ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Bernhard Löffler, Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard, (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte Nr. 162), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2002, 658 S., geb., 110,00 €.

Die Beschäftigung mit der Sozialen Marktwirtschaft hat keine Konjunktur. Das gilt zumindest für die wirtschaftsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem von theoretischen Überlegungen der Ökonomen dominierten Themenfeld. Allenfalls die Nachkriegszeit und die Ursachenforschung zum ,,Wirtschaftswunder" ist von Historikern intensiv bearbeitet worden. Umso erfreulicher ist es, dass Bernhard Löffler mit seiner überarbeiteten Habilitationsschrift eine ,,Biographie" des Bundeswirtschaftsministeriums (BWiM) von 1949 bis 1963 vorgelegt hat. Um es vorwegzunehmen, seinem Anliegen ,,ein möglichst umfassendes und differenziertes Gesamtbild" (11) dieser in der jungen Bundesrepublik zentralen Behörde zu zeichnen, wird er gerecht. Auf nahezu 600 quellengesättigten Textseiten entsteht ein umfassendes Bild der Rahmenbedingungen, Handlungsspielräume und Akteure, angefangen von der Erörterung der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft im Spannungsfeld von Gesetz, Wissenschaft und Politik über die Analyse von Personal, Organisationsstruktur und -kultur sowie Kompetenz- und Konfliktfeldern in jeweils separaten Kapiteln. Der Akteursrolle im Widerstreit konkurrierender Ministerien und Ressortkonflikten einerseits, sowie den Beziehungen des BWiM zu Parteien andererseits und schließlich der Position im europäischen Integrationsprozess wird dabei viel Raum zugemessen. Im Ergebnis wird deutlich, dass es sich weder beim BWiM noch bei der Sozialen Marktwirtschaft um monolithische Gebilde, sondern um facettenreiche, im Zeitablauf verändernde Organismen handelte. Darüber hinaus wird besonders gut herausgearbeitet, was im Titel des Buches als ,,administrative Praxis" bezeichnet wird, nämlich die reale, ganz und gar praktisch-alltägliche wirtschaftspolitische Arbeit der Umsetzung einer Theorie, einer offenen Stilidee angesichts von Ressort- und Kompetenzstreitigkeiten, Einflussnahmen und Kompromissen, öffentlicher und behördeninterner Überzeugungsarbeit.

Die multiperspektivische, aber nicht in einem Modell mündende Analyse bedient sich moderner wirtschaftsgeschichtlicher, politikwissenschaftlicher und wissenschaftsgeschichtlicher Methoden. Hier macht sich positiv bemerkbar, was Bernhard Löffler im Vorwort hervorhebt, nämlich die seltene Möglichkeit über Zeit zum Nachdenken und Schreiben verfügt zu haben. Dementsprechend instruktiv und breit ist die Studie geraten.

Die konzeptionelle Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft ist für Bernhard Löffler durch drei Konstituenten geprägt: erstens durch ihren wettbewerbs- und ordnungspolitischen Charakter, zweitens durch die Verbindung von Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik und drittens durch die Praxisorientierung der ,,geistigen Väter".

Auffällig ist dabei, wie modern die Behörde mit ihrem elitären Selbstverständnis als grundsatz- und ordnungspolitisches Gewissen agierte und dementsprechend attraktiv für wirtschaftspolitischen Spitzennachwuchs war. Gleichwohl ist die Konstanz des Personalprofils der Beamten bemerkenswert, wie das kollektivbiographische Kapitel (C) zeigt. Ludwig Erhards Rolle als ,,Promoter" der Sozialen Marktwirtschaft wird genauso deutlich herausgearbeitet wie die Beamten- und Behördentradition des Ministeriums. Erhard stand im Grunde genommen dem Parteiwesen mit seiner partikularistischen Form der Interessenvertretung skeptisch gegenüber. Methodenvielfalt in der Arbeitsweise, ein liberales, vielfach unbürokratisches Arbeitsklima, die professionelle Vermarktung der eigenen Tätigkeit (,,Soziale Marktwirtschaft", ,,Wohlstand für alle", ,,Vater des Wirtschaftswunders") sowie ein ,,tiefgestaffeltes Feld an Unterstützungszirkeln" zeichneten das BWiM und seine Organisationskultur aus. Damit sind Stärken, angesichts der unorthodoxen Arbeitsweise und des ,,extrovertierten und ambitionierten" Stils aber auch durch Misstrauen bedingte Schwächen benannt (Kapitel D). Der evolutive Charakter der Sozialen Marktwirtschaft und ihrer Umsetzung wird angesichts zahlreicher Kompetenzstreitigkeiten mit anderen Ministerien und den Auseinandersetzungen mit verschiedenen politischen Institutionen (Kabinett, Parteien, Fraktionen) ersichtlich (Kapitel E und F). Bestätigt wird die organisationswissenschaftliche Erkenntnis, dass diese Konflikte für eine erhebliche Ressourcenbindung verantwortlich sind. Sowohl die Bandbreite der wirtschaftspolitischen Diskussionsfelder (Verteidigung, Atomfragen, Verkehr, Ernährung, Gesundheit, Finanzen, Europa) als auch der politische Arbeitsalltag mit seinen Kompromisslösungen zeigen die Bedeutung der Sozialen Marktwirtschaft und die nachhaltigen Schwierigkeiten ihrer Etablierung selbst in den eigenen Reihen auf. Bernhard Löffler urteilt: Das Bundeswirtschaftsministerium und Ludwig Erhard persönlich präsentierten sich in diesen Diskussionen, in dem Ringen mit Kanzleramt und Nachbarressorts, als zähe, machtbewußte, zielstrebige und im Ganzen recht erfolgreiche Akteure." (581)

Anhand der europäischen Wirtschaftspolitik (Kapitel G), genauer den Verhandlungen zur Montanunion und der EWG-Gründung, werden umfassend die Problemlagen, Verhandlungsrunden und Verständigungen aufgezeigt und zugleich ein Licht auf die (internationale) Durchsetzungsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft geworfen. Grundsätzlich agierte Erhard weniger politisch geschickt als professoral fachkundig. Umso wichtiger wurde die Ministerialbeamtenschaft, die über ganz erhebliche Einflussmöglichkeiten verfügte und durch ihre eigenständige Suche nach pragmatischen Verständigungsmöglichkeiten eine gleichermaßen initiativ-kompensatorische wie stabilisierende Rolle spielte. Gleichwohl änderten sich die Zeiten und mit ihr Rolle und Personal des BwiM. Bernhard Löffler kommt in seinem zusammenfassenden Kapitel zu dem Schluss, dass die Europäisierung der Wirtschaftspolitik sowie des Berufs- und Arbeitsverständnisses der Beamten ein zentrales Ergebnis der Studie sei. Hinzu kommt, dass die Bürokratie mit ihren unterschiedlichen Formen von Planung anfangs eine wichtige Bewährungsprobe für die zunächst planungsaverse Soziale Marktwirtschaft und ihre Verfechter gebildet hatte. Schon bald setzte aber ein sich zunächst subtil vollziehender Wandel von einer stark liberal geprägten zu einer schrittweise interventionistischeren und damit weithin akzeptierten Konzeption ein. So änderten im Zuge eines gegenseitigen, reziproken Prozesses des Formens und geformt Werdens die wissenschaftspolitische Konzeption Soziale Marktwirtschaft und die administrative Praxis im deutschen und europäischen Umfeld ihren Charakter.

Ein Ergebnis, das angesichts der aktuellen Reformbemühungen und des Reformstaus Differenzierung und Orientierung bietet.

Michael v. Prollius, Berlin


DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | März 2004