ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Wolfram Siemann (Hrsg.), Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven, beck’sche Reihe, C.H. Beck, München 2003, 206 S., kart., 12,90 EUR.

Unter dem Titel "Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven" liegt ein Sammelband vor, der die Beiträge von einer Autorin und neun Autoren zum historischen Verhältnis von Mensch und Natur zusammenfasst. In einer Ringvorlesung der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität hatten sich die Fachleute unterschiedlicher Disziplinen, aber gleichermaßen an der Verortung und Handlungsrelevanz von Umweltgeschichte interessiert und beteiligt, zum Thema geäußert. Solche Publikationen zum Status quo der Disziplin sind dringend notwendig und per se begrüßenswert.

Nimmt man das Buch zur Hand, fällt der Arbeitscharakter auf – es ist eine schmale Taschenbuchausgabe. Zwei Bilder zieren den Einband: Das eine zeigt einen Blick auf die Emscher in ihrer ganzen industriellen Trostlosigkeit, überbrückt, kanalisiert, als Trägerin industrieller Abwässer missbraucht. Gleichberechtigt daneben zeigt ein Foto einen mäandrierenden kleinen Flusslauf inmitten baumbestandener Wiesen in einer vielfältigen Landschaft. Was hier zunächst als Vorher-Nachher-Klischee einer Renaturierungsmaßnahme erscheinen mag und deshalb auf den ersten Blick irritiert, klärt sich während der Lektüre: In allen Beiträgen wird deutlich, dass sich die umwelthistorischen Gut-Böse-Raster, die zum Teil die ersten Dekaden der Umweltgeschichtsschreibung prägten, zugunsten einer differenzierenden, der Dynamik der Mensch-Natur-Beziehung Rechnung tragenden Perspektive auflösen. Zugleich zeigen die beiden aktuellen Fotos, dass man seitens der Umweltgeschichte gewillt ist, sich an aktuellen Debatten zur Bewertung von Natur und Umwelt aktiv zu beteiligen.

In dem einleitenden Beitrag skizzieren die Veranstaltern der Ringvorlesung, Wolfram Siemann und Nils Freytag, die Entwicklung der relativ jungen Disziplin. Die beiden Autoren stellen vehement die Erkenntnispotenziale der Umweltgeschichte in den Vordergrund. Und sie bescheiden sich nicht: "Umweltgeschichte liefert Orientierungswissen" (S. 9), lautet eine ihrer zentralen Thesen. Siemann und Freytag argumentieren dafür, "der Umwelt den Rang einer historischen Grundkategorie beizumessen" (S. 13). Umweltgeschichte soll gewissermaßen ökologische Leitplanken in die Geschichtswissenschaft einziehen. Es ist erfreulich, dass die Fachrichtung offenbar keine Legitimierung mehr braucht wie in den Anfangsjahren. Sie differenziert sich aus – ein Zeichen ihrer allmählichen Etablierung. Der Facettenreichtum der Forschung wird in den folgenden Beiträgen aufgeblättert.

Hansjörg Küster, Professor für Geobotanik und ausgerüstet mit dem biologischen Handwerkszeug der Pollenanalyse und C14-Daten, plädiert für die Anerkennung der Tatsache, dass der Wandel der Natur inhärent ist und verfolgt diese Dynamik vom "Beginn des Lebens auf unserer Erde" bis ins Hier und Jetzt. Bedeutsam scheint ihm diese Erkenntnis besonders hinsichtlich der heutigen Naturschutzpolitik, die vorgibt Natur zu schützen, realiter aber Zustände bzw. historische Gestaltung konserviert.

Rolf Peter Sieferle, einer der wichtigsten deutschen Umweltgeschichtsschreiber, setzt sich, basierend auf seinem bekannten Modell der verschiedenen Energieregime, mit dem Begriff der "Nachhaltigkeit in universalhistorischer Perspektive" auseinander. Allerdings bezieht er sich mit dem Begriff lediglich auf die "physische Relation zwischen sozialen und naturalen Systemen". (S. 41) Den heute normativ stark aufgeladenen Topos der Nachhaltigkeit schließt er aus seiner historischen Analyse aus. Sieferle geht nacheinander mit ordnender Hand durch die Energieepochen der Jäger und Sammler, der Agrargesellschaft und der Zeit der industriellen Transformation und überprüft jeweils den Umgang mit Energie, Materialien, die Auswirkungen auf Biodiversität und Bevölkerungswachstum: Ein sehr spannendes Panoptikum entsteht. Sieferle kommt zu dem Schluss, dass "wir uns universalgeschichtlich in einer Phase prinzipieller Nicht-Nachhaltigkeit befinden". Bedauerlich allerdings, dass Sieferle bei dieser Erkenntnis endet und über den quasi zwingenden Übergang zu einer neuen – und vielleicht tatsächlich nachhaltigen Ära keine Aussage wagt: dies entzöge sich der "prognostischen Kraft des Historikers". (S. 60)

Der Schweizer Umwelthistoriker Christian Pfister diskutiert die von ihm entwickelten Thesen zum "1950er Syndrom", wie er das "welthistorisch einzigartige Phänomen" des beginnenden Schubs globalen fossilen Energieverbrauchs seit Mitte des 20. Jahrhunderts nennt. Pfister zeigt, wie Wirtschaftsgeschichte ökologisch gelesen werden kann und welche Auswirkungen der veränderte Relativpreis von Öl hatte. Pfister konkretisiert seine Thesen: Hätten z.B. die Flugpreise mit anderen Alltagsgütern Schritt gehalten, müssten heute für einen Flug in die USA fast 7.000 Euro gezahlt werden. Pfister zeigt am Beispiel von Verpackung und Müll, Verkehr und Landwirtschaft, welche Bedeutung das billige Öl auf Konsumverhalten und gesellschaftliche Werte hat.

