ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Die beiden hier zu besprechenden Bücher gehören zur Holocaust-Literatur. Sie widmen ihre in literarischer Ausdrucksform angelegten Memoiren, die Gegenwart und Vergangenheit vermischen, ihren Eltern bzw. ihrer Mutter, die ihnen zweifach das Leben geschenkt hätten, genetisch und durch die Errettung vor dem Holocaust.

Shmuel Thomas Huppert, geb. 1936 in Teschen (heute Tschechien), spannt einen Bogen von dem KZ Bergen-Belsen, das sich zu seiner Zeit von einem Durchgangs- zu einem Vernichtungslager (S. 186) entwickelt hatte, bis zum Israel der Gegenwart. Als Leitmotiv greift er die Frage einer Schülerin in Lübeck auf, ob er Anne Frank gesehen habe, als er am Lagerzaun in Bergen-Belsen stand.

Der Autor bettet seine Erzählungen ein zwischen seinen Erfahrungen mit dem mörderischen Alltag und dem Überlebenskampf in Bergen-Belsen und seinem Leben nach dem Holocaust in Israel. Er verlässt Erez Israel nur noch zu aufklärenden Vortragsreisen nach Deutschland sowie seiner hier beschriebenen Spurensuche nach der Kindheit in Teschen an der Grenze zu Polen. Im Gegensatz zu seiner Mutter, die meint, sie hätten Glück gehabt zu überleben, kommt er zu dem Schluss, dass er Gefängnis, Ghetto und Konzentrationslager nur durch die außergewöhnlichen, übersinnlichen und "überlebenswichtigen" Kräfte seiner Mutter überstanden habe (S. 181). Mutter und Sohn trug auch die Hoffnung, dass ihnen der Vater Walter – seit 1939 in Palästina – ein Zertifikat der englischen Mandatsregierung zuschicke, das ihnen die Einreise dorthin ermöglichen sollte. Die übrige Familie wurde in Auschwitz und Belzec umgebracht.

Der Mutter Hilde, die als Überlebende nächtliche Verfolgungs- und Alpträume hat, wird geraten, sie solle sich durch Reden oder Niederschreiben von der Vergangenheit befreien. Typisch für diesen Rat ist es, dass er nicht von den Verfolgten und Überlebenden des Holocaust selbst kommt, sondern oft erst durch Anregungen der Kinder und Enkel beherzigt wird (s.a. Chapman). Dieses Verhalten könnte man mit den fiktiven Erzählungen Günter Grass’ in "Mein Jahrhundert" vergleichen

Die Mutter Hilde schreibt "Hand in Hand mit Tommy", einen Bericht, der zunächst auf wenig Interesse bei den auf den Aufbau konzentrierten Israelis stößt – wie sich überhaupt einige Israelis fragen, warum sich die europäischen Juden "wie Lämmer zur Schlachtbank" haben führen lassen (S. 180). Schließlich gäbe es doch Beispiele, dass sie gegen die Deutschen gekämpft hätten, z.B. an der italienischen Front.

Shmuel Thomas Huppert gibt zu, dass er bei seinen geschilderten Episoden oft nicht habe unterscheiden können, was seiner Erinnerung oder derjenigen der Mutter entspringt. Aus seiner Geburtsstadt Teschen flieht die Familie ins polnische Ivanitz, wo sie Unterschlupf bei einer Bauernfamilie fand. Dies war nicht selbstverständlich, weil selbst unter polnischen Partisanen der Antisemitismus grassiert haben soll. Danach wurden sie in das Gefängnis von Krakau deportiert, sodann 1942 ins Ghetto Krosno und Rzeszow und schließlich 1944 nach Bergen-Belsen. Aus diesem Lebensabschnitt datiert auch seine Abneigung gegen Umzüge, denn sie erinnern ihn an den Transport im Viehwagen von Ghetto zu Ghetto und ins KZ.

