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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Claude Didry, Naissance de la convention collective. Débats juridiques et luttes sociales en France au début du 20e siècle. Préface de Evelyne Serverin, Editions de l'Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris 2002, 267 S., geb., 23,00 €.

Das Gesetz über die ,,conventions collectives" vom 28.3.1919, das den Tarifvertrag in Frankreich gesetzlich regelte und anerkannte, ist bislang von der Forschung wenig beachtet worden. In juristischen und sozialhistorischen Handbüchern erscheint es als gescheiterter Vorläufer der Matignon-Gesetze von 1936, die als eigentliche Geburtsstunde des Tarifvertrages in Frankreich gelten. Dass nach einer ersten Welle von Tarifabschlüssen 19191/20 kaum noch Tarifverträge ausgehandelt wurden, wird dem allzu liberalen Gesetz von 1919 angelastet. Es gab den Verbänden nicht das Recht, durch Mehrheitsbeschluss bindende Normen für alle Mitglieder zu setzen, sondern wahrte die Willensfreiheit des Einzelnen, der innerhalb einer Frist vom Tarifvertrag zurücktreten konnte. Diese Konstruktion wurde auch in Deutschland diskutiert, gestützt auf niemand Geringeren als Philipp Lotmar, aufgrund der heftigen Opposition der Anhänger der Verbandstheorie Sinzheimers jedoch verworfen. Das deutsche Tarifrecht schlug den entgegengesetzen Weg wie das französische ein und erkannte die Normsetzungsmacht der Verbände an.

Didrys Analyse der französischen Debatten, die zur Institutionalisierung des Tarifvertrages führten, ist deshalb nicht nur für das Verständnis der Entwicklung des französischen kollektiven Arbeitsrechtes zentral, sondern von hohem Interesse auch für alle, die sich mit der Geschichte (und Gegenwart) des deutschen Tarifrechtes beschäftigen. Auch wenn Didry leider gänzlich auf eine vergleichende Perspektive verzichtet, wirft sein Buch eine Fülle spannender Fragen für eine solche vergleichende Geschichte auf. Zugleich bietet es einen vielversprechenden Ansatz für die Verbindung von Rechts- und Sozialgeschichte. Gestützt auf Max Weber sieht Didry das Recht als soziale Praxis und verfolgt die Entwicklung des Tarifvertrages auf dem Rechtswege, nämlich über eine Serie von Gerichtsurteilen in Tarifsachen. Die Kommentierung dieser Urteile durch Rechtswissenschaftler in den großen periodischen Veröffentlichungen zur Rechtsprechung schuf die Quellenbasis der ,,juristischen Arbeit", aus der das Gesetz von 1919 hervorging.

Die französische Rechtswissenschaft bezog sich also in ihrer Auseinandersetzung mit dem Tarifvertrag auf eine wachsende Sammlung von Urteilen, und nicht, wie die deutsche Rechtswissenschaft seit Lotmars bahnbrechender Untersuchung von 1900, auf eine wachsende Sammlung von Tarifverträgen. Weil aber die tarifvertraglich geregelten Arbeitsbedingungen in zahlreichen Branchen, darunter so wichtigen wie dem Bergbau und dem Buchdruck, nie Gegenstand eines Gerichtsverfahrens waren, blieben gerade diese, Hunderttausende von Arbeitern erfassenden, Tarifverträge anscheinend außerhalb des Blickwinkels der französischen Juristen. Weshalb die französische Rechtswissenschaft ihr Bild der sozialen Wirklichkeit auf einer so außerordentlich schmalen Basis konstruierte, und ob sie wirklich von den großen Streiks und Tarifabschlüssen, die über Monate die nationale Presse füllten, ganz unbeeinflusst blieb, müsste weiterverfolgt werden.

Didry wählt bewusst den gleichen engen Blickwinkel wie seine Protagonisten, kann aber selbst an diesem kleinen Korpus von 37 Fällen die ungeheure Vielfalt der Realität des Tarifvertrags in Frankreich zeigen, die die Arbeit an einem Gesetz erheblich erschwerte. Darüber hinaus dient ihm das im Laufe der Prozesse zutage geförderte Material als Zugang zu den sozio-ökonomischen Bedingungen, unter denen Tarifverträge entstanden. Seine sorgfältig recherchierten Fallstudien, insbesondere zu der für den französischen Tarifvertrag fundamentalen Realität der ,,fabrique territorialisée", wo in Fabriken, kleinen Werkstätten und in Heimarbeit Beschäftigte an der Erzeugung eines Produktes zusammenwirkten, sind sozialhistorische Tiefenbohrungen, die die Vielfalt der ,,mondes de production" erschließen. Auf der Grundlage dieses von Robert Salais und Michael Storper entwickelten Modells, versucht Didry, seine Fälle zu kategorisieren und Aussagen über den Zusammenhang zwischen Produktionsbedingung und Form sowie Funktion des Tarifvertrages zu treffen. Obwohl seine Überlegungen, z.B. zur Bedeutung des Tarifs für die Verringerung ökonomischer Unsicherheit, durchaus überzeugen, scheint eine statistische Auswertung, wie er sie vornimmt, angesichts der wenigen, nicht repräsentativen Fälle doch nicht sehr aussagekräftig.

