ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Mathieu Deflem, Policing World Society. Historical Foundations of International Police Cooperation, (= Clarendon Studies in Criminology), Oxford University Press, Oxford 2002, 301 S., geb., $ 80,00.

Zum Thema internationale Polizeikooperation fällt jedem sofort das Stichwort Interpol ein. Die Existenz dieser Organisation, die von einem mythischen Schleier umgeben zu sein scheint, wirkt im ersten Augenblick selbstverständlich. So selbstverständlich, dass die historische Forschung zu Polizei und Kriminalität sich bisher kaum mit dem Phänomen der internationalen Polizeikooperation beschäftigt hat. Zwar liegen einige Arbeiten zu Interpol und seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte vor, doch eine systematische Untersuchung über die historischen Bedingungen, Begründungen und Grundlagen fehlte bislang.

Der amerikanische Soziologe Mathieu Deflem hat eine umfassende Darstellung vorgelegt, die insbesondere die Entwicklung internationaler Polizeikooperation seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der USA und Deutschlands nachzeichnet. Die Studie umfasst zudem die Gründung der ,,Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission" (IKPK) - Interpols Vorläuferin - in Wien 1923, deren Übernahme durch Nationalsozialisten ab 1938, sowie die Wiedererrichtung der Organisation 1946. Auf diese Weise wird das breite Spektrum polizeilicher Kooperationspolitik ausgebreitet. Keineswegs, so argumentiert der Verfasser überzeugend, habe es sich um geradlinige Entwicklungen gehandelt, sondern zahlreiche Ansätze und Versuche zur internationalen Polizeikooperation seien zuvor gescheitert. Darunter der ,,Geheime Polizeiverein deutscher Staaten" (1851-1866), die Anti-Anarchisten Konferenz 1898 oder in den USA die ,,International Association of Chiefs of Police" und die ,,International Police Conference" der 1920er-Jahre. Erst die in Wien ins Leben gerufene IKPK führte zu dauerhaften Kooperationsstrukturen, die sich schließlich zur noch heute bestehenden Internationalen Kriminalpolizeilichen Organisation fortentwickelt haben; besser bekannt als Interpol.

Deflems Thesen stützen sich auf Rezeption der Forschungsliteratur und zeitgenössischen Veröffentlichungen sowie auf Recherchen in den National Archives in Washington D.C. Unberücksichtigt blieben europäische Archive, sodass leider manche in der Fachliteratur kolportierte falsche Aussage wiederholt wird z.B. dass die französischen Teilnehmer der Konferenz in Monaco als offizielle Vertreter ihrer Regierung anwesend gewesen wären (S. 108f).

Deflems Ansatz, der die historischen Entstehungsbedingungen internationaler Polizeikooperation mit soziologischen Ansätzen zu ergründen sucht, fußt auf Forschungen zu Bürokratisierung und Organisation auf der Grundlage von Max Webers Überlegungen. Das Gelingen internationaler Kooperation macht Deflem von folgenden Bedingungen abhängig: Erstens müsse die Polizei (relative) Autonomie gegenüber dem Staat besitzen. Zweitens müsse die Polizei sowohl das Expertenwissen über internationales Verbrechen angesammelt haben als auch das internationale Verbrechen als Zielobjekt ihres Tuns formulieren. Voraussetzung dafür sei ein Klima der Internationalisierung. Weitere Bedingung sei, dass nationale Interessen stets von überragender Bedeutung für die Planung und Ausführung internationaler Polizeiaktivität und -organisation gewesen sind (S. 27). Deflem argumentiert, dass der Grad der institutionellen Unabhängigkeit der Polizei von ihrem jeweiligen ,,politischen Zentrum" sowie die Überzeugungskraft des Mythos von einem gemeinsamen Gegner (das internationale Verbrechen) die Wahrscheinlichkeit internationaler Kooperation bestimme.

Der Ansatz verdeutlicht, dass es wichtig ist, die jeweilige Position der Polizeibehörde genauer zu betrachten und auf ihre interne Dynamik sowie auf die Handlungsspielräume gegenüber den vorgesetzten Behörden oder Ministerien zu achten. Deflem betont zudem die Bedeutung informeller Kontakte zwischen Polizeien, wozu auch gegenseitige Informationsbesuche gehörten. Ebenso seien Austausch und Angleichung technischer Hilfsmittel, etwa bei den Erkennungsdiensten, wichtig. Auf diese Weise habe sich eine ,,Polizeikultur" gebildet, auf deren Grundlage internationale Kooperation entstehen konnte.

