ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolfgang Schröder, Bernhard Weßels (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003, 725 S., kart., 42,90 €.

Die deutschen Gewerkschaften befinden sich gegenwärtig wohl in der schwierigsten Umbruchphase seit dem Zweiten Weltkrieg. Mitgliederschwund (seit 1991 haben die im Deutschen Gewerkschaftsbund zusammengeschlossenen Arbeitnehmerverbände 4,1 Millionen Mitglieder verloren), wachsende Außenseiterkonkurrenz durch tarifungebundene Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Erosion des Flächentarifvertrags, Anpassungszwänge im Zuge von Tertiarisierung und Globalisierung - all das sind Entwicklungen, die wohl jede Diskussion in und über Gewerkschaften beherrschen. Stellvertretend sei auf das im Herbst 2003 von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichte Themenheft zur Zukunft der Gewerkschaften hingewiesen (siehe ,,Aus Politik und Zeitgeschichte", Heft 47-48/2003).

Wie alle kollektiven Großorganisationen - man denke an die politischen Parteien oder Kirchen - benötigen auch die Gewerkschaften Zeit, um sich an den Wandel anzupassen. Der Soziologe Bernhard Ebbinghaus hat die Gewerkschaften mit ,,Dinosauriern" verglichen, ohne ihnen allerdings dasselbe Schicksal wie den Giganten der Urzeit vorherzusagen. Der Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler geht einen Schritt weiter und sieht in den Gewerkschaften ,,konservative Besitzstandswahrer", mit denen grundlegende Reformen nicht zu bewerkstelligen seien.

Tatsächlich bewegen sich die Gewerkschaften, wenn auch behutsam. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls, wenn man das von Wolfgang Schröder (Politikwissenschaftler an der Universität Frankfurt und Ressortleiter bei der IG Metall) und Bernhard Weßels (Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin und am Wissenschaftszentrum Berlin) herausgegebene ,,Gewerkschaftshandbuch" studiert. Den Herausgebern ist es gelungen, eine große Zahl von Experten zu gewinnen, um (fast) alle Facetten rund um ,,die Gewerkschaften" kompetent zu durchleuchten.

Das Buch ist in fünf Abschnitte untergliedert:

Kapitel 1 ist der Geschichte und den Funktionen der Gewerkschaften gewidmet. Klaus Schönhoven (Zeithistoriker an der Universität Mannheim) führt in die Gewerkschaftstheorie und die Gewerkschaftsgeschichte ein. Josef Esser (Politikwissenschaftler an der Universität Frankfurt/Main) befasst sich mit der Funktion und dem Funktionswandel der Gewerkschaften in Deutschland. Unter anderem macht Esser den angesprochenen Mitgliederrückgang als Funktionsdefizit aus, der die Einflusslogik der Arbeitnehmerorganisationen und damit auch den Bestand des gesamten deutschen Systems der industriellen Beziehungen gefährden könne. Im dritten Beitrag lenkt Wolfgang Streeck (Soziologe an der Universität zu Köln und am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln) den Blick auf die Gewerkschaften der westeuropäischen Nachbarländer und zeigt - ausgehend von der heterogenen ökonomischen Ausgangslage im 19. Jahrhundert - Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf.

Kapitel 2 widmet sich dem Thema ,,gewerkschaftliche Organisation". Anke Hassel (Soziologin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln) gibt in ihrem Beitrag einen Überblick über die Organisationsprinzipien der deutschen Gewerkschaften, einen Einblick in deren Finanzierung und Aufbau und schaut zurück auf deren unternehmerische Aktivitäten. Hans-Peter Müller und Manfred Wilke (Soziologen an der Fachhochschule für Wirtschaft Berlin) setzen sich mit den Reorganisationsprozessen der Arbeitnehmervertretungen auseinander, Thomas Blanke (Rechtswissenschaftler an der Universität Oldenburg) befasst sich mit rechtlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen, unter denen die Gewerkschaften agieren, Bernhard Ebbinghaus (Soziologe am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln) skizziert die Mitgliederentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg und untersucht deren Ursachen, Gregor Asshoff (Hauptabteilungsleiter in der IG BAU) schaut in die innere Rechtsverfassung und Jürgen Prott (Soziologe an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik) auf die Funktionäre der Gewerkschaften.

