ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Brang, Ein unbekanntes Russland. Kulturgeschichte vegetarischer Lebensweise von den Anfängen bis zur Gegenwart, Böhlau Verlag, Köln 2002, 471 S., geb., 44,90 €.

Seit mehr als 30 Jahren hat sich die ,,Ernährungsgeschichte" zu einem beachteten Forschungsgebiet entwickelt, dass sich seit der Gründung des Europäischen Instituts für Ernährungsgeschichte 2001 auf dem Weg zur Institutionalisierung befindet. Parallel dazu gibt es seit Ende der 1980er-Jahre Bemühungen, eine interdisziplinäre Kulturwissenschaft des ,,Essens" zu etablieren. Die Geschichtswissenschaft, Germanistik, Psychologie und Kultursoziologie sind neben anderen Disziplinen an diesem Projekt beteiligt.

Für Russland und die Zeit der Sowjetunion gibt es nur wenige Studien über das alle Lebensbereiche betreffende Phänomen ,,Essen". Vor allem interdisziplinär angelegte Arbeiten sind eine Rarität. Umso neugieriger macht das Buch des emeritierten Züricher Slavistikprofessors Peter Brang zur Kulturgeschichte vegetarischer Lebensweisen in Russland, da es genau diese Forschungslücke zur russischen Ernährungsgeschichte im Allgemeinen sowie zum Vegetarismus im Besonderen zu schließen verspricht.

Peter Brang, der selbst seit 1924 vegetarisch lebt, zeichnet in seinem passioniert geschriebenen Buch das Schicksal ,,des Vegetarismus in Russland im Kontext der russischen Kultur- und Literaturenentwicklung" (S. 10) nach. Indem Brang neu erschlossene und neu gelesene Quellen und literarische Texte ausführlich zu Wort kommen lässt, gibt er anhand von Fallbeispielen Einblicke auf die Speiseteller und in die Lebensweise literarischer und künstlerischer Größen. Ausgehend von Lev Tolstoj, der ,,Sonne der vegetarischen Welt", über die Schriftsteller Nikolaj Černyševskij und Nikolaj Leskov bis hin zum Maler Il'ja Repin schildert der Autor in biografischen Skizzen die Motive prominenter Vegetarier für ihren selbst auferlegten Fleischverzicht. Dabei lässt Brang in seinem erzählend angelegten Buch auch berühmte Gegner der fleischlosen Ernährung zu Wort kommen. Der avantgardistische Künstler Vladimir Majakovskij, der rein pflanzlichen Gerichten nichts abgewinnen konnte, ließ sich nach einem Gastmahl bei Repin zu kritisch-bissigen Bemerkungen über die ,,Grasfresserei" hinreißen, ,,Ich esse die Kräuter von Repin - für einen Futuristen von zwei Meter Länge nicht die geeignete Kost."

Im zweiten Teil der Arbeit widmet sich Peter Brang den entstehenden Vegetariervereinigungen, vegetarischen Restaurants und Verlagen, während er im kurzgehaltenen dritten Teil den Vegetarismus in die Zeitläufe einzuordnen versucht. Der erste Weltkrieg bedeutete für alle internationalen Bewegungen einen radikalen Einschnitt, der durch Selbstzweifel und Anfechtungen vertieft wurde. Die bemerkenswerten Fortschritte des russischen Vegetarismus seit 1890 waren durch den Krieg schnell dahin: Papiermangel erschwerte das Erscheinen vegetarischer Zeitschriften und die Lebensmittelknappheit ließ die Kochtöpfe der vegetarischen Restaurants leer bleiben. Nach der Oktoberrevolution 1917 näherte sich der Niedergang vegetarischer Experimente - am Ende der Zwanziger Jahre war die Zeit offen gelebter vegetarischer Lebensstile und Sonderexistenzen vorbei. Nur in ernährungswissenschaftlichen Utopien und der wissenschaftlich-phantastischen Belletristik lebten vegetarische Ideen weiter. Erst die Perestrojka unter Gorbačev ermöglichte ein Wiederaufleben des öffentlich vertretenen Fleischverzichts.