Die Schwachstellen des Ansatzes liegen in den Prämissen wie in der Beurteilung der zur Begründung herangezogenen Beispiele. Deflem arbeitet mit einem Begriff ,,nationaler" Polizei, der unklar lässt, was gemeint ist. Bei den Unterschieden europäischer Polizeien müsste aber differenziert werden. Durch die modellmäßig pauschalierte ,,Polizei" wird implizit ein stetiger ,,polizeilicher" Willen angenommen, unabhängig davon, ob die politische, die Ordnungs- bzw. Schutz- oder die Kriminalpolizei betrachtet wird. Überhaupt ist der so wichtige Begriff der Autonomie gegenüber dem ,,staatlichen Zentrum" unscharf. Zunächst lässt sich m. E. bei gegenwärtigem Stand der Forschung der Autonomiegrad einer Polizeibehörde im von Deflem gebrauchten Sinn wohl kaum wirklich bestimmen, geschweige denn international vergleichen. Unklar bleibt also, wie ,,autonom" eine Polizeibehörde sein muss, um internationale Kooperation anzustreben. Auch wird das polizeiliche Handeln in Bezug auf internationale Kooperation als Folge gewonnener Autonomie betrachtet obwohl es mit gleicher Berechtigung als ein Effekt von Kooperation gelten kann. Wenig beachtet ist ferner die Rolle inoffizieller Kooperation, die es selbstverständlich gab und gibt.

Jedenfalls wird das ,,Scheitern" dauerhafter Kooperation als Indikator für ,,ungenügende Autonomie" genommen. Auch erscheint die These, dass in Zeiten politischer Unruhe ,,Staat" und ,,Polizei" wieder enger aneinander rücken, wodurch letztere wieder Autonomie aufgibt, nicht überzeugend. So muss Deflem bei dem Beispiel gelungener Kooperation, der IKPK, argumentieren, dass im Spätsommer 1923 bereits eine politische Stabilität in Europa herrschte, die so nicht bestand. Die Annahme einer reinen Fachkonferenz entspricht zudem nicht dem tatsächlichen Befund: es waren zahlreiche Teilnehmer durchaus als Vertreter von Regierungen anwesend, z.B. der Deutsche Reichskommissar Hermann Kuenzer, oder der Kripochef der Sûreté, Etlicher, im Auftrag des französischen Innenministeriums; nur waren diese nicht autorisiert, bindende Beschlüsse einzugehen.

Ungenau bleibt in den Ausführungen, wie überhaupt der Mythos des Phänomens ,,internationales Verbrechen" entstand. Deflem bietet hierfür pauschale Annahmen und verortet die Ansammlung von Expertenwissen vor allem innerhalb der Polizei, womit er nicht nur den Justizapparat und die Kriminalwissenschaften inklusive der Kriminologie als Institutionen der Wissensproduktion zu wenig berücksichtigt, sondern auch die Öffentlichkeit. Die enge Verzahnung von Strafrechtswissenschaft und Polizei, verkörpert durch die leitenden Beamten, die in den meisten großen Polizeibehörden mehrheitlich studierte Juristen waren, ist zudem ausgeblendet.

Unabhängig von den Einwänden und kritischen Bemerkungen sowie der manches Mal zu stark verkürzenden Wiedergabe historischer Fachliteratur inklusive ihrer Fehler, ist Deflems Studie ungemein anregend und lenkt den Blick auf die historischen Grundlagen internationaler Polizeikooperation. Sie zeigt, wie wichtig bei der Entstehung internationaler kooperativer Strukturen behördliche Eigendynamik, Konzeption der Ziele und Mystifizierung der Gegner sind und nicht so sehr - wie im Falle Interpols - eine ,,real" existierende Bedrohung. Selbst wenn das vorgestellte Modell seine Schwächen hat, so gibt es gegenwärtig kein anregenderes Buch zu der Thematik als Policing World Society.

Jens Jäger


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