Franz-Josef Brüggemeier erzählt die Umweltgeschichte einer Region – dem Ruhrgebiet – und eines Flusses – der Emscher. Hier findet die von Sieferle nur sehr grob skizzierte Phase der industriellen Transformation eine Konkretisierung, die sich in der schönen Bebilderung des Artikels widerspiegelt. Brüggemeier wagt auch einen Ausblick. Er resümiert, dass sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Übergang zur Konsumgesellschaft Umweltprobleme in Ausmaß und Qualität verschärften. Aber daran habe sich eine Phase angeschlossen, in der Möglichkeiten gefunden worden seien, "etwas gegen diese Probleme zu unternehmen" (S. 112). Die Erfahrungen im Ruhrgebiet seien "ein guter Indikator, was möglich ist" (S. 113). Bei dieser Einschätzung lässt er allerdings außer acht, dass der Strukturwandel viele der Probleme nur verlagert hat und sie nun an anderer Stelle produziert werden. Hier wird deutlich, dass der regionale Blick nicht in der Region enden darf.

Wie Umweltgeschichte in den Kanon öffentlicher Auseinandersetzung integriert wird, schildert Ulrike Gilhaus, Leiterin des Industriemuseumsstandortes Zeche Zollern II/IV in Dortmund. Von der spezifischen Konfrontation mit Altlasten an Museumsstandorten bis hin zu museumspädagogischen Besonderheiten der Vermittlung umwelthistorischen Wissens zeigt ihr praxisorientierter Beitrag nicht nur, wie sehr Museumsarbeit Konjunkturen und Moden unterworfen ist, sondern illustriert auch die stofflichen und sinnlichen Potentiale der Umweltgeschichte vor Ort.

Winfried Schenk führt in seinem Beitrag in die historische Geographie ein und verortet das "Brückenfach zwischen Geschichte und Geographie" auf dem Feld der Umweltgeschichte. Besondere Potentiale seines Faches zeigt er im Bereich der Erfassung, Bewertung und dem Schutz von Kulturlandschaft auf.

Mit Aspekten des populären Landschaftsbewusstseins setzt sich der Hamburger Volkskundler Albrecht Lehmann auseinander. Auf der Basis von 130 qualitativen lebensgeschichtlichen Interviews eines Hamburger Forschungsprojektes rollt er die biografische Festschreibung von Naturerfahrung auf. In seinem Beitrag tritt plastisch zu Tage, wie Individuen Landschaftsveränderungen erleben und unter Einfluss von Stereotypen, die sich auch in Sagen, Mythen, literarischen und medialen Klischees überliefern, erinnern. Lehmann zeigt, wie im Verbund von persönlicher Verlusterfahrung mit von außen zugetragenen Verlustmeldungen "das romantische Naturgefühl seine politische Dynamik" entfaltet (S. 156).

Den Abschluss des Bandes bildet die (gekürzte) Einleitung des Buches "Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt" von Joachim Radkau. Man mag bedauern, dass hier kein originärer Aufsatz des Bielefelder Historikers zu finden ist, aber das tut dem Wert des Textes keinerlei Abbruch. Radkau liefert in diesem programmatischen und zugleich offenen und fragenden Beitrag eine wichtige Selbstreflexion des tätigen Umwelthistorikers. Er fordert und befördert die umwelthistorische Neugier, die interdisziplinäres Querdenken voraussetzt und fachliche Konkurrenzängste zwischen den Fächern überwindet. Radkau verdichtet die Umweltgeschichte zum Gegenstand weltgeschichtlicher Relevanz – Ziege und Schafe werden zu Akteuren, Böden werden zu einem eigenen Untersuchungskosmos. Es mögen einem die Ohren klingeln angesichts dieser Verdichtung – letztlich aber schafft Radkau hier die Syntheseleistung von Makro- und Mikrogeschichte, die Siemann und Freytag in ihrem einleitenden Aufsatz fordern.

Der Band wird seinem Anspruch, Themen und Perspektiven der Umweltgeschichtsforschung aufzuzeigen, gerecht. Es fallen einem zwar einige Themenfelder ein, die an Bedeutung gewinnen, aber in den Beiträgen höchstens gestreift werden, wie die Geschichte der Naturschutz- und Ökobewegung, der Umweltpolitik oder die Geschichte des Lärms und der Naturkatastrophen. Auch wären noch mehr internationale Perspektiven und grenzüberschreitende komparative Ansätze von Interesse. Aber die Bewegung im Feld und der Eintrag anderer Disziplinen jenseits der Geschichtswissenschaften zeichnen sich plastisch ab. Einen sehr begrüßenswerten Service bietet der Sammelband mit einer Liste umwelthistorisch relevanter Adressen, die nicht nur Archive, sondern auch Arbeitskreise und Gesellschaften umfasst.

Anna-Katharina Wöbse, Bremen





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