ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Hermann-J. Rupieper (Hrsg.), "Es gibt keinen Ausweg für Brandt zum Krieg": August 1961 an der Martin-Luther-Universität, mdv Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2002, 192 S., geb., 20,50 EUR.


Dargestellt wird in Bericht und ausführlicher Dokumentation ein Stück Geschichte von Opposition und widerständigem Verhalten an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Zusammenhang mit dem Mauerbau 1961. Allerdings geht es nicht nur um die Reaktion der Universitätsangehörigen auf die Sperrmaßnahmen, sondern auch auf die Vorbereitung und Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR 1961/62 sowie die damaligen ideologischen und materiellen Behinderungen von Forschung und Lehre. Auch für die Martin-Luther-Universität gilt, wie für die meisten Universitäten und Hochschulen in der DDR, dass Opposition und Widerstand hier bisher nicht umfassend untersucht wurden, und insofern ist das von dem in Halle lehrenden Historiker Rupieper herausgegebene Buch ein wertvoller Baustein für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte.

In der Einleitung stellt der Herausgeber die politische Situation in Deutschland und in der DDR vor dem Mauerbau (insbesondere die "Republikflucht" und die Wirtschaftskrise in der DDR) und anhand der Dokumente die Vorgänge an der Martin-Luther-Universität vom Ende der 1950er Jahre bis Anfang 1962 vor. Einen Schwerpunkt bilden die - oft wenigstens zeitweilig erfolglosen - Versuche der SED-Leitungen an der Universität und auf Bezirksebene, die Universitätsangehörigen, vor allem die Hochschullehrer und sonstiges Personal an der medizinischen Fakultät dem bestimmenden Einfluss und der Kontrolle der Partei zu unterwerfen. Rupieper führt die Schwierigkeiten der SED darauf zurück, dass sie, im Unterschied zur Zeit nach dem Mauerbau, von "nicht Genossen keinen Gehorsam einfordern" und verbindliche Interpretationen nicht festlegen konnte; für die Masse der Bürger sei "Abstrafung nicht möglich" gewesen. Das mag für Teile der Universitäten und wissenschaftlichen Einrichtungen zutreffend gewesen sein, wohl aber kaum für Betriebe und schon gar nicht für das Schulwesen. Allerdings wurden regimekritische Diskussionen auch in öffentlichen Veranstaltungen an der Universität damals mit beachtlicher Zivilcourage und Offenheit geführt. Ein herausragendes Beispiel ist der Anatom Joachim-Hermann Scharf, der aus der Bundesrepublik als Anhänger der Deutschlandpolitik der SED und Befürworter der Verhältnisse in der DDR zunächst an die Universität Jena gekommen war und später nach Halle berufen wurde. Hier aber äußerte er sich 1961 "verstört" über den Mauerbau, kritisierte zudem die offiziell verordnete Orientierung an der Sowjetwissenschaft und die Mängel in der materiell-technischen Versorgung wissenschaftlicher Einrichtungen. Die Kritik von Wissenschaftlern an Versorgungsmängeln fällt immer wieder besonders scharf aus, sie reicht von fehlenden Grundnahrungsmitteln bis zur mühseligen Suche nach brauchbarer Schreibkreide, Glühbirnen und Schreibmaterial. Bei Medizinern, Mathematikern, Naturwissenschaftlern, Theologen und Landwirten nutzten die Widersprechenden zum Mauerbau oft Argumente, die die SED nicht ohne weiteres als Feindpropaganda abstempeln konnte, etwa Auswirkungen auf den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland oder die damals noch nicht offiziell abgeschriebene Wiedervereinigung.

Die 52 Dokumente sind nach den Themen "Republikflucht" vor dem Mauerbau, Reaktionen auf die Sperrmaßnahmen, die Auseinandersetzungen an der medizinischen Fakultät von Ende 1960 bis Februar 1962 sowie die Reaktionen auf Vorbereitung und Einführung der allgemeinen Wehrpflicht gegliedert. Ein großer Teil sind Situationsberichte aus der Feder von SED-Funktionären, die in ihrer Diktion die Fakten wohl verdrehen und verfälschen, aber, da sie auf die Geheimhaltung ihrer Texte bauten, trotzdem äußerst aufschlussreich sind. Sie informieren über Resistenz und Opposition sogar in von der SED damals schon voll kontrollierten Bereichen (Juristen, Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, Pädagogen), die Kritik an der "Störfreimachung" (Versuche der DDR-Regierung zur drastischen Einschränkung von Westimporten), die Auseinandersetzungen um eine Zustimmungserklärung des Senats zum Mauerbau und Reaktionen vor allem in der Studentenschaft auf die Militarisierung sowie Vorbereitung und Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Beispielsweise gab es bei einer Abstimmung unter Studenten der Landwirtschaftswissenschaften am 26. Januar 1962 über eine Resolution zugunsten der allgemeinen Wehrpflicht bei einer Beteiligung von 100 Studenten 14 Gegenstimmen. Eine Information aus dem Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen berichtet über ein Protestschreiben der medizinischen Fakultät an den Minister für Gesundheitswesen gegen die Folgen der "Störfreimachung", das zusätzlich an andere medizinische Einrichtungen (insbesondere Universitäten und Medizinische Akademien) versandt wurde. Der Minister für Gesundheitswesen hatte wohl nicht ganz zu Unrecht den Verdacht, hier werde eine breite oppositionelle Haltung der Mediziner in der DDR gegen einen wesentlichen Teil der Regierungspolitik angestrebt. Auch Solidaritätsbekundungen für von Repressalien Betroffene gab es, so von Physikstudenten für Kommilitonen, die im Herbst 1961 die "Erfüllung des Kampfauftrages der FDJ", d. h. die "freiwillige" Meldung zur Nationalen Volksarmee, verweigert hatten, sowie ein in diesem Sinne abgefasstes Schreiben des Botanikers Kurt Mothes an den Rektor.

Die Dokumentation ist einer von vielen Beweisen, dass es in der DDR, vor allem in Krisenzeiten, weit mehr Opposition und Widerstand gab - freilich nur selten organisiert -, als damals an die Öffentlichkeit drang; gerade das Beispiel der Martin-Luther-Universität zeigt, wieviel davon noch heute unbekannt ist.

Eine bessere Lektoratsbetreuung hätte dem Buch gut getan. So aber stören fehlerhafte Daten wie die Verwechslung von Verteidigungsgesetz (20. September 1961) und Wehrpflichtgesetz (24. Januar 1962), der Bezug eines Dokuments vom 14. September 1961 auf den 22. Parteitag der KPdSU (17.-31. Oktober 1961), Fehler bei der Übertragung von Abkürzungen (etwa "Hauptwachtmann", richtig: "Hauptwachtmeister") und beim Abschreiben der Dokumente (z.B. Versorgung mit "sozialistischer Literatur", insbesondere Zeitschriften, richtig: "sowjetischer Literatur"). Zuweilen sind für den nicht sehr genau vorinformierten Leser die Institutionen, aus denen die Texte stammen, kaum erkennbar.


Thomas Ammer, Euskirchen


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