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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands- ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Ch. Links Verlag, Berlin 2002, 485 S., brosch., 19,90 EUR.

In aller Regel setzt die historische Erforschung politischer Geschichte erst ca. dreißig Jahre nach den Ereignissen ein, weil dies der Zeitpunkt ist, nach dem normalerweise die Archive für die wissenschaftliche Forschung geöffnet werden. Im Falle der Geschichte der deutschen Einigung von 1989/90 ist dies anders: Einerseits sind die Archive der untergegangenen DDR schon jetzt zugänglich, zum anderen sind auch von westdeutscher Seite die Akten des Bundeskanzleramtes zumindest auszugsweise ediert. Hinzu kommt, dass inzwischen auch eine umfangreiche Memoirenliteratur wichtiger Akteure vorliegt.

Alexander von Plato ist es gelungen, einen weiteren wichtigen Quellenbestand zu dieser Frage zu erschließen. Mehr oder weniger zufällig, so schildert er in der Einleitung, habe er durch ein Gespräch mit dem Hauptberater Michail Gorbatschows für die westlichen Staaten, Anatoli Tschernajew, in Moskau die Gelegenheit erhalten, die sowjetischen Protokolle der Verhandlungen mit den wichtigsten Beteiligten des deutschen Einigungsprozesses einzusehen. Damit ergab sich für ihn die Möglichkeit, die deutschen Akten mit ihrem sowjetischen Pendant zu konfrontieren. Darüber hinaus hat er zahlreiche Interviews mit den damaligen Hauptprotagonisten geführt. Von Plato geht nun daran, auf dieser Basis einen "nationalen Mythos" zu revidieren, der anlässlich des zehnten Jahrestages in den deutschen Medien produziert wurde: "Das Volk der DDR hat auf Initiative der Bürgerrechtsbewegung, geführt von einem weitsichtigen westdeutschen Bundeskanzler, unter dem Beistand des "Meistertaktikers" Gorbatschow unter Bedrohung sowjetischer Generale, unter Nutzung eines nur kurzen Zeitraumes seine Befreiung erkämpft und sich mit der Bonner Republik zu einer gemeinsamen, zukunftsträchtigen neuen Bundesrepublik vereint" (S. 15). Von Plato leugnet die Bedeutung der Bürgerrechtsbewegung in der DDR für deutsche Einheit keineswegs, hält aber die politischen Entscheidungen auf internationaler Ebene für wesentlich wichtiger.

Zunächst versucht er zu zeigen, dass schon im Frühjahr 1989, also vor den Großdemonstrationen in der DDR, die Führung der Vereinigten Staaten entschlossen war, die seit über fünfzig Jahren offene deutsche Frage neu anzugehen. Ziel, so von Plato, sei ein wiedervereinigtes Deutschland als Mitglied der NATO gewesen. Als Quellenbasis dienen ihm eine Rede von Präsident Bush sowie die Publikationen Philip Zelikow und Condoleezza Rice, die er zu dieser Frage auch interviewte. Auf westdeutscher Seite will man allerdings von dieser Neuorientierung der US-Administration jedoch nichts gemerkt haben, wie von Plato aus Interviews mit dem damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher und dem Kanzlerberater Horst Teltschik erfuhr.

Zu dieser grundsätzlichen Bereitschaft der US-Administration, die deutsche Frage mit dem Fernziel Wiedervereinigung neu anzugehen, kam, so von Plato, das Versagen der DDR-Regierung unter dem Eindruck der Demonstrationen im Herbst 1989. Die Absetzung Erich Honeckers durch Egon Krenz kam angesichts der zugespitzten Wirtschaftskrise und der steigenden Unruhe in der Bevölkerung viel zu spät. Bei seinem Moskau-Besuch Anfang November 1989 erklärte Krenz Gorbatschow die desolate Lage der DDR-Wirtschaft. Seit diesem Zeitpunkt, so kann von Plato auf der Basis der Protokolle des Politbüros des Zentralkomitees der KPDSU erstmals zeigen, war Gorbatschow klar, dass die DDR nicht zu halten war. Außenminister Eduard Schewardnadse erklärte in der Sitzung des Politbüros am 3. November 1989, dass die DDR-Regierung selbst für die Beseitigung der Mauer sorgen müsse. Dies aber, so erläuterte Gorbatschow darauf, führe angesichts der Lage in der DDR zum Zusammenbruch dieses Staates. Entscheidend wurde, dass die Moskauer Führung entschlossen war, in der DDR nicht militärisch zu intervenieren, zumal auch sie in der Situation des Jahres 1989 nicht mehr in der Lage war, den ostdeutschen Staat langfristig ökonomisch zu stabilisieren.

