ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, hrsg von Karl Erich Born, Hansjoachim Henning und Florian Tennstedt.
I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867 bis 1881);
Band 6: Altersversorgungs- und Invalidenkassen, bearb. von Florian Tennstedt und Heidi Winter unter Mitarbeit von Elmar Roeder, Christian Schmitz und Uwe Sieg. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, XL+638 S., geb. 65 EUR;
Band 7: Armengesetzgebung und Freizügigkeit, bearb. von Christoph Sachsse, Florian Tennstedt, Elmar Roeder unter Mitarbeit von Margit Peterle, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, XLVIII+986 S., 2 Halbbände, geb., 118 EUR.

Mit den beiden hier vorgestellten Bänden ist die Frühgeschichte der deutschen Sozialpolitik nunmehr fast vollständig dokumentiert. Von der I. Abteilung fehlt nur noch Band 8, der die Diskussion der Grundsatzfragen in der Öffentlichkeit darstellen soll, in Ergänzung zu Band1, der die Diskussion auf Regierungsseite verfolgte. Auf ihn darf man jetzt schon gespannt sein, da die Abgrenzung der beiden Diskussionsprozesse voneinander Aufschlüsse über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft erwarten lässt. Wie berechtigt diese Abgrenzung ist, zeigt Bd. 7, denn die Armengesetzgebung wird in der Auseinandersetzung zwischen Reichsregierung, Reichstag und Einzelstaaten entwickelt, in die sich Verbände und Vereine erst nach Verabschiedung des Unterstützungswohnsitzgesetzes (UWG) 1870 einschalten. Während das Armenwesen ganz wesentlich von den gesellschaftlichen Kräften vor Ort bestimmt wurde, berührte die Armengesetzgebung verfassungsrechtliche Probleme des Verhältnisses zwischen Zentralgewalt und Partikulargewalten, zwischen Gemeindebürgerschaft und Staatsbürgerschaft, mit weitreichenden Konsequenzen für die rechtliche Stellung und politische Identität des einzelnen Bürgers. Das UWG ersetzte im ganzen Norddeutschen Bund das Heimatprinzip, nach dem ein Bedürftiger von seiner Heimatgemeinde unterstützt werden musste, durch das in Preußen seit 1842 gültige Prinzip, wonach Bedürftige von der Gemeinde unterstützt werden mussten, in der sie seit mindestens zwei Jahren wohnten. Der Unterstützungswohnsitz konnte also durch bloßen Zeitablauf erworben werden, während das Heimatrecht nur durch Geburt oder mit Zustimmung der Gemeinde erworben werden konnte. Das UWG entsprach so dem Recht auf Freizügigkeit und bildete den Abschluss einer Reihe von Gesetzen des Norddeutschen Bundes, die die alten Bindungen der traditionalen Gesellschaft auflösten und räumliche, soziale und wirtschaftliche Mobilität ermöglichten.

Wie sehr Freizügigkeit, Freiheit der Eheschließung, Gewerbefreiheit und Reform des Armenwesens zusammenhingen als Teile eines Programms der Liberalisierung und Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, zeigt das Beispiel Bayerns, dem der zweite Halbband gewidmet ist. Auch dort wurden 1867 bis 1869 Gesetze zu "Gemeindewesen, Ansässigmachung und Verehelichung, Heimat und Aufenthalt, Armenwesen und Gewerbswesen" (S. 672) erarbeitet, die bezeichnenderweise unter dem Namen "Sozialgesetze" zusammengefasst wurden. Wie die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes waren auch die bayerischen Sozialgesetze bestimmt von den Ideen der liberalen Sozialpolitik, durch Freisetzung der Kräfte des Einzelnen das Wirtschaftswachstum zu fördern und so das Wohl des Landes und die Leistungsfähigkeit der Gemeinden zu heben. In dieser Periode wirtschaftlichen Aufschwungs ist der liberale Optimismus, die Hoffnung auf die positiven Wirkungen der Freizügigkeit, stärker als die Angst vor dem Zuzug Armer. Bayern konstituierte aber insofern einen Sonderfall, als es, anders als die übrigen süddeutschen Staaten, nach 1871 das UWG nicht übernahm, sondern am Begriff der Heimatgemeinde festhielt. Doch konnte auch hier das Heimatrecht nach Ablauf von 5 bzw. bei Unselbständigen (z.B. Dienstboten) 10 Jahren erworben werden.

