Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Thorsten Altena, ,,Ein Häuflein Christen mitten in der Heidenwelt des dunklen Erdteils". Zum Selbst- und Fremdverständnis protestantischer Missionare im kolonialen Afrika 1884-1918, (= Internationale Hochschulschriften, Bd. 395), Waxmann Verlag, Münster 2003, kart., 531 S., 44,90 €.
Die Rolle der christlichen Mission bei der kolonialen Expansion der europäischen Mächte ist von der Forschung lange Zeit vor allem im Kontext von Macht und Herrschaft interpretiert worden. Die These von der Instrumentalisierung der Mission für Herrschaftszwecke, von der kalkulierten Erziehung der indigenen Völker zu Gehorsam und Arbeitsfleiß, von der Kolonialisierung der Seelen gewissermaßen, bildete hierbei den einen Pol einer vielstimmigen Debatte. Deren anderer Pol wurde von der gegenteiligen Auffassung beschrieben, dass die Mission nämlich ein notorischer Störenfried im kolonialen Herrschaftssystem gewesen sei, der immer wieder Übergriffe der Kolonialherren angeprangert und zugunsten der Eingeborenen Partei ergriffen habe. Diese Diskussion ist, ohne verstummt zu sein, in den letzten Jahren von neuen Fragestellungen überlagert worden, die im Umfeld der Kulturgeschichte und der Historischen Kulturwissenschaften entstanden sind. Bei der Konfrontation der Kulturen kam der Mission, deren gesamtes Selbstverständnis auf der Vermittlung eines bestimmten Weltentwurfs fußte, selbstverständlich eine prominente Rolle zu. Wie interagierten die Missionsgesellschaften als ,,value-driven organizations" (Jon Miller) mit der indigenen Kultur? Welche Verdrängungs-, aber auch Vermittlungs- oder Verschmelzungseffekte gab es? Und, das ist die Frage von Thorsten Altena, was spielte sich dabei auf der Wahrnehmungsebene ab, wie also definierten die Missionare ihre eigene Identität und die Identität ihres Gegenübers bei dieser interkulturellen Begegnung?
Über das Phänomen der Fremdheit, über den ,,Anderen" und die Herausforderungen und Irritationen, die von seiner Präsenz ausgehen, ist von der kulturwissenschaftlich ansetzenden Kolonialgeschichtsschreibung schon viel geraunt worden. Altenas von Horst Gründer betreute Münsteraner Dissertation gibt sich nicht damit zufrieden, in diesen Chor einzustimmen, indem sie die einschlägigen Begrifflichkeiten aufs Neue inszeniert. Der Autor will es vielmehr genau wissen. Er macht das Selbst- und Fremdverständnis der Missionare zum Gegenstand einer systematischen empirischen Studie, die sich kulturtheoretischer Überhöhungen weitgehend enthält. In der Frage der Methodenwahl ist dieselbe Zurückhaltung zu beobachten: Statt aus dem reichen Fundus der Ansätze zu schöpfen, die für eine im weiteren Sinne bewusstseinsgeschichtliche Studie zur Verfügung ständen (von der Mentalitätsgeschichte über die Wissenssoziologie bis zur Sozialgeschichte der Ideen), begnügt Altena sich damit, in sehr allgemeiner Form vom ,,geistigen Hintergrund" der Missionare zu sprechen - und sogleich zu seinem Gegenstand und zu seinen Quellen überzuleiten.
Missionsstationen wurden bevorzugt auf Hügeln oder Bergen errichtet. Von dort aus sollten sie das Land beherrschen. Zwar wurde diese Herrschaft eher spirituell als politisch gedacht, aber es war doch unverkennbar, dass hier das Vorbild der mittelalterlichen Burg eine große Rolle spielte. Indem die Missionen an diese Tradition anschlossen, erwiesen sie einer vormodernen Welt ihre Referenz, in der das Christentum noch eine überragende Rolle im Leben der Menschen spielte. Altena erkennt in diesem Leitbild ein grundlegendes Element der Weltanschauung der evangelischen Missionare, die in den Kolonien des Deutschen Kaiserreichs in Afrika tätig wurden. In Deutschland stand man im Kampf gegen die Säkularisierung, gegen Kirchenferne, Indifferenz und offene Ungläubigkeit; der schwarze Kontinent wurde zum Projektionsraum für eine gleichsam noch unschuldige Welt, die an jene Formen der Religiosität herangeführt werden konnte, die in Europa längst massiv bedroht waren. Dass dieses Konzept im mentalen Haushalt der Missionare eine so überragende Rolle spielen konnte, hing auch damit zusammen, dass die meisten von ihnen vom Lande stammten. Die biographischen Daten von 371 Missionaren, die Altena akribisch gesammelt hat, machen deutlich, dass für das Gros ein gemeinsames Muster gilt: In einem Dorf oder einer Kleinstadt mit ländlichem Hintergrund aufgewachsen, kleinbürgerliches Elternhaus, zahlreiche Geschwister, dadurch angespannte, oft durch den frühen Tod des Vaters noch zusätzlich verschärfte finanzielle Situation. Die materielle Enge begünstigte die Entstehung einer tiefen Frömmigkeit; die ländliche Umgebung förderte die Kritik an den Missständen des urbanen und modernen Lebens. Der asketische Lebenszuschnitt, der auch dem Missionar abverlangt wurde, war von Jugend auf zur Gewohnheit geworden. Der ländliche Daseinskreis machte den Schritt nach Afrika kleiner, wo es ebenfalls galt, in einer landwirtschaftlich geprägten Welt zurechtzukommen.