Kapitel 3 geht auf das wirtschaftliche und politische Umfeld der Gewerkschaften ein. Wolfgang Schröder und Stephen S. Silvia (Industrial-Relations-Forscher an der American University, Washington D.C.) befassen sich ausführlich mit der ,,Gegenmacht": den Arbeitgeberverbänden. Dabei vergleichen sie die Organisationsstrukturen von Arbeitgeberverbänden und Arbeitnehmervereinigungen und kommen zu dem aufschlussreichen Befund, ,,dass die Arbeitgeberverbände eher dem Typus der dezentral orientierten, überschaubaren Honoratiorenpartei entsprechen, während die Gewerkschaften als zentral ausgerichtete, intermediäre Massenorganisationen mit oligarchischer Führungsstruktur agieren". Welches das überlegene Organisationsmodell ist, bleibt allerdings offen. Die Autoren verweisen auf empirische Studien, wonach sich Arbeitgeberverbände zwar leichter und schneller gründen ließen, aber größere Probleme als die Gewerkschaften hätten, sich die Loyalität ihrer Mitglieder zu sichern. Letztlich würden institutionelle Unzulänglichkeiten und interne Widersprüche die Durchsetzungsfähigkeit der Arbeitgeberverbände in Kollektivverhandlungen untergraben. Dieser Befund ist vor allem deshalb erwähnenswert, weil er nicht so ganz zu der von den Gewerkschaften und gewerkschaftsnahen Forschungseinrichtungen beklagten ,,mageren Verteilungsbilanz" seit Mitte der Neunzigerjahre passt. Im Weiteren blickt Josef Schmid (Politikwissenschaftler an der Universität Tübingen) auf die subnationalen Gliederungen der Gewerkschaften, Helmut Wiesenthal (Politikwissenschaftler an der Berliner Humboldt-Universität) und Ralf Clasen (Referent für Politikanalyse an der Botschaft von Neuseeland) gehen der Frage nach, ob die Gewerkschaften ihre Gestaltungsmacht in Politik und Gesellschaft aufgegeben und stattdessen die Rolle des Traditionswächters übernommen haben, und Bernhard Weßels befasst sich mit der Rolle der Gewerkschaften in der Mediengesellschaft.

Kapitel 4 widmet sich den gewerkschaftlichen Politik- und Handlungsfeldern. Jürgen Kädtler (Soziologe an der Universität Göttingen) führt in die Tarifpolitik und das tarifpolitische System Deutschlands ein. Dieter Döring (Sozialwissenschaftler an der Universität Frankfurt) und Thomas Koch (freiberuflicher Sozialwissenschaftler und Personalberater) stellen dar, welche Funktionen die Gewerkschaften in einem Sozialstaat übernehmen, und diskutieren deren Mitwirkung in den Organisationen der sozialen Sicherung. Wolfram Wassermann (Büro für Sozialforschung Kassel) beleuchtet die gewerkschaftlichen Aktivitäten auf der Betriebsebene, Peter Jansen (freiberuflicher Industrial-Relations-Forscher) und Ulrich Jürgens (Sozialforscher am Wissenschaftszentrum Berlin) setzen sich mit den industriepolitischen Zielsetzungen der Arbeitnehmervertretungen auseinander, Walther Müller-Jentsch (emeritierter Soziologe an der Universität Bochum) führt in die Mitbestimmungspolitik ein, und Friedhelm Boll (Historiker am Institut für Sozialgeschichte Braunschweig/Bonn) widmet sich dem Thema ,,Streik und Aussperrung".

