ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Siegward Lönnendonker/Bernd Rabehl/Jochen Staadt, Die Antiautoritäre Revolte. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund nach der Trennung von der SPD,
Bd. 1: 1960-1967 (=Schriften des Otto-Stammer-Zentrums im Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, Band 91), Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002. 529 S., br., 39,90 EUR.


Keine andere Organisation hat derart bündig den antiautoritären Protest der Studentenbewegung in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre repräsentiert wie der SDS. Im allgemeinen wird er unmittelbar identifiziert mit dem Aufbruch um 1968, der nicht nur das politische System der Bundesrepublik erfasste, sondern viele Bereiche der Gesellschaft. Insofern ist es schon erstaunlich, dass dieser legendäre und mythenumsponnene Verband noch keine ausführliche zeitgeschichtliche Behandlung erfahren hat. Die bisherigen Darstellungen zur Geschichte des SDS beschäftigten sich im wesentlichen mit der Zeit bis zur Abstoßung des Verbandes durch die sozialdemokratische Mutterpartei im Jahre 1960/61. Hier setzt die vorliegende Publikation als erster Band einer auf zwei Bände angelegten SDS-Geschichte ein. Er behandelt die Jahre von 1960 bis 1967, der angekündigte zweite Band soll die Schlussphase der Verbandsgeschichte zwischen 1968 und 1970 darstellen.

Es geht den Verfassern um eine "Offenlegung und Einordnung der Verbandsgeschichte des SDS [...] in den historischen Kontext der sechziger Jahre" (IX). Dies wird in acht Kapiteln in Angriff genommen, die grob chronologisch angeordnet sind. Zunächst rekonstruiert Jochen Staadt den Loslösungs- und Umorientierungsprozess in der Zeit der Abspaltung von der SPD sowie die Einordnung des SDS in den Kontext der entstehenden "Neuen Linken" in Europa und in den USA. Anschließend untersucht Siegward Lönnendonker in einem Längsschnittkapitel die Hochschulpolitik und den inneren Strukturwandel des SDS bis 1967, um dann einzelne Schwerpunkte genauer zu behandeln: die Auseinandersetzung um den Vietnamkrieg (gemeinsam mit Jochen Staadt), die Kommune I, die Vorgänge um den 2. Juni 1967 sowie die Neuorientierung des SDS auf seiner 22. Delegiertenkonferenz im September 1967. In einem ausführlichen Schlusskapitel profiliert Bernd Rabehl die Geschichte des SDS als die einer "Provokationselite".

Die Verfasser untersuchen ihr Thema mit einem besonderen Augenmerk auf West-Berlin und, besonders für die frühen Jahre und insgesamt weniger stark gewichtet, München. Sie stützen sich dabei ganz überwiegend auf das Archiv des SDS-Bundesvorstands, das im Archiv "APO und Soziale Bewegungen" an der Freien Universität Berlin lagert. Gelegentlich werden als Quellen zusätzlich Archivalien aus der Hinterlassenschaft von SED und FDJ herangezogen sowie - als besonders illustrativer und informativer Bestand - Interviews mit Akteuren der West-Berliner Studentenbewegung, die Lönnendonker bereits in den frühen 1970er Jahren durchgeführt hat. Natürlich ist die Berliner Entwicklung nicht repräsentativ, aber sie war besonders wichtig, weil in der abgeschotteten "Frontstadt" mit ihrem antikommunistisch politisierten Mainstream auf der einen, ihren vielen Nischen für Unangepasste auf der anderen Seite die Widersprüche der 1960er Jahre schärfer als anderenorts aufeinander prallten. Deshalb gingen von hier viele Impulse aus, die in Westdeutschland auf Widerhall stießen, wo die Konflikte weniger scharf ausgeprägt waren. Sicherlich liefert dieses Buch keine Gesamtdarstellung des SDS zwischen 1960 und 1967 - das wäre bei der derzeitigen Forschungslage auch kaum möglich -, aber es beschreibt wesentliche Teilaspekte, vor allem die West-Berliner Entwicklung, empirisch so detailliert wie kaum eine Arbeit zuvor. Besonders instruktiv sind z.B. die Darlegungen zur Subversiven Aktion und ihrer Bedeutung für die Herausbildung eines "antiautoritären" Kurses im SDS, zur Kommune I und ihrem Verhältnis zum SDS. Die Notizen Rudi Dutschkes vom Februar 1966 (abgedruckt auf S. 235ff.) können als geradezu spektakulär bezeichnet werden, denn in ihnen zeigt sich, wie detailliert die Vorstellungen von einer "städtischen Guerilla" mit auch dezidiert militärischen Aufgaben bereits zu diesem frühen Zeitpunkt waren. Ebenfalls war es nicht erst ein Ergebnis der Radikalisierung nach dem 2. Juni 1967, dass sich der SDS bereits mit dem ein Jahr zuvor gewählten Bundesvorstand unter Reimut Reiche und Peter Gäng im Innern von einer zentralistischen Organisation zu einem eher amorphen Bund zunehmend autonom operierender Gruppen und Zirkel wandelte - ein Prozess, der sich nach der rapiden Ausbreitung der Studentenbewegung nach dem Sommer 1967 stark beschleunigte und der hier nachgezeichnet wird.