Brangs Kulturgeschichte vegetarischer Lebensweise wird ihrem im Titel formulierten Anspruch nicht wirklich gerecht - dafür fehlt es an theoretischen und methodischen Überlegungen -, doch zeichnet sie sich durch Materialreichtum und einen neuen Blickwinkel aus. Sie lenkt den Fokus nicht nur auf einen wenig bekannten Bereich der russischen Geschichte, sondern setzt auch Altbekanntes in ein neues Licht. Jedoch bekümmert der etwas sorglose Umgang des Slavisten mit literarischen Texten als historische Quellen. Dessen ungeachtet liefert Brangs materialreiche Studie Impulse, das Thema Essen, Speisemeidung und Vegetarismus sowohl für die Osteuropäische Geschichte als auch für die Slavistik fruchtbar zu machen. Bestimmte Punkte, die Brang aufgrund seiner literaturwissenschaftlich geprägten Herangehensweise vernachlässigt hat und für die ihm das methodische Handwerkszeug fehlten, sollten jedoch in Folgestudien intensiver thematisiert und untersucht werden.

Die Gründe für den seit 1890 bewusst vertretenen Vegetarismus, der sich von dem kirchlich-orthodoxen Fasten grundlegend unterscheidet, müssten ausgehend vom Einzelfall in größere Zusammenhänge gestellt werden. Die vom Autor angeführten gesundheitlichen und ethisch-moralischen Beweggründe der jeweiligen Vegetarier für ihren Fleischverzicht fassen die Ursachen für das Erscheinen des ,,modernen" Vegetarismus in Russland nicht hinreichend. Albert Wirz hat 1993 in seiner unkonventionellen Studie über die ,,Moral auf dem Teller" ein mögliches Erklärungsmodell für die sich ändernden Ernährungsformen in Deutschland vorgelegt: er deutet die Ernährungslehre Bircher-Brenners, Grahams und Kellogs als Reaktion auf die durch Industrialisierung hervorgerufenen Umbrüche. In welchem Maße der russische Vegetarismus als gegenkulturelle Bewegung gesehen werden muss, die auf eine als störend empfundene Industrialisierung und Verstädterung reagierte, können nur weitergehende Studien zeigen. Dabei wäre interessant, ob und wie sich die Anhängerschaft der Reformbewegungen, der Gartenstädte sowie des Vegetarismus unterschied oder ob sie ihre Gesinnungsgenossen aus den gleichen Bevölkerungsschichten rekrutierten. Auch soziale Kriterien, die Brang in seiner Arbeit vollkommen vernachlässigt, könnten die Ursachen für das Entstehen von alternativen Lebensstilen näher beleuchten. Art und Weise der Ernährung und Geschmack sind nicht natürlich gegeben, sondern selbst gewählt. Zugleich sind sie Teil der ,,feinen Unterschiede". Als kulturelles und soziales Distinktionsmittel werden sie genutzt, um Gemeinsamkeiten herzustellen und soziale und kulturelle Differenzen zu artikulieren. Eine Auseinandersetzung mit Bourdieu, der eine Korrespondenz zwischen sozialer Lage und geschmacklichen Vorlieben sieht, wäre mit Hilfe des von Brang gesammelten Quellenmaterials auch für eine Interpretation des russischen Vegetarismus fruchtbar. Damit käme man über bloße Faktenpräsentation, wie Brang sie bietet, hinaus.

