzisere Sprache und der Verzicht auf Allgemeinplätze an mancher Stelle notwendig gewesen, wie auch das Fazit Tönsmeyers verdeutlicht: ,,Die Untersuchung der Beratertätigkeit hat das Bild von der Slowakei als ,deutschem Schutzstaat' verändert. Nun steht weniger ihr Charakter als deutscher ,Satellit' im Vordergrund als vielmehr bestimmte Praxen auf deutscher und slowakischer Seite und deren motivationale Hintergründe. [...] Wollte man diese Beziehungen mit wenigen Worten charakterisieren, so läßt sich sagen, daß sie sich weitgehend problemlos gestalteten" (S. 335).

Einen interessanten Beitrag zur begriffsgeschichtlichen Diskussion von ,,Kollaboration"(5) bietet das Schlusskapitel ,,Fazit und Konsequenzen", in dem die Autorin auf die politische Alltagsgeschichte und ,,das Verständnis von Herrschaft als einem Prozeß, der sich im Alltag ,materialisiert'" (S. 347) verweist. Tatjana Tönsmeyer resümiert: ,,Wenn man die hochgesteckten deutschen Ziele bedenkt, das heißt Einfluß zu nehmen auf die Gestaltung von Politik im slowakischen Staat und Einbindung des Landes in die deutsche Einflußsphäre, so blieben die Ergebnisse aus Berliner Sicht hinter den Erwartungen zurück. Zwar hat der Slowakische Staat in (wehr)wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht sowie im Hinblick auf die ,Endlösung' seinen Beitrag erbracht. Aber er tat es aus freien Stücken bzw. als vertraglich gebundener Verbündeter des Deutschen Reiches" (S. 329). Darüber hinaus habe die slowakische Regierung aber deutsche Einflussnahmeversuche, die auf die Organisation der Gesellschaft zielten, abgeblockt und ein ,,gerütteltes Maß an slowakischem ,Eigensinn'" (S. 329) bewiesen.

Wenngleich die vorliegende Studie im Kern eine Spezialuntersuchung der deutschen Beratertätigkeit in der Slowakei liefert und weniger eine ausführliche Darstellung der außen- und innenpolitischen Verhältnisse, ist Tatjana Tönsmeyers Werk eine lesenswerte und verdienstvolle Untersuchung, die hoffentlich eine weitere Diskussion, auch im Kontext des Kollaborationsdiskurses, auslösen wird.

Matthias Schröder, Münster


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