Kapitel 5 wirft einen Blick auf das internationale Umfeld. Werner Reutter (Philologe an der University of Minnesota) und Peter Rütters (Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin) befassen sich mit den Strukturen und Aktivitäten internationaler Gewerkschaftsorganisationen, Franz Traxler (Wirtschaftssoziologe an der Universität Wien) vergleicht die inter- und innerverbandliche Struktur der wichtigen westeuropäischen Gewerkschaftsbünde, Wolfgang Schröder und Rainer Weinert (Soziologe an der Freien Universität Berlin) loten die Möglichkeiten einer Europäisierung der Tarifpolitik und deren Auswirkungen auf die deutschen Tarifbeziehungen aus, Wolfgang Lecher (Soziologe im Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung) und Hans-Werner Platzer (Sozialwissenschaftler an der Fachhochschule Fulda) befassen sich ausführlich mit Europäischen Betriebsräten.

Ergänzt wird der umfassende Textteil durch einen sorgsam aufbereiteten Tabellenanhang. Neben zahlreichen Angaben zum Mitgliederstand und zur Mitgliederentwicklung der wichtigsten Arbeitnehmerorganisationen findet man unter anderem auch verschiedene personelle Angaben, hilfreiche Informationen zur Tarifpolitik und zu tarifpolitischen Regelungen und die Adressen wichtiger Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen. Der aus zwei Übersichten bestehende internationale Vergleich (Lohnverhandlungsebenen und Tarifbindung in der EU, USA und Japan) ist leider etwas knapp geraten. Hervorzuheben ist eine für den Leser überaus hilfreiche Einführung in verschiedene Messkonzepte des gewerkschaftlichen Organisationsgrades.

Insgesamt haben die Herausgeber damit ein Handbuch über die Gewerkschaftsbewegung vorgelegt, das derzeit kein deutschsprachiges Pendant hat. Die Einleitung bietet zusammen mit den 23 Einzelaufsätzen eine thematische Vielfalt, die nur wenige Wünsche offen lässt. Dabei ist es den Herausgebern gelungen, die Aufsätze sinnvoll zu bündeln. Thematische Überschneidungen sind trotz der großen Zahl an Beiträgen gering, allerdings wäre eine engere Verzahnung durch mehr Querverweise wünschenswert gewesen.

Inhaltlich ist anzumerken, dass die historische Analyse in Kapitel 1 vor der deutsch-deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 überraschend abbricht. Erst im Ausblick des Beitrags wird das Problem der Integration des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes in den DGB und die in den Neunzigerjahren einsetzende Fusionswelle der Gewerkschaften angesprochen, ohne hierauf tiefer einzugehen. Falls Überschneidungen mit dem Beitrag zum Thema ,,Gewerkschaftsfusionen" in Kapitel 2 vermieden werden sollten, wäre zumindest ein Literaturhinweis angebracht gewesen. Bei der Analyse der Tarifpolitik und des tarifpolitischen Systems vermisst man angesichts der fortschreitenden Alterung der Gesellschaft, die zu einem sinkenden Erwerbspersonenpotenzial und zu älteren Belegschaften führen wird, einen Abschnitt zum Thema ,,Tarifpolitik und demographischer Wandel". Dies gilt umso mehr, als sich die Schrumpfung der Gesellschaft langfristig auch auf die Gewerkschaften auswirkt. Wolfgang Streeck hat hierfür den Begriff ,,Gewerkschaften vor dem Endspiel" geprägt: Hält der Mitgliederverlust unvermindert an - sei es auch allein demographisch bedingt -, steuern die Arbeitnehmerorganisationen auf eine kritische Mitgliedermasse zu, die ihre Handlungsfähigkeit und damit auch das deutsche Lohnfindungssystem grundlegend in Frage stellt.