Das Wissen um diesen Erfahrungshintergrund der Missionare rückt vieles von dem, was sie in Afrika getan und über Afrikaner geäußert haben, in ein neues Licht. Bisher ist zumeist davon ausgegangen worden, dass dieses Tun und diese Äußerungen in ganz spezifischer Weise auf die indigene Bevölkerung gemünzt waren. Beidem ließ sich folglich entnehmen, wie die Missionare der Kolonialmacht über die kolonisierte Bevölkerung, wie Europäer über Afrikaner dachten und wie sich dieses Denken in Verhalten übersetzte. Die Pointe, die Altena der Kollektivbiografie seiner Missionare abgewinnt, besteht aber nun darin, dass viele Denk- und Verhaltensmuster der betreffenden Akteure bereits in der Heimat entstanden waren und dort auch schon den Umgang mit Deutschen geprägt hatten. Die Notwendigkeit von Arbeit zum Beispiel war den aus kleinen Verhältnissen stammenden späteren Missionaren von Kindheit an selbst eingebläut worden. Sie hätten diese Notwendigkeit auch als Gemeindepfarrer oder Schulmeister in Deutschland ihren Schützlingen vermittelt. Dass die evangelischen Kongregationen in Afrika an der Erziehung der Schwarzen zur Arbeit mitwirkten, verliert aus dieser Perspektive einiges von dem Ruch einer unmittelbar den Interessen und dem Nutzen der Kolonialmacht dienenden, beabsichtigten Manipulation und Schützenhilfe. Bezieht man noch den intellektuellen Bildungsgang der Missionare in den Untersuchungshorizont ein, so lässt sich dieser Befund ausweiten. Viele der betroffenen Männer kamen schon in ihrer Jugend mit der Erweckungsbewegung in Kontakt und schrieben sich selbst Erweckungserlebnisse zu. Oft waren diese Erlebnisse auch der Auslöser für den Entschluss, das Christentum zu den ,,Heiden" bringen zu wollen. Der Habitus, den die ,,Erweckten" entwickelten, war jedenfalls von einem starken Überlegenheitsgefühl gegenüber ihren Mitmenschen geprägt. Man sah sich von Verblendeten umgeben, zu denen Gott noch nicht gesprochen hatte, denen man ein Licht aufzustecken hatte - gerade in den Vorbereitungsjahren auf den Missionsdienst genossen die Anwärter in den Gemeinden fast schon das Ansehen von Heiligen. Das Überlegenheitsgefühl, mit dem sie später den Afrikanern gegenübertraten, war also ebenfalls bereits im Umgang mit Deutschen eingeübt worden und lässt sich interpretatorisch keineswegs auf eine spezifische Attitüde gegenüber Farbigen verengen.
Diese Ergebnisse dürfen freilich nicht dahingehend missverstanden werden, dass es im Wahrnehmungshorizont der Missionare gar keine Unterschiede zwischen den Ethnien gab. Es flossen nur stärker in Deutschland bereits erworbene Stereotype in das Bild der Fremden ein, als die bisherige Forschung vermutet hat. Dabei bewiesen die präexistenten Wahrnehmungsmuster eine erstaunliche Resistenz gegenüber dem Korrekturdruck der Realität. Insgesamt unterscheidet Altena vier grundlegende Deutungsansätze, die das Denken der Missionare beherrschten: Erstens das ,,negativ-intentionale Afrikabild", das eine prinzipielle Unterlegenheit der kolonisierten Völker unterstellte, um die Notwendigkeit der Mission desto deutlicher hervortreten zu lassen; zweitens das ,,positiv-intentionale Afrikabild", das den hohen Entwicklungsstand einer Ethnie hervorhob, um zu demonstrieren, wie erfolgreich die missionarischen Bemühungen schon waren und wie aussichtsreich sie auch in Zukunft noch sein würden; drittens das ,,positiv-relativierte Afrikabild", das den Eigenwert der afrikanischen Kultur durchaus anerkannte und diese Kultur durch das Christentum veredeln, aber nicht völlig zurückdrängen oder gar zerstören wollte; viertens das ,,Volkskirchenkonzept", das die afrikanische Bevölkerung (relativ willkürlich) in verschiedene Völker einteilte, die über eine gemeinsame Sprache definiert wurden und mittelfristig je eigene Volkskirchen hervorbringen sollten.