Obgleich er die Leiden im KZ schildert, widmet er seine Erinnerungen ausführlicher dem Leben im Ghetto. Damit steht er im Gegensatz zu den Zeitzeugen, die Friedhelm Boll interviewt hat: Diese hätten jeweils die KZ-Situation öfter und ausführlicher beschrieben als die Ghetto-Situation (S. 103). So erinnert der Autor – Gegenwart und Vergangenheit mischend – an eine Episode aus dem Ghetto: Die Mutter Hilde ist an Typhus erkrankt; der "Todesengel" wird jedoch durch die Gebete ihres Sohnes und kraft eines herbei geholten Zaddik (Wunderheiler, wörtlich "Gerechter") verscheucht. Einem Zaddik meint er auch auf einer Reise mit seiner Frau Mimi, die in Israel geboren wurde, in der Synagoge von Dortmund begegnet zu sein. Zu seiner Überraschung ist das Gebäude nicht als Synagoge gekennzeichnet, sondern verbirgt sich in einem normalen Wohnhaus, weil – wie seine Glaubensgenossen ihm versichern – sie Angst vor den "Gojim" und Arabern hätten.

Seine Gefühle nach dem Holocaust beschreibt er in einer weiteren Episode: Auf der Zugfahrt von Frankfurt nach Dortmund trifft er im Abteil ein älteres Ehepaar, dem er mit Misstrauen begegnet – sie könnten ja zu den Tätern gehören – bis es sich als gastliches Pastorenehepaar entpuppt und die Israelis auf Hebräisch zu Hause begrüßt. Ähnliches Misstrauen – durchaus berechtigt – hegt er bei seiner Reise in die Vergangenheit nach Teschen, als er im einzigen, früher renommierten Hotel absteigt, sein Elternhaus und die Geschäfte seines Großvaters Siegmund Huppert besucht. In dem inzwischen gottverlassenen Ort spricht sich schnell herum, dass "Tommy" – wie er als Kind genannt wurde – zurück gekehrt sei. Er stößt bis auf wenige Ausnahmen auf Ablehnung, selbst bei einem Glaubensgenossen, vor allem aber bei den früheren Kommunisten, die die deutschen Nazis abgelöst hätten.

Die Abneigung gegen Arbeiter, Arbeiterbewegung, revolutionäre Umtriebe 1918/19 und Kommunisten, die Angst vor damit verbundenen Pogromen ziehen sich wie ein roter Faden durch die geschilderten Episoden des Buches (S. 99 ff., S. 104 ff., S. 148). Die Eindrücke im heutigen Teschen beschwören bei Shmuel Thomas Huppert Erinnerungen an seine Kindheit herauf. Besonders gelungen sind darin die Porträts seiner beiden Großväter: Großvater Siegmund war ein assimilierter, wohlhabender städtischer Jude, der die in Teschen ansässigen Juden und seine Familie als "Tschechen ..., die deutsch sprechen und an die Religion Moses’ glauben" (S. 109) definierte. Sein Gegenpol war Großvater Selig Biegeleisen, ein Landjude und Gemüsehändler, der jenseits der Olsa in Polen lebte. Während Großvater Siegmund im Ersten Weltkrieg in der kaiserlich-österreichischen Armee diente und sogar einen Orden bekam, was er dann 1918/19 gegen die revoltierenden und plündernden Arbeiter ausspielte, war Großvater Selig ein Orthodoxer, der "Rebbe" (Rabbi) gerufen wurde (S. 123). Im Gegensatz zu dem am westlichen Ausland orientierten Großvater Siegmund reiste Großvater Selig vor der Shoah zu seinem Sohn Dovidel nach Palästina in ein Kibbuz. Obgleich er sowohl Deutschland als auch Palästina als "Exil" empfand, kaufte er ein Grundstück in Jaffa (er starb 1938).

