Reinhard Hübsch (Hrsg.), "Hört die Signale!" Die Deutschlandpolitik von KPD/SED und SPD 1945 - 1970, Akademie Verlag, Berlin 2002, 215 S., geb., 64,80 EUR.
In den Diskussionen über die Geschichte des geteilten Deutschland spielt der Einfluss, den die großen deutschen Parteien auf die Entwicklung der Deutschlandfrage hatten (bzw. aus vielerlei Gründen nicht haben konnten), bis heute eine erhebliche Rolle. Das gilt vor allem für die Sozialdemokratie in der Bundesrepublik und die SED in der DDR. Diese Thematik stand im Mittelpunkt eines Symposiums des Südwestrundfunks und der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg im Dezember 1998, dessen Beiträge und (in Zusammenfassungen) Diskussionen in diesem Sammelband vorliegen. Vorher war schon die Deutschlandpolitik der Liberalen und der Christdemokraten diskutiert worden (diese Sammelbände erschienen 1997 und 1998); in allen drei Symposien ging es um den Zeitraum von 1945 bis 1970.
Der Herausgeber Reinhard Hübsch, Kulturredakteur beim SWR, befasste sich mit deutschlandpolitischen Konzepten von SED und SPD von 1945 bis zu den 1960er Jahren. Er war unter den Vortragenden der wohl eindeutigste Vertreter einer Position, dass diese Parteien wegen ihres politischen Gewichts die Einheit Deutschlands wirklich hätten fördern können, wenn nicht infolge historischer Entwicklungen eine Verständigung zwischen ihnen unmöglich gewesen wäre. Dennoch wirft er der SPD vor, auf die Gesprächsangebote der SED nicht eingegangen zu sein. Seine Darstellung der SED-Konzeptionen stützt sich in großen Teilen auf Sekundärliteratur, und ein ausführliches Zitat enthält besonders interessante Informationen über deutschlandpolitische Kontroversen in der SED-Führung im Jahre 1960 (aus Jochen Staadt, Die geheime Westpolitik der SED 1960 - 1970, Berlin 1993). Den Abschluss bildet der gescheiterte Redneraustausch SED-SPD 1966. In der Diskussion hielt Egon Bahr dem Referenten mangelnde Unterscheidung zwischen politischer Interessenlage und Propaganda entgegen und illustrierte die tatsächliche Situation damals mit einer Äußerung des DDR-Staatssekretärs Michael Kohl ihm gegenüber: "Wir, die DDR, haben in den 50er und frühen 60er Jahren (,Deutsche an einen Tisch`) einen Vorschlag nach dem anderen gemacht, weil wir wussten, sie werden alle abgelehnt; wir konnten der Bundesrepublik die schönsten Vorschläge machen, wir wussten genau, sie werden abgelehnt. Es war ganz einfach für uns." Hübsch hatte übrigens die Motivation der Sozialdemokratie für ihre ablehnende Reaktion auf SED-Vorschläge (hier 1949) schon in seinem Vortrag genannt - sie hielt die Angebote der SED für Lippenbekenntnisse, "denen alsbald ein gesamtdeutscher Alltag folgen würde, bei dem SBZ-Verhältnisse bis an den Rhein ausgedehnt werden sollten."
Hübsch stand mit seiner Ansicht, der deutschen Sozialdemokratie sei wegen ihrer Haltung gegenüber der SED ein Vorwurf zu machen ("humanitäres Versagen der SPD"), ziemlich allein. Egon Bahr begründete die Position der SPD mit seinen eigenen politischen Erfahrungen und bestritt deutsche Chancen zur Förderung der Wiedervereinigung wegen der erstarrten außen- und sicherheitspolitischen Konstellation in Europa. Manfred Wilke stellte den Gegensatz zwischen KPD und SPD und die spätere Verfolgung der Sozialdemokraten in der SBZ als Ursachen der Unversöhnlichkeit der beiden Parteien in den Vordergrund. Gerhard Wettig belegte die sowjetische Deutschlandkonzeption ab 1944 und insbesondere die Motive für die Stalin-Note 1952 (der Kreml wollte "eine positive Reaktion der westlichen Regierungen von vornherein ausschließen") mit einer außergewöhnlich reichhaltigen Fülle sowjetischer Quellen, von denen viele mit ihren eindeutigen Aussagen bisher nicht bekannt sein dürften.
