ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, C.H. Beck Verlag, München 2003, 1.173 S., geb., 49,90 €.

In Hans-Ulrich Wehlers viertem Band der ,,Deutschen Gesellschaftsgeschichte" geht es um nicht weniger als um den Versuch einer deutenden Darstellung der wohl schwierigsten Jahrzehnte der deutschen Geschichte, und zwar nicht in einem perspektivisch fokussierenden Zugriff, sondern mit dem Anspruch, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung in den Blick zu nehmen. Das mutet, denkt man alleine an die Unterschiedlichkeit der Staats- und Gesellschaftsordnungen, die - vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und das ,,Dritte Reich" zum Besatzungsregime nach 1945 - zu entfalten sind, recht vermessen an. Und dennoch ist das Vorhaben, so viel sei schon hier verraten, grundsätzlich als gelungen zu betrachten.

Gesellschaftsgeschichte meint bei Wehler nicht die Abbildung der Entwicklung aller bzw. assoziativ oder zufällig ausgewählter Lebensbereiche. Vielmehr benennt er vier ,,Zentraldimensionen", die ihm die Strukturierung des ,,Komplexphänomens Gesellschaft" gestatten: Wirtschaft, Sozialstruktur, politische Herrschaft und Kultur. Die Geschichte wird entlang dieser ,,Achsen" nun nicht ,,erzählt", sondern eher konstruiert und analysiert. Theoriegeleitete Sozial- als Gesellschaftsgeschichte präsentiert sich als Integrationswissenschaft, in der soziale und wirtschaftliche wie politische und auch politisch-kulturelle Entwicklungstendenzen, Kontinuitäten und Brüche hochkomprimiert zusammengefasst werden. Dass Wehler in der Einleitung darauf verweist, angesichts seiner zunehmenden Bedeutung hätte auch die Achse des ,,Rechts" in den Rang einer eigenständigen historischen Dimension gehoben werden sollen (S. XVIIf.), entspricht zwar der politisch-historischen Realität, benennt aber dank der Berücksichtigung dieser Fragen im Gesamtkontext der Darstellung ein weniger ins Gewicht fallendes Desiderat.

Grundprinzip der Gliederung ist ein chronologischer Aufbau, d.h. die einzelnen Epochen werden nacheinander und jeweils für sich beleuchtet. Der die Fülle der Informationen mit Hilfe der Leitsektoren strukturierende Zugriff zeigt sich erst in der Binnengliederung. Dabei zeichnet es die Arbeit aus, dass diese ,,Grunddimensionen" nicht schematisch für jede Epoche in gleicher Weise angeordnet und gewichtet werden. Um den ,,Charakter" einer Zeitphase wirklich adäquat zu beschreiben und zu bestimmen, wird das Konzept flexibel genutzt: So treten - je nach historischer Phase - mal die wirtschaftlichen, mal die politischen Faktoren als dominierende in den Vordergrund. Diese Gewichtung wird schon im Binnenaufbau der Teile deutlich und prägt zudem die Argumentation vor allem in den zusammenfassenden Zwischenbilanzen.

Diese Zwischenbilanzen beschränken sich nicht auf die Kurzzusammenfassung der bisherigen Ergebnisse Wehlers, sondern sie bieten Antworten auf übergeordnete Fragestellungen. Da geht es zum Beispiel um die Erfahrung des Ersten Weltkriegs, um die (angeblichen) Modernisierungsleistungen des ,,Dritten Reichs" und um die Einschätzung der ,,Restaurations"-Tendenzen" nach dem Zweiten Weltkrieg. Überhaupt bietet der Band eine Einordnung des ,,deutschen ,Zeitalters der Extreme'" in die Kontinuität der deutschen Geschichte, wobei ausdrücklich an der ,,Sonderwegs-These" festgehalten wird. Dass der Begriff des deutschen Sonderfalls bzw. -wegs mal als wissenschaftliches Erklärungsinstrument und mal als zeitgenössische ,,Fata Morgana" erscheint, die mit dem Untergang des ,,Dritten Reichs" endgültig aufgegeben worden sei (S. 981), hätte indessen präziser differenziert werden können. Auch fragt sich, ob die Annahme eines deutschen ,,Sonderfalls", die mit den Hinweisen auf die Herausbildung eines ,,hochideologisierten Klassenbewußtseins" (S. 987) und auf die Ausprägung des ,,deutschen Nationalismus" (S. 989) untermauert wird, so entschieden verfochten werden kann, ohne die Entwicklung anderer Industriestaaten, die zwar nicht unter einer Niederlage im Ersten Weltkrieg, wohl aber - wie Deutschland - unter Kriegs(folge)lasten und vor allem der Weltwirtschaftskrise der 1920er/1930er Jahre zu leiden hatten, als ,,Normalfall" zu thematisieren.

