ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen - Vergangenheitspolitik - Zukunftskonzeptionen, hrsg. v. Dieter Bingen, Włodzimierz Borodziej und Stefan Troebst. (Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, Bd. 18), Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2003, 328 S., kart. 24,80 €.

Mit der durch den Vereinigungsprozess von DDR und BRD ausgelösten neuen kollektiven Identitätssuche stieg in Deutschland in den Neunzigerjahren vor allem der kritische Rückblick auf die eigene Geschichte. Zunächst belebten zahlreiche geschichtspolitische Debatten über den Nationalsozialismus den neuen Erinnerungsboom. Um die Jahrhundertwende hat sich schließlich das Reden über ,,Flucht und Vertreibung" in Europa entscheidend verändert. Signifikant waren die diesbezüglichen Neukartierungen innerhalb der Forschungslandschaft: endlich hatten sich bi- und internationale wissenschaftliche Gremien und Forschungsprojekte der Thematik mit Schwung zugewendet. Vor allem durch die Öffnung der Archive in den post-kommunistischen Staaten und das dort neu erwachte Forschungsinteresse an der Frage der Zwangsmigrationen - besonders in Polen und in Tschechien - waren wesentliche Arbeiten entstanden und dienten als erste konkrete Diskussionsbasis eines zarten Pflänzleins europäischer oder zumindest bi-nationaler Diskurse .

Endlich wurde Flucht und Vertreibung der Deutschen in den Zusammenhang europäischer Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts gerückt und aus der eindimensionalen kausalen Verknüpfung mit der Geschichte des Nationalsozialismus gelöst. Und nicht zuletzt wurden die Vertreibungserfahrungen der Einzelnen endlich mithilfe von systematischen Lebensverlaufsanalysen in den Kontext der Gesellschaftsgeschichte gestellt.

Und dann kamen Erika Steinbach und Peter Glotz. Mit der 1999 vom Bund der Vertriebenen (BdV) lancierten Idee, ein eindeutig auf die Interessen der deutschen Vertriebenen zugeschnittenes ,,Zentrum gegen Vertreibungen" (ZgV) zu errichten, arbeiteten sie zunächst im Abseits öffentlichkeitsrelevanter Diskussionen. In dieser Nebenöffentlichkeit bewegten sich die bundesdeutschen Vertriebenenverbände seit Mitte der siebziger Jahre: nicht zuletzt als Folge ihrer revisionistischen Geschichts- und Erinnerungspolitik, die sie seit ihrer Gründungsphase in der jungen Bundesrepublik gepflegt haben. In dem seit 1989 veränderten nationalen Diskursklima tauchten sie immer deutlicher aus ihrer gesellschaftlichen und politischen Nischenposition als zweitrangige Lobbyisten auf: der Deutsche Bundestag fasste im Sommer 2002 schließlich einen von der Regierungskoalition formulierten Beschluss, ein ,,europäisch ausgerichtetes Zentrum gegen Vertreibungen" zu unterstützen. War der BdV am Ziel seiner Wünsche?

Auch die Historiker unterschätzten den vergangenheitspolitischen Zündstoff, den die beiden Vorsitzenden einer Stiftung des Bundes der Vertriebenen damit gelegt hatten. Denn zusammen mit weiteren geschichtspolitischen Debatten - vor allem um die deutschen Bombenopfer des Zweiten Weltkrieges - wuchs ein mehrstufiger, neuer deutscher Opferdiskurs zusammen, der Ost- und Westdeutschen ein wenig das Gefühl geben konnte, zusammenzugehören. Im übrigen Europa, vor allem in den osteuropäischen Staaten, wurde das Gefühl provoziert, die Deutschen vollzögen eine gefährliche Erinnerungswende in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen: weg von der diskursbestimmenden Täterschaft, hin zur charmanten Opferbefindlichkeit.