Fazit seiner Darstellungen ist, dass man die eigene Menschlichkeit bewahren solle. Dies sei eine Hilfe für den Überlebenskampf (S. 187), obgleich sich im KZ oder im Ghetto häufig eine Charakteränderung einstelle, die er auch bei sich festgestellt habe: Als Großvater Siegmund im Ghetto die gute Nachricht überbringt, dass Mutter Hilde und Tommy das Zertifikat aus Palästina bekommen werden, er aber nur an Brot denkt und sich nicht fragt, was aus der restlichen Familie werden soll. In diesem Zusammenhang gibt er einer Episode aus Auschwitz mit religiösen Motiven Raum: Ein jüdischer Häftling erwägt, seinen Sohn mit einem versteckten Diamanten von der "Dusche" auszulösen. Er habe jedoch auf den Rabbiner gehört und sich dagegen entschieden mit Blick auf das Alte Testament, die Opferung Isaaks durch Abraham. Huppert fügt hinzu, dass in Auschwitz leider kein Gott erschienen sei, der ihn errettete, und fragt sich, wie der Vater seinen Glauben bewahren konnte.

Die Kurzgeschichten, die die Spurensuche in seiner Kindheit, die gegenwärtige Situation in Tschechien und Israel widerspiegeln, sind eine Bereicherung und Ergänzung für die dem Holocaust gewidmete politische und wissenschaftliche Literatur. Gerade weil sie sehr emotional, manchmal sogar unkritisch niedergeschrieben sind (z.B. die Themen Großvater Siegmund, Kaiserreich Österreich/Ungarn und Israel), rütteln sie den Leser auf, wie seinerzeit das Tagebuch der Anne Frank, und könnten bei einer breiten Leserschaft den gleichen Effekt erzielen wie die Filme "Holocaust" und "Schindlers Liste". Jedenfalls rufen sie auf gegen das Vergessen, das Abstumpfen der Empfindsamkeiten und zum Kampf gegen Antisemitismus und Fremdenhass.

Anders konzipiert ist Fern Shumer Chapmans Bericht von einer 1990 unternommenen Reise in die Vergangenheit – nach Deutschland. Im wesentlichen handelt es sich hier um eine psychologische Studie über eine Mutter-Tochter-Beziehung . Die Mutter, Edith Westerfeld, wurde 1938 mit dem Jewish Childrens Service nach ihrer Schwester, jedoch ohne ihre Eltern, in die USA zu Verwandten geschickt, um dort – frei von Repressalien der Nazis – aufzuwachsen. Die Eltern wurden Opfer der Verfolgung, und da sie 1939 nicht genügend Geld zur Auswanderung hatten, starb der Großvater Siegmund Westerfeld 1941 im KZ Sachsenhausen, die Großmutter musste in Darmstadt in einem sogenannten Judenhaus wohnen, bis sie nach Polen ins Ghetto von Lublin verschleppt wurde (S. 173).

Fern Shumer Chapman stellt die Details der Erinnerungen seiner 65-jährigen Mutter unter das Motto, dass sie keine Identität habe, da die Mutter Flüchtling war – eine Tatsache, die sie dazu veranlasst, die Mutter-Tochter-Beziehung unter das Babuschka-Prinzip der russischen Puppen zu stellen. Bei der Ankunft nach dem Flug von Chicago nach Frankfurt am Main sehen sie den Zollbeamten als potenziellen Nazi wie alle anderen älteren Personen in Deutschland, die der Mutter, wie indirekt der Tochter, das Leben zerrüttet haben. Deshalb akzeptieren sie auch keinen VW als Leihwagen. Mit dieser Einstellung kehren sie nach Stockstadt am Rhein, der Heimatstadt der Mutter, zurück, um dort ihre Identität zu suchen.

Nachdem sie klar gemacht haben, dass sie das Elternhaus nicht zurück fordern wollen, nehmen sie zusammen mit dem Leiter des Heimatmuseums von Stockstadt, Hans Herrmann, der sich ihnen als Fremdenführer anbietet, an einer Führung teil, die für die Mutter mit vielen schmerzhaften Erinnerungen verbunden ist. Sie lassen sich auch zur Teilnahme an einem Klassentreffen überreden, auf dem der Grundtenor lautet: "Wir haben getan, was uns gesagt wurde ... wir haben nichts gewusst" (S. 131). Außerdem besuchen sie den völlig verwilderten jüdischen Friedhof und legen nach jüdischer Sitte Steine auf die Grabmäler.