Modern wirkte die bayrische Armengesetzgebung vor allem, weil sie die Prävention von Armut betonte; doch setzte sie ganz im Sinne der liberalen Sozialdoktrin noch ausschließlich auf Bildung, Kredit und Sparkassen zur Verhinderung von Armut. Sozialpolitik war hier noch nicht Arbeiterpolitik, doch ist bereits zu erkennen, wie sich aus dem Armenwesen heraus eine Sozialversicherungspolitik differenzierte, teils im direkten Gegensatz zu den Prinzipien der Armengesetzgebung, teils in ihrer logischer Fortentwicklung. So richteten sich die in Deutschland maßgeblich von den Gewerkschaften entwickelten Institutionen der Arbeitslosenversicherung gerade gegen die Regeln des Armenrechts, wonach jede Arbeit, unabhängig vom Verdienst und vom Beruf des Arbeitslosen, zumutbar war. Andererseits leitete das bayrische Gesetz aus der Pflicht der Gemeinde, kranke Dienstboten, Gesellen und Arbeiter zu unterstützen, das Recht ab, Krankenkassen mit Beitragszwang zu errichten. Während der Hilfsbedürftige auf die Unterstützung der Gemeinde keinen Anspruch besaß, begründete die Beitragszahlung einen Rechtsanspruch und befreite den Betroffenen, Angehörige oder Arbeitgeber von der Pflicht, der Gemeinde die Kosten nachträglich zu erstatten. Wie der § 29 des UWG, der sich allerdings nicht auf Fabrikarbeiter bezog, verpflichtete auch das bayerische "Gesetz über öffentliche Armen- und Krankenpflege" diejenige Gemeinde, in der der Hilfsbedürftige arbeitete, zur Unterstützung im Krankheitsfall, also nicht die Heimatgemeinde oder den Wohnort. Das Arbeitsverhältnis begründete so die soziale Bindung des Arbeiters, nicht seine Herkunft oder seine Gemeindebürgerschaft.

Dieser potentielle Effekt sozialer Sicherung, soziale Bindungen zu schaffen und die Orientierung an und Identifikation mit derjenigen Institution, die Sicherheit bietet, zu fördern, stand im Mittelpunkt der deutschen Debatte um die Altersversorgung. Sowohl betriebliche Altersversorgungskassen nach dem Vorbild der Knappschaften als auch Ideen für eine gesetzliche Altersversorgung entstanden nicht als Antwort auf ein drängendes soziales Problem, etwa weil man die Armenkassen hätte entlasten müssen, sondern als Teil eine politischen Projekts, die Arbeiter an den Betrieb zu binden oder sie, wie es Bismarcks Absicht war, durch die Aussicht auf eine staatliche Pension an diesen Staat zu binden. Die Diskussion innerhalb der Reichsregierung, Berichte der preußischen Bezirksregierungen und Kommunalbehörden und Überlegungen und Erfahrungen aus den Regierungen anderen Staaten sowie die Debatte im Arbeitgeberlager dominieren deshalb diesen Teil der Quellensammlung. Die Arbeiterbewegung ist weit weniger präsent als in der Auseinandersetzung um die Krankenkassen, weil im Bereich der Altersversorgung keine Tradition freier Hilfskassen bestand. Die Gesellen hatten ja gehofft, im Alter als Meister selbständig und nicht auf Zahlungen aus einer Alterskasse angewiesen zu sein. An die Stelle der Hoffnung auf den Aufstieg aus der Lohnarbeit, die in Deutschland, anders als z.B. in Frankreich, schon früh illusorisch schien, trat als neues liberales Modell der Alterssicherung die Rentenzahlung aus einem angesparten Kapital. Liberale Beamte und Politiker sahen deshalb in der staatlichen Absicherung und Verzinsung der Spareinlagen der Arbeiter nach englischem oder französischem Vorbild eine sinnvolle Form staatlicher Intervention. Gegen Ende der 70er-Jahre wurde aber die Unzulänglichkeit dieses Modells ebenso deutlich wie der Misserfolg der von den Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereinen errichteten Alters- und Invalidenversicherung, die das im Vergleich zu Krankenkassen weit höhere finanzielle Risiko unterschätzt hatte.