Der ,,Komplex der Vertreibung" ist ein doppelter. Zum einen ist mit diesem Begriff die chronologische und kausale Verwobenheit vielschichtiger historischer Prozesse gemeint, die bislang immer noch nicht ausreichend durchleuchtet worden sind: Es besteht weiterhin großer kommunikativer - auch wissenschaftlicher - Nachholbedarf. Zum anderen handelt es sich bei dem Erinnerungsbild der Vertreibung um einen stark affektbesetzten Ort, der nicht selten qua Verdrängung Turbulenzen ausgelöst hat und weiterhin auslöst. Auch politisch sind diese Verwirbelungen existent: siehe die aktuelle Diskussion um das geplante ,,Zentrum gegen Vertreibungen" des Bundes der Vertriebenen.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen - aber noch deutlich vor der medialen Diskursexplosion des Jahres 2003 - veranstaltete das Deutsche Polen-Institut zusammen mit dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas sowie dem Historischen Institut der Universität Warschau im Dezember 2002 im Dezember 2002 eine Konferenz im Darmstädter ,,Haus der Deutsch-Balten."(1) Das Ergebnis dieses Kolloquiums von über vierzig Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Israel, Kosovo/Kosova, Serbien und Montenegro, Polen, Rumänien, Russland, der Slowakei, Tschechien, der Türkei, Ungarn, den USA und Deutschland liegt nun in Buchform vor. Ausdrücklich ohne die Autorisierung durch die Tagungsteilnehmer entstanden, dokumentiert der Sammelband, der zusätzlich zu den Vorträgen auch die jeweils anschließenden Diskussionen umfasst, den Forschungsstand und enthält Anregungen zur Konzeption eines europäischen Erinnerungsortes in der Form eines Zentrums gegen Vertreibungen: ein erster interessanter Befund, denn keiner der Tagungsteilnehmer fragt danach ob, sondern nur noch wie beziehungsweise wo eine solche Dokumentations-, Mahn- respektive Gedenkstätte eingerichtet werden kann. Was vielleicht daran liegt, das sich die Gegner eines solchen Erinnerungsortes erst Mitte des Jahres 2003 formiert haben.(2)

Vier der insgesamt sechs Podien sind im ersten Teil des Sammelbandes unter dem Titel ,,Das Jahrhundert der Vertreibungen. Massenfluchten, Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen im Europa des 20. Jahrhunderts" abgebildet. Die ersten drei Abschnitte bilden sozusagen das ereignisgeschichtliche Gerüst der Tagung. Ausgehend von der kausalen Bedeutung von Kriegen für Zwangsmigrationen werden Vertreibungen nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg beleuchtet. Zudem wird der Kalte Krieg als Dynamisierungsfaktor von Bevölkerungsverschiebungen kontextualisiert. Dadurch wird erfreulicherweise die in der gegenwärtigen öffentlichen Debatte spürbare Konzentration auf die Vertreibungen der Jahre 1938-1950 aufgebrochen: so erhält beispielsweise die osmanische Armenierpolitik ebenso breiten Raum wie die Analyse der verschiedenen Vertreibungspolitiken im Bereich des sonst nur zu oft vergessenen Balkan.

Der zweite Teil des Bandes - ,,Gedächtniskultur, Erinnerungspolitik und gemeinsame europäische Zukunft" - thematisiert verschiedene Aspekte der zeitgenössischen europäischen Erinnerungskultur. Im fünften Podium findet sich neben kurzen, thesenartigen Ausführungen zu deutschen und tschechischen historiographischen Memorabilien und einem Beitrag über den Umgang mit der Vergangenheit in Polen ein eher an der Praxis orientierter Beitrag: Thomas Lutz versucht, aus seiner Arbeit im Bereich der Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus Analogien abzuleiten, die in Bezug auf das geplante ,,Zentrum gegen Vertreibungen" relevant sein könnten. Dieser Zugang ist insofern spannend, als der Vergleich mit anderen Opfergruppen zum festen Inventar der Wiedergutmachungspolitik der Vertriebenenverbände gehört. Zunächst mahnt Lutz die Vergewisserung der Ziele eines solchen Zentrums an: ein Zentrum gegen Vertreibungen würde wahrscheinlich an den eigenen moralisch-normativen Ansprüchen scheitern, denn es gehe der Stiftung des BdV doch vor allem um die Aufarbeitung der Vertreibungsgeschichte respektive um die Etablierung ihrer Sichtweise auf die damit verbundenen Vorgänge. Aus seiner Erfahrung in der Gedenkstättenarbeit folgert er, den Lernort vom Gedenkort zu trennen. Lutz schlägt weiterhin vor, schon im Titel von moralischen Schattierungen Abstand zu nehmen und außerdem die diskursive Relevanz des Themas mit zu berücksichtigen: das Kind könnte also - so Lutz - ,,Europäisches Zentrum zur Erforschung von Vertreibung und deren Gegenwartsbedeutung" heißen.