Angesichts der Fülle von Informationen kann es hier kaum darum gehen, einige Einzelergebnisse herauszugreifen und zu referieren. Vielmehr sollen hier einige Kernaussagen beleuchtet werden, die den Gesamtduktus der Argumentation deutlich machen. Eine Art Gravitationszentrum der Darstellung ist der Erste Weltkrieg, der als ,,Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts, auch als Ausgangspunkt des ,,Zeitalters der Extreme" erscheint. Dabei misst Wehler insbesondere den deutschen Kriegszielen bzw. deren sozialen Trägergruppen eine zentrale Bedeutung zu. Präzise und manchmal auch mit Schärfe werden die Verfechter der expansionistischen Kriegsziele markiert, die sich keineswegs nur in den nationalistischen bzw. konservativen Kreisen der Kaiserreichs-Eliten fanden. Hier - wie in der Weigerung, die Kriegsniederlage zu akzeptieren - zeichneten sich die fortdauernd wirksamen Interessen ab, an deren Verabsolutierung die Weimarer Republik krankte und die schließlich mit dem ,,Dritten Reich" einen erneuten Auftrieb erhielten. So wird die Politik von Reichswehroffizieren, Repräsentanten der schwerindustriellen Unternehmerschaft und der ostelbischen Großagrarier scharf gegeißelt, seien sie doch die ,,Steigbügelhalter" Hitlers auf dem Weg zur Macht gewesen. (S. 580ff. u. 588ff.) Überhaupt werden die Kontinuitätslinien, die in Wirtschaft, Kultur und Politik bis ins ,,Dritte Reich" führten, deutlich betont, werden also die sich zunehmend dichter vernetzenden Kontinuitätslinien nachgezeichnet, ohne indessen der Versuchung zu erliegen, Aufstieg und Durchsetzung der Nationalsozialisten als zwangsläufiges Ergebnis der deutschen Geschichte zu interpretieren. Allerdings bleiben die gegenläufigen Tendenzen der Entwicklung, der ,,Versuch in Demokratie" und der Aufbau der Sozialstaatlichkeit, die die Weimarer Republik eben auch bedeuteten, recht blass; so stehen für den Ausbau der sozialstaatlichen Entwicklung (zusammen mit der Schilderung der Probleme und Krisen) knapp sieben Seiten zur Verfügung (S. 428-434).

Wehler sieht das ,,Dritte Reich" - völlig zu Recht - unter dem Primat des Politischen; diese Betrachtung wird durch die herausragende Rolle verstärkt, die er der Person Hitlers mit dem Interpretament der ,,charismatischen Herrschaft" zumisst. Dabei nimmt er keineswegs nur persönliche Ausstrahlung und Politik Hitlers, die nicht zuletzt durch die Propaganda mythisch überhöht wurden, in den Blick, sondern immer auch die andere Seite, die der Rezipienten. ,,Charismatische Herrschaft" ist also ein Beziehungsgeflecht, in dem ,,oben" und ,,unten", ,,Führer" und ,,Volk" miteinander verbunden waren. (S. 597f., 992) So weit ist der Erklärungsansatz Wehlers gewiss nachvollziehbar, nimmt er doch neuere Forschungsergebnisse zu Einstellung und Verhalten der großen Mehrheit der Deutschen auf. Dass die nationalsozialistische Herrschaft keineswegs nur auf Terror, auf Unterdrückung und Einschüchterung, auch nicht vor allem oder gar alleine auf der Verführung durch Propaganda gegründet war, sondern dass sich ein Großteil der deutschen ,,Volksgenossinnen und -genossen" durchaus von wirtschaftlichem Aufstieg, sozialen Wohltaten und außenpolitischen Erfolgen beeindruckt zeigte, wird mit aller Deutlichkeit herausgearbeitet. Dass Wehler dann freilich sehr entschiedene, vielfach auch pauschale Urteile über ,,die" Folgebereitschaft, wenn nicht Begeisterung ,,der" Deutschen fällt, bedeutet einen Rückfall hinter den bereits erreichten Forschungsstand. Dazu nur einige Beispiele: So wird das Ergebnis der Reichstagswahlen bzw. Volksabstimmungen 1936 und 1938 - rund 99 Prozent stimmten für Hitler - unbefragt in die Argumentation eingebunden. (S. 621ff.) Dazu heißt es resümierend: ,,Die Ergebnisse der Plebiszite, die mit erdrückender Mehrheit die Führerherrschaft bestätigten, beruhten nicht auf Fälschung, sondern spiegelten ziemlich realitätsgetreu die enthusiastische Zustimmung wider." (S. 993) Und in den Gesichtern von Frauen, die man in einem Riefenstahl-Film Hitler zujubeln sieht, entdeckt Wehler ,,orgiastische Verzückung". (S. 758) Zumindest ein relativierendes Wort zum Quellenwert der offiziellen Daten und auch der Propaganda-Medien wäre angebracht gewesen, wenn nicht gar Überlegungen zur ,,Struktur der Öffentlichkeit" in der Diktatur. Gerade im Hinblick auf die Analyse der Verarbeitung von sozio-ökonomischem Wandel und politischen Erfahrungen und deren Folgen für individuelle politische Einstellungen und Verhaltensformen hätte eine politische Sozial- als Gesellschaftsgeschichte ihre Erklärungskraft unter Beweis stellen können, vielleicht auch müssen.

