Lutz Sauerteig, Krankheit, Sexualität, Gesellschaft. Geschlechtskrankheiten und Gesundheitspolitik in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert , (MedGG-Beihefte 12) Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1999, 542 S., kt., 85 EUR.
In der Haltung der Gesellschaft zur Sexualität überkreuzen sich typischerweise die unterschiedlichsten Ideologien und Weltanschauungen, Ängste, Hoffnungen und Interessen. Dies gilt insbesondere für die Haltung gegenüber den Geschlechtskrankheiten. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein breiter öffentlicher Diskurs über die Geschlechtskrankheiten und ihre Bekämpfung in Deutschland einsetzte, an dem sich die Frauenbewegung ebenso wie die Sittlichkeitsvereine, sozial interessierte Ärzte, Juristen und Medizinalbeamte ebenso wie Militärs beteiligten. Im späten 19. Jahrhundert hatte noch die sittenpolizeiliche Überwachung und versuchsweise Eindämmung der Prostitution im Vordergrund gestanden, wobei Geschlechtskrankheiten primär als privates Schicksal aufgefasst wurden. Seit dem frühen 20. Jahrhundert verschoben sich die Prämissen, da man sich einerseits das offenkundige Versagen dieser Strategie eingestehen musste, andererseits aber nunmehr die Geschlechtskrankheiten als Schädigung des "Volkskörpers", drohende Degeneration der "Rasse" und somit als politisches Problem zu thematisieren begann. Der vorliegende Beitrag zu einer Sozialgeschichte der Medizin (zugleich Phil. Diss. Humboldt-Universität zu Berlin 1996) untersucht diese Entwicklung "von der ersten Kritik der Frauenvereine an der alten Strategie der sittenpolizeilichen Überwachung der Prostitution" (15) in den 1880er Jahren bis zur Konzipierung und Implementierung des "Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten" von 1927. Der Verfasser betritt damit im wesentlichen Neuland, denn trotz zahlreicher Anregungen und Anstöße zur Bearbeitung dieser Problematik war der Forschungsstand für Deutschland bis Ende der 1990er Jahre doch eher dürftig. "Eine umfassende Analyse der gesundheitspolitischen Strategien zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten fehlt bisher" (14), resümiert Sauerteig in der Einführung (Kapitel I).
Einen Problemaufriss bietet Kapitel II. Hier wird erklärt, welche gesellschaftlichen Gruppen sich aus welchen Gründen und mit welchen Motiven an dem Diskurs über die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten beteiligten. Eine stimulierende Rolle spielten offensichtlich die beiden internationalen Kongresse zur Syphilis-Problematik in Brüssel 1899 und 1902 sowie der Schock über das Ausmaß der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten nach Bekanntwerden erster statistischer Ergebnisse. Dabei müssen die vor 1919 erstellten Statistiken als sehr problematisch gelten, "erst die Erhebungen von 1927 und 1934 scheinen verlässlichere Resultate zu liefern." (75)
In Kapitel III folgt eine detaillierte Untersuchung von Aufbau, Programm, Mitgliederstruktur, Finanzierung und Arbeitsweise der wichtigsten Pressure Group in diesem Bereich der Gesundheitspolitik, der 1902 gegründeten "Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten". Der (bildungs)bürgerlich dominierte Verein setzte zunächst vor allem auf Abschreckung. So erklärte 1911 der Vorsitzende der Gesellschaft, Geheimrat Prof. Dr. Albert Neisser, anlässlich einer Ausstellung mit beeindruckendem Bildmaterial: "Wir wollen ja die Greuel und die Zerstörung, die durch die Geschlechtskrankheiten angerichtet werden können, vorführen!" Allerdings waren vor dem Ersten Weltkrieg weder der preußische Staat noch das Reich bereit, die Arbeit der Gesellschaft in nennenswertem Umfang zu fördern, trotz weitgehender Übereinstimmung mit ihren Zielen; das geschah erst in der Weimarer Republik, als ihr dann auch Spenden der Sozial- und Krankenversicherungen zuflossen (125).
Der eigentliche Hauptteil , Kapitel IV, ist 310 Seiten lang und beschäftigt sich mit den verschiedenen diskutierten und zumeist auch praktisch umgesetzten Strategien zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Diese reichten von der Fürsorge und Beratung für Geschlechtskranke über Gesundheitsaufklärung und -erziehung bis zur gesundheitspolizeilichen Überwachung. Ein durchgehender Entwicklungsstrang ist dabei in der zunehmenden Medikalisierung zu sehen: An die Stelle der Sittlichkeitspolizei trat mehr und mehr der Arzt, in den Kommunen entstanden die Gesundheitsbehörden. Das bedeutet jedoch nicht eine zunehmende Liberalisierung des Umgangs mit den Geschlechtskrankheiten. Vielmehr übertrug der auch in diesen Bereich vordringende Interventionsstaat mehr und mehr Aufgaben im Sinne der Erfassung, Meldung und Behandlung von Geschlechtskranken (einschließlich der Zwangsbehandlung im Krankenhaus) sowie der Aufklärung bzw. Erziehung dem medizinischen Komplex, nachdem aus einem moralischen ein gesundheitspolitisches Problem geworden war. Mit der Medikalisierung schien zugleich eine Effizienzsteigerung verbunden zu sein. "Im Zentrum der Diskussion stand immer wieder die Frage, inwieweit der Staat im gesundheitspolitischen Interesse des Allgemeinwohls in das Recht des einzelnen auf Selbstbestimmung über seinen Körper eingreifen dürfe und müsse." (319) Die Diskussion über die Einführung von Ehegesundheitszeugnissen im Zusammenhang mit Geschlechtskrankheiten während der Weimarer Zeit (369-379) weist zudem, wie in anderen Bereichen der Gesundheitspolitik (z. B. Umgang mit geistig und körperlich Behinderten, Zwangssterilisation, "Euthanasie"), Denkmuster auf, die im Dritten Reich zu handfesten Zwangsmaßnahmen führten.
Kapitel V bringt eine Zusammenfassung und kritische Würdigung der Ergebnisse. Ein längerer Anhang (Kapitel VI) enthält ein Abkürzungsverzeichnis, das Verzeichnis der benutzten umfangreichen Quellen und der Literatur, 8 Tabellen und 1 Schaubild, Kurzbiographien der Mitglieder des Gründungsausschusses der "Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten", ein Personenregister sowie schließlich ein Sachregister.
Das Buch stellt einen innovativen und höchst informativen Beitrag zum Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit Sexualität und Geschlechtskrankheiten dar. Dass man einige Aspekte des Themas gern ins Dritte Reich weiterverfolgt gesehen hätte oder die Thematik auch aus einer Patienten- bzw. Betroffenenperspektive abgehandelt sehen würde, steht außer Frage, kann aber die Verdienste der vorliegenden Arbeit nicht schmälern.
Reinhard Spree, München