Zwei Vorträge hielten namhafte ehemalige SED-Funktionäre - der als Experte für die KPD- und frühe SED-Geschichte ausgewiesene Historiker Günter Benser sowie Herbert Häber, in verschiedenen Funktionen, darunter 1984/85 Mitglied des SED-Politbüros, in großem Umfang zuständig für die Umsetzung der Deutschlandpolitik der SED. Häber, der wegen seiner Versuche, etwas Bewegung in die erstarrten Fronten zu bringen, auf sowjetisches Betreiben alle Ämter verlor und mancherlei Repressalien ausgesetzt war, stellte fest, dass die SED zu keiner Zeit eine Konzeption für die deutsche Einheit gehabt habe. Ulbricht habe zwar deutschlandpolitische Eigenmächtigkeiten entwickelt, ebenso Honecker (so dass letzterer Häber zu seinen dem Kreml unerwünschten Westkontakten ermutigte), die sich aber in der sowjetischen Umklammerung nie entfalten konnten. KGB-Spione im Politbüro, vor allem Ministerpräsident Stoph und sein Stellvertreter Werner Krolikowski, spielten beim Scheitern Häbers in den 1980er Jahren eine entscheidende Rolle. Benser gestand als einziger Referent den Angeboten der SED eine gewisse Risikobereitschaft zu und hielt eine von den östlichen Ambitionen abweichende Eigendynamik deutsch-deutscher Verhandlungen für möglich, übrigens auch Freiräume für Sozialdemokraten in der DDR, wenn die West-SPD positiv auf die Angebote der SED reagiert hätte.
In der Abschlussdiskussion stand die Frage, ob man nicht ungeachtet aller zu Recht unterstellten sowjetischen Absichten Verhandlungen mit der SED wenigstens hätte versuchen sollen (Bahr), im Mittelpunkt. Die Antwort gab zum Ende der Diskussion Herbert Häber: "Aber diese Angebote waren vielfach von der Methode und auch vom Inhalt mit Bedingungen verknüpft, die es von vornherein, zumindest in vielen Fällen, sehr schwer machten, sie als echtes Diskussionsangebot anzunehmen." Das im Schlusskapitel abgedruckte Streitgespräch zwischen Journalisten der "Zeit" und des "Deutschlandsenders" (DDR) am 20. April 1961 ist ein eindrucksvolles Dokument der unüberwindbaren Gegensätze zwischen führenden Journalisten in beiden Staaten. Die in dieser Diskussion wenige Monate vor dem Mauerbau eingebrachte Härte - auch auf Seiten der Westteilnehmer wie Marion Gräfin Dönhoff und Theo Sommer - mag viele Leser, die die Konflikte in Deutschland damals nicht selbst erlebt haben, heute in Erstaunen versetzen.
Erstaunlich ist auch, dass angesichts des stolzen Ladenpreises das Buch in formaler Hinsicht so nachlässig wie hier geschehen behandelt wurde. Es gibt nicht nur eine Fülle von Schreib- und Satzfehlern, sondern auch Monita wie fehlerhafte Daten (z.B. Ministerpräsidentenkonferenz in München 1947, nicht 1946), fehlende wichtige Titel im Literaturverzeichnis und gelegentlich unterlassene Übersetzungen russischer Texte. Da solche Sammelbände vor allem von wissenschaftlichen Bibliotheken angekauft werden dürften, kann Zuverlässigkeit auch bei solchen scheinbar nebensächlichen Fragen erwartet werden.
Thomas Ammer, Euskirchen