In Bezug auf die Auswahl der Themen ist anzufügen, dass Gewerkschaften ein interdisziplinäres Forschungsfeld darstellen, das sich nicht auf soziologische, historische und politikwissenschaftliche Ansätze beschränkt. Gewerkschaften spielen auch in der ökonomischen Theorie eine wichtige Rolle. Ausgehend von den Ideen angelsächsischer und skandinavischer Forscher wie zum Beispiel Andrew S. Oswald, Assar Lindbeck oder Dennis Snower hätte man sich eine Einführung in ökonomische Modelle des Gewerkschaftsverhaltens gewünscht. Neben der Frage nach den allokationstheoretischen und wohlfahrtsökonomischen Auswirkungen eines nicht wettbewerblich organisierten Arbeitsmarktes widmen sich ökonomische Modelle des Gewerkschaftsverhaltens auch der Frage nach der Optimalität verschiedener Verhandlungsformen (Stichworte sind: gewerkschaftliches Monopolmodell, Verhandlungsmodell, effiziente Verhandlungen). Hierzu liefert das ebenfalls im Herbst 2003 veröffentlichte ,,International Handbook of Trade Unions", herausgegeben von John T. Addison (Volkswirt an der University of South Carolina) und Claus Schnabel (Volkswirt an der Universität Erlangen-Nürnberg), einen eindrucksvollen Überblick.

Der Titel des Buches ,,Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland" lässt den unvoreingenommenen Leser nicht erwarten, dass umfassende internationale Vergleiche gezogen werden. Gleichwohl enthält das Buch mehrere Beiträge, mit denen die ,,nationale Dimension" gesprengt wird. In einer weltweit verflochtenen Wirtschaft bleibt das Handeln aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteure nun einmal nicht unbeeinflusst von internationalen Entwicklungen. Aufgrund des ähnlichen historisch-politischen Hintergrunds ist es auch durchaus nachvollziehbar, dass sich die international vergleichenden Analysen des Buches auf Westeuropa beschränken. Angesichts der EU-Osterweiterung hätte man sich aber dennoch einen Blick nach Mittel- und Osteuropa gewünscht. Gerade vor dem Hintergrund der Diskussion über eine ,,Europäisierung der Tarifpolitik", die eine grenzüberschreitende Koordinierung der nationalen Gewerkschaften voraussetzt, sollte nicht übersehen werden, dass sich die Arbeitsbeziehungen in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern wesentlich von denen der kontinentaleuropäischen Staaten unterscheiden und gegenwärtig noch kein allgemeiner Konvergenzprozess in Richtung kontinentaleuropäisches Modell (sektorale Tarifverhandlungen, hohe Tarifbindung, relativ starke Dachverbände) abzeichnet. Eine Analyse der Umstrukturierungen und Neugründung von Gewerkschaften nach dem Fall des ,,Eisernen Vorhangs" hätte auch in die derzeit länderübergreifend geführte Debatte über eine ,,Revitalisierung" der Gewerkschaften eingebettet werden können (zum Stand der Revitalisierungsdebatte siehe zum Beispiel das Schwerpunktheft des European Journal of Industrial Relations, Vol. 9 No. 1 vom März 2003).

Schließlich werden viele Leser und vor allem Leserinnen einen Beitrag zum Thema ,,Gewerkschaften und Frauen" vermissen. Der Blick auf die Mitgliederstruktur der Gewerkschaften und noch mehr auf die Bilder der Gewerkschaftsvorsitzenden im Anhang zeigt, dass Gewerkschaften eine Domäne der Männer sind. Monika Wulf-Matthies, von 1982 bis 1994 Vorsitzende der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr, ist die einzige Frau, die in die ,,Männerherrschaft" einbrechen konnte. Dies bedarf einer tieferen Diskussion.

Diese Anmerkungen sollen aber nicht den positiven Gesamteindruck des ,,Gewerkschaftshandbuchs" schmälern. Für den politisch interessierten Laien ist das Buch ebenso aufschlussreich wie für den Industrial-Relations-Forscher. Den Herausgebern und Autoren des Buches ist deshalb zu wünschen, dass sie viele Leser ansprechen werden und einige Anregungen in einer zweiten Auflage aufgreifen können.

Hagen Lesch, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln


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