Die Jurisprudenz zum Tarifvertrag ist aber nur eine der ,,Bedingungen der Möglichkeit der Debatte über den Tarifvertrag", von denen der erste Teil des Buches handelt. Als Soziologe kann Didry nicht den Beitrag der verschiedenen Richtungen der französischen Soziologie zu dieser Debatte ignorieren, obwohl er selbst zugibt, dass er von den Juristen kaum wahrgenommen wurde. Dieses Kapitel ist vor allem deshalb wichtig, weil es bereits zeigt, auf welche Schwierigkeiten eine Konzeption des Tarifvertrags als Vertrag zwischen juristischen Personen, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, in Frankreich stoßen musste. Didry verweist sehr richtig auf die Stärke der antikorporatischen Tradition der französischen Revolution und des Zivilrechts, tendiert aber dazu, die politischen und gesellschaftlichen Widerstände gegen Gewerkschaften als Vertragspartner im Tarifvertrag als objektive Schwierigkeiten oder gar Unmöglichkeit zu behandeln. Diejenige Lösung, auf die sich Rechtswissenschaft und Politik in Frankreich schließlich einigten, machte nicht die Gewerkschaften, sondern die Gruppe der Streikenden oder Beschäftigten (le groupement) zum Ausgangspunkt des Tarifvertrages, der nun mangels juristischer Personen nicht als Vertrag, contrat, sondern als convention collective konstruiert war. Diese Konstruktion war für Frankreich besonders plausibel, weil hier Tarifverträge, die in Abwesenheit einer Gewerkschaft durch die Repräsentanten der Streikenden bzw. deren Vollversammlung geschlossen wurden, besonders häufig waren. Solche ,,unbegrenzten Tarifverträge", deren Geltungsbereich nicht auf die Mitglieder eines Verbandes begrenzt werden konnte, existierten freilich auch in Deutschland zu Genüge, doch wurden sie dort von der Rechtswissenschaft im Gefolge Sinzheimers verdrängt, während sie in Frankreich durch das Gesetz von 1892 zur Streikschlichtung quasi institutionalisiert worden waren.

Im zweiten Teil seines Buches schildert Didry, wie die ,,juristische Arbeit" am Tarifvertrag diese und andere Institutionen und Strukturen, wie insbesondere die Rechtsprechung durch die Conseils de prud'hommes aufnahm und so einen Tarifvertrag schuf, der weniger die zukünftigen Arbeitsbedingungen regeln sollte, als geltendes Recht und Gewohnheit verkünden, festhalten und gerichtsfest machen sollte. Ganz charakteristisch für dieses Verständnis des Tarifvertrags als einer ,,charte coûtumière" ist die gesetzliche Sanktionierung des unbefristeten Tarifvertrages, der jederzeit einseitig gekündigt werden kann und deshalb keine Friedenspflicht kennt: Traten Veränderungen in den geltenden Gewohnheiten, Preisen usw. ein, konnte jederzeit ein Arbeitskampf beginnen, dessen Ziel es war, die neuen, jetzt gültigen Tarife festzuhalten. Die Debatte unter den Juristen drehte sich vor allem um die Frage, welche Personen durch einen unbegrenzten Tarifvertrag verpflichtet werden konnten. Die Einrichtung einer Frist, nach deren Ablauf jeder als dem Tarif unterworfen galt, der sich nicht ausdrücklich gegen den Tarif ausgesprochen hatte, bot eine zivilrechtlich einwandfreie Lösung für dieses Problem und fand daher eine Mehrheit.

Die Schilderung dieser Debatten innerhalb und außerhalb des Parlamentes informiert, allerdings nicht immer zuverlässig, über die wichtigsten Akteure, die beteiligten Gremien und gesellschaftlichen Gruppen und die Entscheidungsprozesse. Für den Sozialhistoriker enttäuschend ist, dass Didry die Akteure und ihre Argumente nicht in erster Linie in die intellektuellen Traditionen, die wissenschaftlichen Institutionen und politischen Strukturen der III. Republik einordnet, sondern in ein Klassifikationsschema, das auf den Idealtypen juristischen Denkens der Rechtssoziologie Max Webers basiert. Didry betrachtet diese Idealtypen - die Kadi-Justiz, die Notabeln-Justiz, die Justiz des Wohlfahrsstaates usw. - als ,,mondes possibles du droit", die in Frankreich am Anfang des 20. Jahrhunderts nebeneinander existieren konnten, freilich nicht alle gleichermaßen ,,zugänglich", d.h. auch: wahrscheinlich waren. Die Zuordnung bestimmter Argumente und Denkmuster zu einer dieser möglichen Welten überzeugt nicht immer vollständig; doch ist der Ansatz reizvoll und wäre noch fruchtbarer, wenn auch die tatsächliche politische Zugehörigkeit, die wirtschaftlichen Interessen oder soziale Stellung der jeweiligen Akteure stärker berücksichtigt würde. Auch auf den Vergleich mit dem von Clifford Geetz beschriebenen balinesischen Recht hätte mancher Leser gerne verzichtet, wenn er dafür mehr über die ,,sensibilité légale de la République" erfahren hätte, die Didry in zwei Sätzen abfertigt. Das Rechtsbewusstsein der Republik ist eine der offenen Fragen, zu deren Erforschung Didrys Buch den Weg geebnet hat.

Sabine Rudischhauser, Wien


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