Beim Besuch des sowjetischen Deutschlandspezialisten Nikolai Portugalow in Bonn am 21. November 1989 sprach dieser gegenüber der Bundesregierung zum ersten Mal, wenn auch vage, von der Möglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung. Dies sei, so von Plato, für Helmut Kohl das Signal zur Offensive in der Deutschen Frage gewesen, die dann mit der Verkündigung des 10-Punkte-Plans eingeleitet worden sei. Dabei sprach Portugalow nicht im Namen Gorbatschows, wie Kohl annahm. Der Zehn-Punkte-Plan führte nicht nur in Moskau, sondern auch bei den westlichen Verbündeten zu Verstimmungen, weil er keine Selbstverpflichtung der Bundesregierung in Bezug auf die deutsch-polnische Grenze enthielt. Helmut Kohl drängte nun aber auf die Einheit, vor allem weil er befürchtete, dass Michael Gorbatschow angesichts der starken innersowjetischen Opposition gegen seine Europa- und Deutschlandpolitik nicht mehr lange der verantwortliche Politiker in Moskau sein würde. Von Plato weist auf der Basis von Interviews mit den damals verantwortlichen Politikern in Moskau nach, dass diese zu diesem Zeitpunkt keinen Putsch befürchteten. Es war geradezu umgekehrt: In Gorbatschows Umgebung, auch diese Erkenntnis ist neu, wurde zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit eines Staatsstreiches diskutiert mit dem Ziel, die Macht des Generalsekretärs zu stärken. Entscheidend für Kohls Handeln war dennoch seine Perzeption der Situation der Situation in Moskau.

Es folgten die entscheidenden Gespräche Gorbatschows mit dem DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow, US-Außenminister James Baker und Bundeskanzler Helmut Kohl in Moskau, die zum Durchbruch für die deutsche Wiedervereinigung führten. Von Plato montiert hier die deutschen und die sowjetischen Protokolle mit den publizierten Memoiren Bakers, Modrows und Teltschiks, ergänzt durch Interviews mit den Beteiligten zu einem Gesamtbild. Auch wenn hierdurch das bislang bekannte Gesamtbild des Einigungsprozesses nicht grundlegend verändert wird, werden durch diese Methode doch wichtige, bislang übersehene Details zu Tage gefördert: Von Plato betont einerseits die Unsicherheit der sowjetischen Führung, die offenkundig kein Gesamtkonzept zur Lösung der anstehenden Probleme entwickelt hatte. Das lag nicht zuletzt daran, dass die deutsche Frage nur eines von einer Vielzahl drängender Probleme der sowjetischen Politik war. Herausragende Bedeutung hatte, und das scheint den westlichen Politikern in dieser Zeit nicht deutlich gewesen zu sein, die Rettung der Sowjetunion als Staatsgebilde insgesamt, auf dem ökonomischen und dem politischen Sektor. Die Unabhängigkeitsbewegungen in Litauen und Aserbeidschan stellten die Sowjetunion als Staat in Frage, sie waren daher aus der Perspektive Gorbatschows wesentlich wichtiger als die deutsche Frage, die nur die Peripherie des Sowjetimperiums betraf. Zum zweiten wird deutlich, dass es entgegen der Wahrnehmung in Deutschland nicht Helmut Kohl allein war, der in Moskau den "Schlüssel zur Einheit" erhandelte, sondern dass das entscheidende Gespräch jenes mit James Baker war, der von Gorbatschow als erster die Zusage erhielt, dass die Entscheidung über die deutsche Einheit allein beim deutschen Volk liegt. Anschließend schildert von Plato die innerdeutsche Entwicklung, die Volkskammerwahlen in der DDR, die "Zwei-plus-Vier-Verhandlungen" und den Abschluss des deutschen Einigungsprozesses.

Das Buch ist aus zwei Gründen bedeutsam: Zum einen erschließt es einen neuen Quellenbestand, die sowjetischen Gesprächsprotokolle, die der bisherigen Forschung über den deutschen Einigungsprozess nicht zur Verfügung standen. Zum andern gelingt es von Plato überzeugend, die aus den diplomatischen Quellen gewonnenen Erkenntnisse mit jenen zu kombinieren, die er in seinen Interviews mit wichtigen Beteiligten gewann. Gerade diese in dieser Frage bislang einzigartige Kombination von Quellen erweist sich als äußerst aussagekräftig.

Guido Thiemeyer, Kassel





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