ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Karl-Egon Lönne (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918-1933 (= Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe Bd. 8), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, 496 S., geb., 69 EUR.

Es handelt sich um ein Quellen-Lesebuch, für das der Herausgeber, früher Professor für Neuere Geschichte in Düsseldorf, 77 Texte ausgewählt hat, die die Hauptprobleme des politischen Denkens in der Weimarer Republik dokumentieren sollen. Dabei geht es nicht – sonst wäre der Titel irreführend – um "philosophische Reflexionen über Grundprobleme der Politik". Ziel ist vielmehr, eine Sammlung von Überlegungen zu bieten, in denen aktuelle Anlässe zu grundsätzlichen Ausführungen über das staatliche Wesen der Weimarer Republik, ihre Vorzüge und Schwächen geführt haben.

Es sind Beiträge zu politischen Zeitschriften, Auszüge aus Büchern und Broschüren sowie Zeitungsartikel von ca. 60 Autoren aus dem gesamten politischen Spektrum der Weimarer Republik von Kommunisten über Sozialisten, Sozialdemokraten, Liberale, Vertreter des Politischen Katholizismus, der "Konservativen Revolution" bis zu Alt-Konservativen und Nationalsozialisten. Die überwiegende Mehrzahl der Autoren rechnet Lönne zur politischen Intelligenz, der er unter Berufung auf Karl Mannheim und Jürgen Habermas eine wichtige Rolle im "Prozess der Identitätsfindung und Selbstdeutung einer Zeit und ihrer Gesellschaft" zuerkennt; dass auch einige Autoren zu Wort kommen, deren Aufnahme unter diesem Aspekt befremdlich erscheinen mag (z. B. Hitler, Ulbricht), rechtfertigt Lönne damit, dass manche Texte, die sich "als Ausdruck politischen Denkens ausgab[en], ohne es tatsächlich zu sein", gleichwohl "allzu oft die Position, die ernsthaftes politisches Denken nicht erreichen konnte", besetzt hätten (S. 24). Recht versteckt (S. 12) sind in einem Sonderverzeichnis die Autoren nach politischen Richtungen sortiert; dort ist Georg Bernhard (Nr. 30) irrtümlich den konservativen Stimmen statt den Liberalen zugerechnet.

Die Texte werden nicht nach Problemfeldern geordnet dargeboten, sondern in chronologischer Reihenfolge. Das war wohl eine Notlösung, weil eine systematische Anordnung die unbefangene Annäherung der Leser mehr als nötig tangieren würde; sie ist vertretbar, denn ein solches "Lesebuch" wird ja in der Regel nicht Seite für Seite studiert werden, sondern soll die Möglichkeit zur Auswahl unter eigenen Aspekten und Fragestellungen bieten. Als Handreichung hat der Herausgeber aber im zweiten Teil der Einleitung sämtliche Texte bestimmten Problemfeldern zugeordnet und in unterschiedlicher Ausführlichkeit erläutert.

Er hebt zunächst 6 Nummern heraus, die "Grundprobleme des politischen Denkens" behandeln (Abschnitt A: Autoren sind Max Weber, Karl Mannheim, Adolf Grabowsky, Ernst Bloch, Carl Schmitt und Alfred Döblin). Für die anderen bedient er sich des üblichen Dreiphasenschemas (Abschnitt B: Revolution und Neubeginn 1918-22; C: Stabilisierung 1923-28; D: Krise und Untergang 1928-33), um die jeder Phase zeitlich zugehörigen Texte drei oder vier Sachgruppen zuzuweisen.

Im Abschnitt B geht es um Überlegungen, welche bedenklichen Folgen es haben werde, dass die revolutionären Maßnahmen nicht weit genug oder zu weit getrieben oder in eine unerwünschte Richtung gelenkt worden seien; dazu kommen Äußerungen, die eine von vornherein skeptische oder ablehnende Position gegenüber der Republik ausdrücken. Im nächsten Abschnitt werden neben einigen Verteidigern des Erreichten (C I) und einigen unversöhnlichen Gegnern (C III) unter der Überschrift "Ausbau, Umbau oder Zersetzung des Staates" (C II) – für mich nicht überzeugend – konstruktive Kritiken mit überwiegend negativ urteilenden Stimmen zusammengefasst. Im Abschnitt D werden die genannten Linien weiterverfolgt, eine gewichtige zusätzliche Untergruppe sind Beiträge, die Möglichkeiten und Gefahren des Verfassungswandels erörtern, der als Folge der Politik der Präsidialkabinette zu beobachten war. Einige wenige Beiträge werden zwei Gruppen zugeordnet.

Insgesamt sind die radikalen Kritiker und Feinde der Republik stärker vertreten als die Befürworter und gemäßigten Kritiker. Das entspricht wohl den damaligen Kräfteverhältnissen und ist darum vertretbar; es wäre dennoch lohnend gewesen, den in der Forschung eher zu kurz gekommenen positiven Stimmen etwas mehr Raum zu geben. Bemerkenswert ist, dass Carl Schmitt mit vier längeren Texten am häufigsten berücksichtigt ist, gefolgt von Arthur Moeller van den Bruck mit drei Passagen. Hugo Preuß und einige andere Liberale sind mit zwei Texten vertreten, ebenso die Kommunistin Clara Zetkin sowie Hitler und Goebbels.

Aus dem Rahmen fallen die beiden kurzen und wenig ergiebigen Inhaltsangaben anstelle von Textauszügen aus Artikeln Alfred Rosenbergs und Roland Freislers im "Völkischen Beobachter" (Nr. 40 u. Nr. 65). Ein Fremdkörper, weil primär ein tagespolitisch-taktisches Dokument, sind die Leitsätze der KPD von 1923 über Einheitsfront und Arbeiterregierung (Nr. 26). Lönne hat die meisten Texte mit eigenen Überschriften versehen. Um die exakten Originaltitel zu finden, muss man, was unbequem ist, jedes Mal im Quellenverzeichnis nachschlagen. Die Seitenangaben im Quellenteil beziehen sich stets nur auf die dem Druck zugrundegelegte Fassung, oftmals aus späteren Ausgaben.

Der Band sollte in keiner Bibliothek der historischen und politikwissenschaftlichen Institute fehlen und scheint mir auch gut geeignet, um den Unterricht der Sekundarstufe II mit Quellen zu bereichern.

Ernst Laubach, Münster i.W.





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