Mit diesem Beitrag ist man schon beim letzten Teil des Bandes angekommen: ,,Welche Ziele könnte und sollte ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen verfolgen?" Aber bis auf Stefan Laube liefert keiner der Referenten systematische konzeptionelle Überlegungen zur Realisierung eines neuen Erinnerungsortes. Wie fast alle Autoren hält auch Laube ein Zentrum eher für notwendig als überflüssig. Ihm erscheint die Errichtung angesichts der zunehmenden Bedeutung des kulturellen Speichergedächtnisses geradezu als zwingende Notwendigkeit und als Ausdruck ,,objektiver Traditionspflege". Laube fordert dementsprechend die Hintanstellung psychologisch-therapeutischer Funktionen. Vielmehr plädiert er für die Zuwendung zu einer Dokumentationsstätte, deren erste Aufgabe jedoch nicht die Akquirierung von Forschungsprojekten, sondern die Vermittlung von Forschungsergebnissen sein solle. Spätestens an dieser Stelle hätten die Tagungsteilnehmer dem Bund der Vertriebenen ihr Dankeschön aussprechen müssen: ohne den Vorschlag eines ZgV wäre so schnell wohl keiner auf diese Idee der zwingenden Notwendigkeit der Erweiterung des Inventars bundesdeutscher Erinnerungskultur gekommen.

Lediglich Karl Schlögl hinterfragt in seinem Einleitungsvortrag grundsätzlich die Idee eines Zentrums gegen Vertreibungen. In den nach 1989 neu entstandenen ,,europäischen Diskursraum" gehört seiner Ansicht nach zwar elementar die Erzählung von Flucht und Vertreibung. Er warnt jedoch vor einer normativ angelegten und auch parteipolitisch motivierten Inszenierung des Erinnerungsortes ,,Flucht und Vertreibung", wie sie gegenwärtig anzutreffen ist. Damit korrespondiert auch Schlögls Einsatz für eine dezentrale, regionale und vernetzte Perspektive, für eine Perspektive der einzelnen Orte und ihrer Geschichten: ein Netzwerk von Erinnerungseinrichtungen existiert nämlich schon, man betrachte zum Beispiel nur die zahlreichen Museen, Forschungseinrichtungen und Bibliotheken in Europa, die sich mit dem Thema Zwangsmigrationen auseinandersetzen.

In den meisten der hier versammelten Tagungsbeiträge wird der Versuch unternommen, die nationalen Geschichten der Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts in eine transnationale Geschichte der Vertreibungen einzuordnen: der Weg zu einer ,,europäischen Erinnerung" ist jedoch noch mit vielen unbeantworteten Fragen gepflastert: so ist die Rolle der erinnerungspolitischen Akteure bis heute ganz überwiegend im Dunklen verblieben. Inwiefern hat der Boom individueller Erinnerungen an Nationalsozialismus, Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung zu einer Differenzierung des dominierenden Opfer-Täter-Diskurses in Deutschland beigetragen und welche Folgen hat diese Differenzierung für die Entwicklung kollektiver Identitätsfiguren in Europa?

Weitere Tagungen, Expertentreffen, politische Gespräche sind bereits geplant. Zu wünschen wäre, dass sich das wissenschaftliche Reden über Zwangsmigrationen zumindest grundsätzlich der gegenwärtig spürbaren politischen Vereinnahmungsstrategie entziehen könnte: damit wäre der notwendigen, unvoreingenommenen und gemeinsamen Erinnerung an Vertreibungen wahrscheinlich am ehesten gedient.

K. Erik Franzen, München


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