Hitler rückt als Person in den Mittelpunkt der Argumentation, stand er doch - wie immer wieder betont wird - ,,im Zentrum der Macht", hatte er doch eine ,,Schlüsselrolle". (S. 599) Nun ist es wohl kaum umstritten, dass Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus nicht ohne Hitler erklärt werden können; doch es fragt sich, ob Wehler die Bedeutung der Person Hitlers nicht zu sehr betont, wenn er ihn als Motor nahezu aller politischen Maßnahmen versteht - bis hin zum Massenmord. Auch wenn Erklärungen, nach denen der Massenmord an den europäischen Juden sozusagen zwangsläufig aus Kriegsfolgeproblemen erwachsen sei, mit Recht zurückgewiesen werden, weil sie die in ihrer Brutalität nicht zu überbietenden programmatischen Ankündigungen Hitlers und seiner Gefolgsleute außer Acht lassen, bedeutet das nicht, dass umgekehrt Hitler der wichtigste Motor der Judenverfolgung und -Ermordung gewesen sei: Für Wehler ist entschieden, dass Hitler ,,insgeheim" als ,,vorantreibender Initiator aller bösartigen Schikanen" wirkte und dass er ,,seit 1933 an allen antijüdischen Maßnahmen entscheidend beteiligt" gewesen sei. (S. 655) Diese Urteile werden indessen dadurch relativiert, dass Wehler letztlich - realistischerweise - davon ausgeht, dass die politischen Entscheidungen Ergebnisse eines zwar immer an Hitlers Willen rückgekoppelten, indessen nicht immer von ihm initiierten Prozesses waren, in dessen Verlauf - als die Nationalsozialisten die Möglichkeit dazu hatten - die programmatischen Ziele umgesetzt wurden, und zwar mit Wissen, Duldung und Beteiligung einer Vielzahl von Menschen. (S. 663f.)

Gerade im Hinblick auf die Einordnung der Entwicklungstendenzen des ,,Dritten Reichs" bewährt sich Wehlers präzises begriffliches und methodisches Vorgehen, so z.B., wenn es um die Einschätzung der dem Nationalsozialismus bzw. dem ,,Dritten Reich" zugeschriebenen ,,Modernisierungsleistungen" geht. Ausgehend von einem klaren Raster von Indikatoren, die zur Beurteilung des Modernisierungsgrades einer Gesellschaft herangezogen werden, kommt er zu dem Ergebnis, dass dem ,,Dritten Reich" zwar in einzelnen Lebensbereichen die Fortführung von modernen, auch modernisierenden Maßnahmen bzw. Trends zu attestieren sei, dass aber insgesamt keineswegs von einer durch die Nationalsozialisten intendierten bzw. vorangetriebenen gesamtgesellschaftlichen Modernisierung gesprochen werden könne. (S. 781ff., 991)

