Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Jürgen John (Hrsg.), Thüringen 1989/90 (= Quellen zur Geschichte Thüringens, Band 17) 2 Halbbände, Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen, Erfurt 2001, insges. 428 S., brosch., kostenfrei.
Die nachfolgende Quellenedition basiert auf einer Übung zur Historischen Quellenkunde am Historischen Seminar der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Zusammenstellung ist das Werk einer großen Gruppe von Bearbeitern. Sie dokumentiert die Vorgänge in den DDR-Bezirken Erfurt, Gera und Suhl bis zum Beitritt der wiedereingeführten Länder zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 und zur ersten thüringischen Landtagswahl am 14. Oktober 1990.
Der Herausgeber weist ausdrücklich darauf hin, dass die "Dichte und Dramatik der Ereignisse 1989/90" den zeitlich engen Rahmen dieses Bandes, der damit von der Gestaltung der meisten übrigen Bände abweicht, rechtfertigt. Er betont, dass dieser Band eher an den Band über die Revolution 1849/49 als an die nachfolgenden Bände anschließt. Er verweist in der Einleitung darauf, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt neben einer großen Anzahl publizistischer Schriften auch schon eine ganze Reihe wissenschaftlich fundierter Forschungsliteratur zu einzelnen Aspekten des Gesamt- und Regionalgeschehens gibt. Er geht dann auf die externen und internen Faktoren ein, die zum Umbruch in der DDR und zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt haben.
Der Herausgeber betont, dass das regionale und lokale Geschehen keineswegs nur das Ergebnis oder der Nachvollzug zentraler Vorgaben oder Vorgänge gewesen sei. Er geht dann auf einige Besonderheiten der thüringischen Landesgeschichte ein, insbesondere auf die Rolle der Bezirksparteisekretäre der SED, Gerhard Müller (Erfurt), Herbert Ziegenhahn (Gera) und Hans Albrecht (Suhl) als besondere Hardliner des DDR-Regimes, sowie auf die überdurchschnittlich hohen Wahlerfolge der "Allianz für Deutschland" und auf das Scheitern des ersten Thüringer Ministerpräsidenten Josef Duchac, der bald durch den "Westimport" Bernhard Vogel ersetzt wurde. Der Herausgeber vertritt jedoch die Ansicht, dass es ein Fehlschluss wäre, aus diesen Besonderheiten "eine Sonderrolle des Südens" (der ehemaligen DDR) abzuleiten.
Der Abdruck der Quellen richtet sich nach den Textvorlagen. Die Quellen werden in überwiegendem Maße vollständig und nur bei längeren Texten in Auszügen abgedruckt. Außer bei Amtsträgern und Personen der Zeitgeschichte werden im Text erwähnte Namen aus Datenschutzgründen geändert oder abgekürzt. Die Anordnung der Quellen erfolgt in chronologischer Reihenfolge, dieses Prinzip wird jedoch bei thematisch zusammenhängenden Quellengruppen durchbrochen. Die Fundstelle ist jeweils am Ende der Quelle angegeben.
Als Ziel der Edition wird angegeben, eine annähernd repräsentative Auswahl unterschiedlicher Quellen zur Verfügung zu stellen, die ein lebendiges, spannungs- und facettenreiches Bild von der Fülle und den Aspekten des Geschehens, seiner Akteure, ihrer Ziele, der Handlungsprofile und Orte vermittelt Bei dieser Zielsetzung ist es auch verständlich, dass eine Trennung von Quellen im engeren Sinne (Archivalien und privaten Aufzeichnungen) und allgemein zugänglichen Materialien ( Presseberichten, Aufrufen, Pamphleten usw.) nicht erfolgt.. Der Herausgeber lässt bei der Bekanntgabe dieser Zielsetzung offen, ob er sich an den Fachhistoriker oder den historisch interessierten Laien wendet, aber er ist den gestellten Vorgaben mit Sicherheit gerecht geworden.
Ein Teil der Edition beschäftigt sich mit den Erosionserscheinungen des SED-Regimes. Einen Höhepunkt der Zeitzeugnisse hierzu bildete zweifelsohne die Rücktrittserklärung des Bezirksparteisekretärs der SED in Suhl, Hans Albrecht, in der Sitzung des Sekretariats der SED-Bezirksparteileitung am 30.10.1989. Hier erklärte Albrecht, die Vorwürfe seiner Mitarbeiter, die Kritik an seiner Arbeit habe ihn persönlich tief getroffen, da das alles vorher nicht, oder nicht "in dieser Form" geäußert worden sei. Natürlich hätte auch nur wenige Monate vorher eine auch noch so sanfte Kritik an dem selbstherrlichen Arbeitsstil Albrechts zur Ächtung als Parteifeind geführt, und von da wäre es nur ein kurzer Schritt bis zur Inhaftierung als Staatsfeind gewesen. Selbst bei der Erklärung seines Rücktritts konnte dieser Mann nicht auf die DDR-übliche Heuchelei verzichten.
Von besonderem Interesse sind auch die Dienstanweisungen des Ministeriums für Staatssicherheit zum Schutz der eigenen Objekte, beispielsweise verschiedene Varianten von Sprechertexten für Menschenansammlungen vor der Kreisdienststelle Eisenberg in der Zeit vom 29. September bis zum 20. Oktober 1989. (Halbband 1, S. 106) in verschiedenen Varianten. In der Variante 1 werden die "werten Bürger" aufgefordert "weiterzugehen und den gewaltfreien Charakter ihrer Demonstration zu bewahren". Die Staatssicherheit betont ihre angebliche Gesprächsbereitschaft und hebt abschließend hervor, dass es in beiderseitigem Interesse liegt, jede Gewaltanwendung zu vermeiden. Die Variante 2 ( mit dem Vermerk ":Nur auf Weisung des Leiters/Stellvertreters/Leitungsdienstes bei Versammlungen vor dem Dienstobjekt in Anwendung zu bringen" endet hingegen mit der martialischen Ankündigung: "Sie zwingen mich, zum Schutze dieses militärischen Objekts Maßnahmen der Gewaltanwendung zu befehlen!"
Spitzelberichte und Einschätzungen des MfS zur jeweils aktuellen politischen Situation, Kritik und Selbstkritik innerhalb der SED/PDS, Verlautbarungen der Kirchen und der Thüringischen Landesregierung, Diskussionen innerhalb der ehemaligen Blockparteien und Massenorganisationen, Bürger- und Menschenrechtsbewegungen sowie die Gründungsphase neuer demokratischer Parteien, insbesondere der SDP/SPD, Auflösungserscheinungen in Verwaltung, Justiz und Staatsapparat der DDR in Thüringen, die ersten Auftritte prominenter westdeutscher Politiker in Gera und Erfurt, all das spiegelt sich in den wiedergegebenen Quellen. Historiker, aber auch Geschichtslehrer und darüber hinaus alle an zeitgenössischer deutscher und Thüringer Geschichte Interessierten können die Edition dieser Quellensammlung nur begrüßen.
Zu bedauern sind allerdings die starken Einschränkungen bei den zusätzlichen bibliographischen Angaben (nur Werke zur thüringischen Landesgeschichte). Auch stellt sich dem Rezensenten die Frage, ob die durchgängige chronologische Anordnung der Quellen auch für den Leser des Werkes optimal ist. Vielleicht wären Unterteilungen in Institutionen und innerhalb dieser eine chronologische Anordnung leserfreundlicher gewesen.
Johann Frömel, Nürnberg