Im nächsten Schritt geht es darum, die Übersetzung dieser Wahrnehmungsmuster in konkretes missionarisches Handeln zu untersuchen. Auch hier vermeidet Altena voreilige Pauschalisierungen, indem er drei verschiedene Handlungszusammenhänge behandelt, mit denen die Mission in Afrika konfrontiert wurde, anstatt von ,,der" kolonialen Situation im Allgemeinen zu sprechen. Als erster Handlungszusammenhang wird die Konfrontation der Mission mit einer indigenen Sozialordnung untersucht, die nur von einer schwachen politischen Zentralgewalt zusammengehalten wird; an zweiter Stelle geht es um die komplementäre Situation, also die Präsenz eines starken einheimischen Fürsten. Drittens werden die Erfahrungen der Mission in der afrikanischen Stadt in den Blick genommen. Die Ergebnisse, die hierbei anhand jeweils mehrerer Beispiele und auf der Basis minutiöser Archivarbeit erzielt werden, können nicht im Detail referiert werden. Wie das Zusammenspiel von vorgefertigten Meinungen, hiervon abgeleiteten Handlungsstrategien und der Beobachtung von Handlungsfolgen sowie Reaktionen der einheimischen Bevölkerung in den konkreten Interaktionen funktionierte und wie es sich im Zeitverlauf veränderte, ist jedenfalls ein faszinierender Untersuchungsgegenstand. Altena fasst seine Ergebnisse im einem Drei-Stufen-Modell zusammen: Anfänglich sind die Missionare vollständig in den Wahrnehmungsstereotypen befangen, die sie aus der Heimat mitgebracht haben; dann erfolgt ein Realitätsschock, der zur Korrektur dieser Stereotype zwingt; schließlich werden in einem langwierigen Lernprozess neue Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster entwickelt. Die zeitliche Ausdehnung dieser Schritte konnte sich dabei sehr unterschiedlich darstellen. Das Beispiel der Basler Missionare im Kameruner Grasland zeigt, welche fast schon absurde Beharrungskraft vorgefertigte Bilder vom jeweils anderen besitzen konnten - wobei in der Tat auch die Einheimischen einen Mythos von ihrem europäischen Gegenüber kultivierten, der dem ,,Einspruch der Wirklichkeit" notorisch sein Ohr verweigerte. Die Begegnung der Fremden basierte auf einem fundamentalen wechselseitigen Missverstehen, und die größte Überraschung für den Leser besteht darin zu erfahren, wie überaus lange es dauerte, bis aus diesen Fehlperzeptionen der erste Konflikt entstand.
Ob Wahrnehmung und Wirklichkeit so einfach gegeneinander ausgespielt werden können, wie Altena oft suggeriert, darf allerdings bezweifelt werden. Zumindest aus konstruktivistischer Sicht stellt sich diese Beziehung erheblich komplexer dar. Auch hier, wie bei der ausgesprochen linearen Zuordnung von intellektueller Disposition und konkretem Verhalten bei den Missionaren, neigt die Studie zu einem allzu stark schematisierenden Zugriff. Außerdem missfällt die Neigung zu handbuchartiger Vollständigkeit, wo es einer wissenschaftlichen Monographie besser angestanden hätte, ihre Thesen zu bündeln und im Kontext anderer Forschungspositionen zu diskutieren. Umgekehrt resultiert aus der Breite der Stoffpräsentation aber auch ein großer Nutzen für weiterführende Forschungen. Besonders augenfällig wird dieser Nutzen bei der CD-Rom, die dem Werk beiliegt und nicht nur kurze Biographien aller behandelten Missionare und ihres Hilfspersonals, sondern auch ein Verzeichnis sämtlicher Missionsstationen sowie einige Zeitleisten und Fotografien versammelt. Die größte Stärke des Buches liegt aber in der empirisch gesättigten Behandlung eines Themas, das bisher oft nur mit Schlagworten traktiert worden ist. An die Stelle dieser Schlagworte setzt Altena differenzierte Analysen, die ein vielschichtiges Bild der Wahrnehmungsweisen der Missionare und ihrer Interaktion mit den Afrikanern zeichnen. Wer sich künftig mit der Geschichte der deutschen protestantischen Mission in Afrika befassen will, wird diese so kenntnisreiche wie durchdachte Arbeit nicht außer Acht lassen dürfen.
Frank Becker, Münster