ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Katja Patzel-Mattern, Geschichte im Zeichen der Erinnerung. Subjektivität und kulturwissenschaftliche Theoriebildung, (= Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 19), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2002, 339 S., geb., 68,00 €.

Die Dissertation von Katja Patzel-Mattern greift einen Diskussionszusammenhang auf, der für die kulturalistische Geschichtstheorie von zentraler Bedeutung ist. Die Begriffe ,,Erinnerung" und ,,Gedächtnis" sowie die Frage nach einer Objektivität bzw. Subjektivität der Geschichtswissenschaft treiben Historiker seit geraumer Zeit um, ohne dass abzusehen wäre, wann die Forschungslandschaft diesbezüglich als befriedet gelten könnte. Die andauernden Kontroversen sollten dabei allerdings nicht als Krise des Faches begriffen werden, sondern vielmehr als Ausdruck einer innovativen Lebendigkeit, die in Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen einen möglichst hohen Grad an Anschlussfähigkeit gewinnen will. In diesem Zusammenhang versucht die Autorin, Ordnung in die theoretische Fundierung des Erinnerungsbegriffs zu bringen, der zwar im Rahmen kulturgeschichtlicher Ansätze eine prominente Stellung einnimmt, dessen präzise Ausarbeitung und damit zielgerichtete Verwendung in darauf abgestellte Forschungsfragen allerdings bislang recht diffus geblieben waren.

Patzel-Mattern wendet sich zur Klärung des Erinnerungsbegriffs der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zu, als sich ein wissenschaftlicher Diskurs etablierte, der durch die theoretische Hinwendung zum menschlichen Erleben als zentraler Kategorie gekennzeichnet war. Integraler Konnex dieser sogenannten lebensphilosophischen Strömung ist die Annahme, dass der Ausgangspunkt jeder historischen Betrachtung im lebensgeschichtlichen Erinnern der Subjekte liegt. Patzel-Mattern stellt die theoretischen Grundlagen und Diskussionsstrukturen anhand der Analyse ausgewählter Denker vor: ,,Ziel ist es, zum einen die wissenschaftshistorische Bedeutung der Überlegungen in ihrer Zeit, zum anderen ihre Relevanz für die aktuelle Diskussion über die Begründung der Kulturwissenschaften unter dem Paradigma des Gedächtnisses bzw. der Erinnerung aufzuzeigen" (S. 7). Nach Ansicht der Autorin sind nämlich subjektive Erinnerungsprozesse auf individueller Ebene und ihre Bedeutung für die Vergangenheit in den dominierenden Arbeiten zur Gedächtnisthematik von Maurice Halbwachs über Jan Assmann, Peter Burke, Alessandro Cavalli, Jaques LeGoff bis hin zu Thomas Nipperdey, Pierre Nora und Aleida Assmann nicht oder nur unzureichend berücksichtigt.

Die Studie gliedert sich in fünf Abschnitte, wobei die Autorin die Zählung mit Null beginnen lässt: Nach einer Einleitung zu Erinnerung als neues Paradigma der Kulturwissenschaften und dem ersten Kapitel über historische und naturwissenschaftliche Gedächtniskonzepte werden im zweiten Kapitel die verschiedenen Gewährleute für eine subjektorientierte Erinnerungstheorie abgehandelt, nämlich Henri Bergson, Sigmund Freud, Wilhelm Dilthey, Georg Steinhausen, William James und Georg Simmel. Zu allen Autoren wird eine wissenschaftshistorische Einordnung von Lebenslauf, Werk und Rezeption geboten. Im dritten Kapitel versucht Patzel-Mattern, durch eine Synthese der vorgestellten Ansätze eine Ordnung der Begriffe hin zu einer Konzeptionierng eines erinnerungstheoretischen Ansatzes vorzunehmen, bevor das letzte Kapitel unter der Überschrift ,Erinnerung und Geschichte' eine Zusammenfassung bietet.

Die im dritten Kapitel vorgenommene Auflösung der Argumentationsstränge ihrer Bezugsdenker ermöglicht Patzel-Mattern die Systematisierung der Begriffe und die Komposition der so entstandenen Einheiten zu einem neuen Konzept. Sie erweitert den Ansatz um konstruktivistische und pragmatische Versatzstücke, wobei sie sich von radikalkonstruktivistischen Positionen fernzuhalten versucht, um letztlich zu einer Orientierung am sozialkonstruktivistischen Konzept von Peter L. Berger und Thomas Luckmann zu gelangen. Im Ergebnis kommt Patzel-Mattern zu einem erinnerungstheoretischen Konzept, wonach Erinnerung eine selbständige Weise historischen Erkennens darstellt, ,,die sich nicht durch die Addition der Introspektion im Modus der Vergangenheit mit dem gegenwärtigen Erleben erklären lässt. Diese würde eine Identitätsannahme zugrunde legen, die im Eigenen das Allgemeine erkennt. Die Erinnerung hingegen ist durch ihre Prozessualität und permanente Differenzerfahrung definiert. Sie verweist auf die Konstruktivität und Wandelbarkeit historischer Sinnstiftungen, die zur Voraussetzung jeder Form subjektiver und kollektiver Identitätsbildung werden und eröffnet auf diese Weise den Blick auf die Pluralität der Geschichten." (S. 307)

Die Arbeit ist zumeist in gut lesbarem Stil verfasst und mit einem umfangreichen Fußnotenapparat sowie Quellen- und Literaturverzeichnis ausgestattet. Wem eine Kurzfassung des Buches genügt, der halte sich an den ca. 40seitigen Aufsatz der Autorin ,,Jenseits des Wissens - Geschichtswissenschaft zwischen Erinnerung und Erleben" im Sammelband ,,Vom kollektiven Gedächtnis zur Individualisierung der Erinnerung", herausgegeben vom Doktorvater Clemens Wischermann, in dem auch andere Beiträge die These verfolgen, dass und inwiefern das eigene Leben als Zugang zu Geschichte relevant ist.

Frank Buskotte, Osnabrück


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