Bei aller Hochachtung vor der synthetisierenden Leistung dieses Werkes seien doch einige grundsätzliche Probleme angesprochen: Auffallend ist zunächst, dass sich Wehler im Hinblick auf das historische Urteil schon in der Einleitung von ,,grauen Abschattierungen" distanziert und stattdessen dem klaren ,,Schwarz und Weiß" das Wort redet. (S. XXI) Das führt zu einem Rigorismus des Urteils, das nicht immer als subjektiv kenntlich gemacht wird, sondern das sich vielmehr oftmals in das Gewand wissenschaftlicher Unangreifbarkeit hüllt. Im Hinblick auf die Einschätzung der ,,Öffentlichkeit" im ,,Dritten Reich" wurde auf dieses Problem hingewiesen. Sodann fallen Begriffe auf, die man in einer hoch komprimierten, durchweg präzise argumentierenden Analyse weniger erwartet: So ist bei der Klärung der Voraussetzungen für den Siegeslauf der Nationalsozialisten von einem ,,Hexenkessel der politischen Phobien" (S. 483) bzw. von einem ,,wahren Hexenkessel der politischen Theorien und Phobien" (S. 485) die Rede. Das ,,Dritte Reich" schließlich erscheint als ,,Reich der niederen Dämonen". (S. 739) Diese Begrifflichkeit mag als Hinweis auf den Erfahrungshorizont der Zeitgenossen gelten können, hat aber nur wenig Analysekraft vom Standpunkt des heutigen Historikers aus und verdunkelt die Analyse eher. Schließlich sei noch erwähnt, dass Wehler überdies aktualpolitische Stellungnahmen in seine Darstellung einstreut, die mit dem Gestus vorgängiger wissenschaftlicher Kontinuitätsanalyse vorgetragen werden. So bescheinigt er dem ,,System des deutschen Korporativismus", gekennzeichnet durch die ,,enge Kooperation von Wirtschaftsverbänden, Staatsbürokratie und parlamentarischen Expertengremien", eine ,,Anpassungselastizität unter denkbar unterschiedlichen politischen Bedingungen" und schließt daraus: ,,Wegen der Bürde dieses Erfolgs, der ihre Reformfähigkeit allmählich erdrückte, sollte freilich die Bundesrepublik seit den 1980er Jahren ihre Flexibilität und Selbststeuerungskapazität Schritt für Schritt verlieren." (S. 987) Und bezogen auf die ,,Wende" 1989/90 vermerkt Wehler befriedigt, dass diese ,,weder von nationaler Euphorie begleitet noch zum auslösenden Anlaß eines neuen, aufgeplusterten Nationalismus im wiederum größten Staat Europas" geworden sei; und er fährt fort: ,,Nichts spricht dafür, die ,Wende' von 1989/90 als Rückkehr zur vermeintlichen Normalität des deutschen Nationalstaats zu begrüßen. Die Frage ist vielmehr, wie die postnationalen Züge der bundesrepublikanischen Gesellschaft und Politik der Europäischen Union zugute kommen können." (S. 990) Schließlich sei vermerkt, dass auch in diesem Band die Anmerkungstechnik recht irritierend ist. Auch wenn man nachvollziehen mag, dass der Text nicht durch eine Vielzahl von Anmerkungsziffern belastet werden sollte, so hätte man sich schon eine präzisere Zuordnung von jeweiliger Textinformation und Anhangs-Anmerkung gewünscht. So findet man im Anhang überlange Anmerkungen, bei denen nicht mehr eindeutig auszumachen ist, zu welchem Zitat, zu welcher These oder auch zu welchem Problemkreis die aufgelisteten Arbeiten nun jeweils einschlägig sind. Beides - begriffliche Pointierung und unübersichtliche bzw. undurchsichtige Belegtechnik - sind gewiss auch darauf zurückzuführen, dass die Arbeit ausdrücklich auf eine groß angelegte Synthese zielt. (S. XXII) Gerade wenn man aber, wie bei einer solchen Synthese ebenso selbstverständlich wie nachvollziehbar ist, auf die Heranziehung archivischer Quellen weitgehend verzichten muss, wären bei der Auswertung der Forschungsarbeiten ausgeprägtere quellenkritische Überlegungen wünschenswert gewesen. Durch derartige Betrachtungen wären allzu pointierte und pauschale Urteile gewiss vermieden worden.

Diese Anmerkungen schmälern freilich nicht den Wert der Arbeit Wehlers, die eine beeindruckende und überzeugende Gesamtdeutung der deutschen Geschichte im ,,Zeitalter der Extreme" bietet; hoher Komprimierungsgrad der Darstellung und theoriegeleiteter wie material- und faktengesättigter Zugriff lassen ein komplexes Gesamtbild entstehen, in dem eine Fülle von konzeptionell einleuchtend und nachvollziehbar mit einander verwobenen Einzelinformationen präsentiert wird, so dass man die angesprochenen Schwächen verschmerzen kann.

Michael Schneider, Rheinbach


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