War die aus der Kaiser-Wilhelms-Spende finanzierte "Stiftung für Altersrenten- und Kapitalversicherung" ebenso wenig wie die sächsische Altersrentenbank eine Antwort auf die Frage der Altersversorgung von Arbeitern, so stieß andererseits auch das konservative Projekt der Betriebsrentenkassen auf Kritik und Widerspruch. Sein Initiator, Stumm, hatte es im Reichstag ausdrücklich als Gegengewicht zur Koalitionsfreiheit entwickelt und zielte darauf, mit den Mitteln einer paternalistischen betrieblichen Sozialpolitik die Freiheit und Freizügigkeit der Arbeiter einzuschränken. Der Widerspruch zwischen dem staatlichen Interesse an Freizügigkeit und dem Interesse der Arbeitgeber, die Arbeiter an einen Betrieb zu binden, prägte die Auseinandersetzung um die Altersversorgungskassen in gleicher Weise wie der Widerspruch zwischen Freizügigkeit und Heimatrecht die Debatte um die Armengesetzgebung. Darüber hinaus verletzte die Praxis der Arbeitgeber, Arbeiter für jedes Vergehen mit dem Verlust der Rentenansprüche zu bestrafen, das Rechtsbewusstsein der Liberalen. Bismarcks Standpunkt, dass die gewünschte Loyalität und Zufriedenheit der Arbeiter nur erreicht werden könne, wenn diese sich ihrer Pension ebenso sicher sein könnten wie ein Beamter, deutet schon darauf hin, dass auch von konservativer Seite ein Rechtsanspruch der Arbeiter angestrebt wurde, der dann aber, anders als von Bismarck gewollt, durch das liberale Modell der beitragsfinanzierten Versicherung begründet wurde. Die Berechtigung des Staates, Zwangsbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu erheben, war im Vergleich zu diesen Fragen von Freizügigkeit, Bindung und Sicherheit weit weniger umstritten, als der linksliberale Widerstand gegen den "Staatssozialismus" vermuten ließ. Die Verrechtlichung und Zentralisierung der Armenpflege schuf, wie übrigens auch 35 Jahre später in Frankreich, die Legitimationsgrundlage für die Sozialversicherungsgesetzgebung.

In der Zusammenschau zeigen die beiden Bände der Quellensammlung die liberale Phase der "Sozialpolitik vor dem Sozialstaat", die im Reich mit der Zusammenarbeit zwischen Bismarck und den Liberalen 1878 endete, nicht als bloße Vorgeschichte der Sozialversicherungsgesetzgebung der 80er-Jahre, sondern als entscheidende Auseinandersetzung mit dem Wandel Deutschlands zur Industriegesellschaft, gekennzeichnet durch hohe Mobilität und Lohnarbeit als lebenslangem Stand. Die Bewältigung dieses gesellschaftlichen Wandels erscheint viel mehr als ein Problem der Integration der Arbeiter denn als Problem ihrer sozialen Absicherung. Die Publikation der Quellensammlung bietet deshalb nicht nur der Geschichte der Sozialpolitik wesentlich verbesserte und erweiterte Arbeitsgrundlagen, sondern darüber hinaus wichtige Anstöße für Forschungen zur politischen und Sozialgeschichte Deutschlands. Nicht zuletzt schärft die Aktualität der hier dokumentierten Debatten um Bürgerrechte in einem Staatenbund, der zum Bundesstaat wird, und um private Geldanlage, Betriebsrente und gesetzliche Versicherung als Formen der Altersvorsorge den Blick für die Bedeutung des derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Wandels.

Nicht genug gelobt werden kann schließlich die vorzügliche Einleitung, Kommentierung und Erschließung der Quellen durch Sach-, Personen- und Ortsregister. Die Quellensammlung kann zugleich als Bibliographie, Forschungsbericht, biographisches Nachschlagewerk und rechtshistorischer Kommentar benutzt werden. Wie sehr die Herausgeber den praktischen Nutzen dieser Sammlung im Auge haben, zeigt z.B. auch der Anhang, der nicht nur die relevanten Gesetze, sondern auch Statuten umfasst, von denen die Bearbeiteter festgestellt hatten, dass sie durch Fernleihe schwer zu beschaffen waren. Ein offener Wunsch – vielleicht als Anregung an den Verlag: die Zusammenfassung der Einleitungen sämtlicher Bände ergäbe eine exzellente "Einführung in die Geschichte der deutschen Sozialpolitik", die dann auch für diejenigen erschwinglich wäre, die diese großen Quellenbände nicht erwerben können.

Sabine Rudischhauser, Wien





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