Ebenfalls wissenswert wäre, welche Rolle andere Differenzierungsmuster wie Geschlecht, Lebensalter, Stadt/Land, Religion, Nationalität und Region für die Wahl einer vegetarischen Ernährungsweise spielten. Für die von Brang geschlussfolgerten Tendenzen fehlen fundierte Belege, zudem sind die Argumentationsstränge nicht immer schlüssig. Warum der Vegetarismus besonders im Südwesten Russlands Fuß fassen konnte, vermag der Autor nicht zu erklären. Auch die Aussage, dass Frauen empfänglicher für vegetarische Ideen waren, steht unbewiesen da und widerspricht gleichfalls der Konzeption des Buches, das unter all den ,,männlichen" Fallstudien nur zwei biografische Skizzen von Frauen vorstellt. In welchem Verhältnis Geschmack, vegetarische Lebensweise, Geschlecht und Geschlechterrollen miteinander verbunden sind, thematisiert Brang nicht. Den Vorschlag des Arztes Zelenkov aus der 1895 erschienenen Broschüre ,,Die Mahlzeiten des Vegetariers", der den Frauen einen leichteren Zugang zu den ,,humanen Prinzipien einer moralisch entwickelten Kulturmenschheit" (S. 316) attestiert, lässt Brang unkommentiert stehen.

Wenig überzeugend bleibt auch der Versuch des Autors, eine Verbindung zwischen Vegetarismus und Nationalität herzustellen. Anhand einer einzigen Zählung in einem Kiever Restaurant hebt er den Anteil der Juden an der Gesamtzahl der Vegetarier im Zarenreich hervor. Wieweit sich die Zahlen auf das gesamte Land übertragen lassen und welche Rolle die jüdischen Speisegebote für die Wahl einer vegetarischen Lebensweise spielten, führt er nicht aus. Stattdessen äußert er die unbewiesene Vermutung, dass sich der hohe Anteil von Juden unter den Vegetariern zu einer ,,Belastung" für die Gesamtbewegung entwickelte.

Begreift man den russischen Vegetarismus als eine antihierarchische und gegenkulturelle Bewegung, so werden die Schwierigkeiten eines offen gelebten Vegetarismus nach 1917 verständlich. Dass die Vegetariervereinigungen und vegetarische Restaurants im sowjetischen Alltag keinen Platz hatten, erstaunt kaum. Interessanter wäre stattdessen, ob der Einzelne seinen individuellen Lebensstil verteidigen konnte oder ob angesichts eines in alle Lebensbereiche eingreifenden Staates auch die eigene Einstellung zur Ernährung preisgegeben werden musste. Während für das späte Zarenreich die Motive der einzelnen Vegetarier deutlich dargestellt sind, vermisst man in Brangs Buch für die Zeit nach 1917 eine ähnliche Quellenbreite.

Auch für eine sich als Kulturwissenschaft begreifende Slavistik könnte die Studie Brangs als Sprungbrett dienen, um ,,Essen" und ,,Ernährung" als Phänomene zu untersuchen. Die zahlreichen vegetarisch lebenden Dichter, Schriftsteller und Künstler, die in ihren Werken Themen wie Fleischverzicht behandelten, bieten dafür eine gute Grundlage. So könnte man noch intensiver als in der vorliegenden Untersuchung auf die symbolische Qualität von Mahlzeiten, Ernährung und einzelnen Speisen eingehen. Ebenso eignet sich das Thema Vegetarismus, um aufzuzeigen, wie Identität und Alterität nicht nur durch Praxis, sondern auch durch Diskurse und Narrative hergestellt werden.

Brangs ,,Kulturgeschichte vegetarischer Lebensweisen" öffnet die Türen zu einem ,,unbekannten Russland". Es bietet durch seinen Quellenreichtum eine gute Grundlage, um in weiteren Studien über den slavistisch-literaturwissenschaftlichen Tellerrand hinauszublicken und das Thema Essen und Ernährung auch für den russischen Raum interdisziplinär zu bearbeiten. Methodische Beilagen aus anderen Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Ethnologie, Germanistik und Soziologie müssten jedoch in einer Kulturgeschichte vegetarischer Lebensweisen, die diesen Anspruch nicht nur im Titel führt, eingebunden werden.

Bisher dürfte Brangs Arbeit nur einigen Slavisten, enthusiastischen Vegetariern und Tolstojliebhabern, die ihren ,,Helden" auch auf den fleischlos gefüllten Teller blicken wollen, ein sättigendes Lesevergnügen bescheren.

Julia Herzberg, Köln


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