Genau wie Shmuel Thomas Huppert hasst Edith Westerfeld jegliche Veränderung: Beide sind traumatisiert durch die Veränderungen, die ihnen als "zerstörende Transformationen ihres Lebens" (S. 204) aufgezwungen wurden. Wie Hupperts Großvater fühlte sich auch Großvater Siegmund Westerfeld in Deutschland sicher, weil er Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen war. In dem Heimatmuseum erinnern die Gegenstände an Edith Westerfelds Jugend, z.B. das Bügeleisen, das Butterfass und der Schulranzen. Viele Gegenstände hatten sich die Deutschen in der Reichspogromnacht angeeignet oder zerstört. Die Autorin stellt die gewagte These auf, dass im Gegensatz zu den Amerikanern, die sich schuldig am Vietnam-Krieg fühlen, die Deutschen kein Gefühl der Schuld am Pogrom vom 9. November 1938 hätten. Während die Beschäftigung mit der Vergangenheit bei der Mutter viele Schmerzen auslöste, habe Hans Herrmann, der Kustos und Fremdenführer, Wert darauf gelegt, dass der ganze Ort erfahre, was wirklich passiert sei: Die "arische" Bevölkerung habe unterlassen zu helfen - mit einer Ausnahme: Mina Fiedler, das ehemalige Dienst- und Kindermädchen der Westerfelds.

Mina erlebte die Kindheit und Abreise Ediths mit. Mina wurde jedoch wegen der Rassegesetze (15.9.1935) als "Judenhure" beschimpft und schließlich auf Druck der Umwelt und wegen Geldmangels entlassen. Nach einer Irrfahrt quer durch den Odenwald treffen sie in Tromm auf Mina, die sich in den kleinen Ort zurückgezogen hat, weil sie in Stockstadt nicht mehr leben und atmen konnte. Die Begrüßung ist sehr emotional, weil Mina immer noch in der Vergangenheit lebt. Sie leidet an Asthma, sie ist "atemlos" über die Vorkommnisse, wie ihr Sohn Jürgen es ausdrückt (S. 214). Für Mina sind alle Nazis "Schweinehunde", und sie erzählt aus der Vergangenheit Episoden, die selbst Edith Westerfeld nicht geläufig sind. So beschreibt sie die Verdrängung der Juden und speziell der Familie Westerfeld aus dem öffentlichen Leben Stockstadts, z.B. den Boykott des landwirtschaftlichen Geschäftes, das Verbot, Musikunterreicht wahrzunehmen, das Verbot des Schwimmbads, die Verhöhnung und Vertreibung Siegmund Westerfelds aus dem Gasthof und schließlich die sog. Kristallnacht.

Die Erzählung wird jeweils unterbrochen durch Hustenanfälle Minas: die Vergangenheit ersticke sie. Sie sei als "Judenfreundin" von ihrem Heimatort regelrecht ausgestoßen worden. Mina sei eine "Jüdin aus Solidarität" (S. 167). Nach ihrer Heirat sei sie mit ihrem Mann nach Polen ausgewandert, sie wusste um die Konzentrationslager. Bei ihrer Rückkehr wurde sie als DP (displaced person) eingestuft. Nach Minas Tod fünf Jahre später reisen die gesamte Familie Chapman und Mutter Edith erneut nach Stockstadt und treffen sich mit Minas Sohn Jürgen, der ihnen auf seine Weise die Geschichte Stockstadts erklärt. Das Buch schließt mit einem Epilog, in dem Jürgen und die Kinder von Fern Shumer Chapman sie und Edith Westerfeld in die Gegenwart zurück holen.

Die Erinnerungen Fern Shumer Chapmans sind mit allzu großer Liebe zum Detail und mit betontem psychologischem Einfühlungsvermögen geschrieben, so dass der Historiker ein Faktengerüst vermisst. So ist das Buch als gefühlvolles Tagebuch einer Reise ins "Mutterland" zu werten, das jedoch historisches Wissen voraussetzt.

Rosemarie Leuschen-Seppel, Bonn





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