Dieses Buch bringt die Forschung beträchtlich voran, weil es die immer noch vorherrschenden Generalaussagen zu diesem Thema durch reichhaltiges, detailliertes Material und eine Vielzahl neuer Informationen korrigiert. Seine eigentliche Stärke gewinnt es aus der Leitidee, nicht "starke Thesen aus dem Hut zu zaubern" (IX), sondern die Fakten zu rekonstruieren. Und es ist dort unbefriedigend, wo dieses Postulat nicht eingelöst wird. Während Staadt und Lönnendonker sich darauf beschränken, Beschreibung und Analyse zu einer wissenschaftlichen Darstellung zu verknüpfen, präsentiert Rabehl auch eine Reihe von zum Teil recht apodiktischen Aussagen, die, gelinde gesagt, nicht unmittelbar nachvollziehbar sind. Besonders markant zeigt sich dies an einem Thema, das in diesem Kontext auf den ersten Blick befremdlich wirken mag. Tatsächlich ist die gesamtdeutsche Perspektive unter jungen Intellektuellen, innerhalb des SDS und in den nachfolgenden linksradikalen Strömungen in der Tat ein interessantes, bislang kaum erforschtes Thema. Dass es diese Perspektive gab und dass sie bei manchen Akteuren ausgeprägt war, speziell bei Dutschke, ist inzwischen bekannt. Doch Formulierungen wie die, es habe bei Teilen des SDS "eine Konzeption der nationalen Wiedergeburt des deutschen Volkes" (428) gegeben und der "Nationalrevolutionär" (489) Dutschke habe "den nationalen Widerstand in beiden Deutschlands" (473) fördern wollen, gibt dem "nationalen" Element ein Gewicht, das es nicht hatte - schon gar nicht, wenn man es ins Verhältnis zu dem Ziel einer "antiautoritären Revolte" setzte, das, wie es der Titel des Bandes treffend transportiert, unbestritten im Mittelpunkt allen Tuns und Wollens stand. Rabehl suggeriert, nationalrevolutionäre Vorstellungen seien eine wesentliche Denkfigur "der Antiautoritären im SDS" (498) gewesen. Die Fakten, die diese mehr als starke These stützen könnten, sind hingegen nicht erkennbar.

Seit dem Beginn des Projektes im Jahre 1986 ist viel Zeit ins Land gegangen, doch "gut abgehangen" (X), wie die Autoren sympathisch selbstironisch meinen, wirkt es dennoch nicht unbedingt. Dieser Eindruck beruht nicht nur auf Rabehls Rückprojektionen oder auf Formalia wie einem nicht vorhandenen Quellen- und Literaturverzeichnis, sondern mehr noch darauf, dass in der Darstellung die Ergebnisse neuerer Forschungen so gut wie gar nicht berücksichtigt werden. Dies ist keine Frage eines Generationskampfes um die Deutungshoheit über "1968", wie er eingangs des Bandes vermutet wird. Selbstverständlich können frühere Akteure ebenso gut wie Nachgeborene die Geschichte des SDS erforschen. Nur muss das Ergebnis ohne Einbeziehung der Forschungsleistungen anderer unbefriedigend bleiben.


Detlef Siegfried, Hamburg


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