ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Volker Ullrich, Fünf Schüsse auf Bismarck. Historische Reportagen, beck’sche reihe, C.H. Beck, München 2002, 234 S., kart., 9,90 EUR.

Volker Ullrich hat unter dem Titel "Fünf Schüsse auf Bismarck" eine Sammlung von 18 "historischen Reportagen" vorgelegt, deren Zeithorizont mit der Vorgeschichte der Französischen Revolution beginnt und mit dem deutschen Verdrängungsphänomen nach 1945 endet. Es sind Beiträge für Rundfunk und Zeitung geschrieben, die zwischen 1989 und 2001 veröffentlicht wurden. Was dürfen wir hier erwarten? Ein Kessel Buntes, ein schmuckes Bouquet historischer Blüten, ein unterhaltsames Potpourri? Volker Ullrich, der geneigten Leserschaft als Autor der Zeitläufte in der Zeit bekannt, hängt in dem Vorwort seine Absichten zunächst offenbar sehr niedrig: Er will die Vergangenheit zum Sprechen bringen. Man wird Ullrichs Feststellung zustimmen, dass die Fachhistoriker/innen sich immer noch schwer tun, die Ergebnisse ihrer Forschungen auch an Menschen jenseits des akademischen Binnensystems zu vermitteln. "Dass Clio eine Muse war, scheint hier in Vergessenheit geraten zu sein" (S. 7). Das schriftstellerische Talent der historischen Zunft ist ja tatsächlich tendenziell unterentwickelt, und bis heute vermissen wir erzählende Historiker/innen eines Schlages Hobsbawms, die ihr wildes Denken eben auch nicht nur elegant, sondern auch spannend "übersetzen" und konkretisieren können.

Volker Ullrich prangert diesen Mangel an – und will es besser machen. Zu diesem Zweck bedient er sich eines besonderen Genres: der historischen Reportage. Reportagen kennen wir als Ergebnis der Berichterstattung aktueller Ereignisse, angereichert mit Live-Übertragungen und Expertenbefragungen. Reporter kennen wir als engagierte Journalisten – aber auch als hechelnde Skandalchronisten. Wie soll also das Genre verstanden und genutzt werden? Ullrich macht es uns vor: Er berichtet von Schauplätzen der Geschichten, die Aussagen der Augenzeug/innen sind seine O-Töne, Akten seine Beweisdokumente, und als Experten fungieren sowohl die zeitgenössischen Publizisten und Kommentatoren, als auch die Historiker/innen unserer Tage. So stellt Ullrich seine Leser/innen mitten hinein ins vergangene Geschehen.

In dem Band sind 18 Areale für histographische Erkundungsgänge abgesteckt. Der Bogen scheint auf den ersten Blick sehr beliebig. Ullrich nimmt den Erzählfaden im Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf und behält ihn chronologisch bis in die Nachkriegsjahre Deutschlands in der Hand. Es zeigt sich aber bald, dass sich die scheinbar unzusammenhängenden Geschichten in ihrer Entwicklung und Bedeutung überschneiden und sich verdichten. Ullrich fokussiert den Blick auf neuralgische Punkte sowohl der (deutschen) Geschichte als auch der Geschichtswissenschaften. Diese Fokussierung wird bereits im Eröffnungsbeitrag "Der erste Schlag" deutlich. Ullrich hält schon im Untertitel fest: "Die Vorgeschichte der französischen Revolution ist reich an Paradoxien". Es ist clever, einen solchen Band mit der Feststellung zu eröffnen, dass die Geschichte nicht nur vielgestaltig, sondern vor allem vieldeutig sein kann und man viele Kontexte mitlesen muss, um sich ein ausgewogenes Urteil bilden zu können. Ullrich stellt dieser Aufsatzsammlung die Einsicht voraus, dass Geschichte nicht widerspruchsfrei zu haben ist. Man mag das als Binsenweisheiten klassifizieren, aber bekanntermaßen sehen Wissenschaftler/innen manchmal den Sumpf vor lauter Binsen nicht. Am Beispiel der Französischen Revolution, die vielen wie ein abgenagter Knochen erscheint, schlüsselt Ullrich auf, welche Deutungsvielfalt sich hier auftut, indem er die Paradoxien benennt und die Komplexität mit recht schlichten Fragen angeht: War sie eine Revolution des Elends oder des Wohlstandes, war sie wirklich eine Zäsur oder zeichnet sie sich nicht vielmehr durch eine verschleierte Kontinuität aus, war sie historisch gesetzmäßig oder eine "Art Betriebsunfall" (S. 10)? Ullrich seziert geschickt, unter welchen politischen Vorzeichen man zu welchen Ergebnissen kommt. Aus dem ersten Kapitel nimmt man die Ermutigung mit, Widersprüche zu erkennen, sie ernst zu nehmen und auszuhalten. Im folgenden Kapitel "Der 18. Brumaire – Napoleons Griff zur Macht" zeichnet Ullrich die Verselbständigung einer machtpolitischen Spielfigur nach. Auch die dritte Reportage "Brot oder Tod – Der Juniaufstand in Paris 1848" beschäftigt sich mit der französischen Geschichte. Hier verbindet Ullrich die Ereignis- mit der Alltagsgeschichte des Bürgerkriegs und illustriert die kurzen Utopien einer besseren Welt. Wohltätige Weltbürger scheitern an der Realpolitik, und mit dem Staatsstreich endet auch eine große Vision, die Ullrich als mögliche Taktgeberin europäischer Zivilgesellschaft identifiziert: "Der Traum eines demokratischen Europas war vorerst ausgeträumt" (S. 39).

Die vierte Reportage handelt von einem Einzeltäter. In "Fünf Schüsse auf Bismarck – Ferdinand Cohen-Blind und das Attentat vom Mai 1866" entwirft Ullrich ein historisches Drehbuch und nutzt die Mittel schneller Schnitte. Die raschen Szenenwechsel nutzt er, um die tradierten Wahrnehmungen von Opfern und Tätern, Hauptdarstellern und vermeintlichen Statisten der Geschichte zu hinterfragen. Ullrich beginnt mit einer Nahaufnahme: Eine Abendgesellschaft wartet am 7. Mai 1866 auf den Hausherrn, Ministerpräsidenten Otto von Bismarck. Er verspätet sich, weil er nur knapp einem Attentat entgangen ist. Die auf ihn abgezielten Pistolenschüsse verletzen ihn dank diverser Kleiderschichten nicht. Von einer Großaufnahme Bismarcks, den Ullrich als den "meistgehaßtesten Mann weit und breit" schildert, vor dem nicht nur ausgespien wird, sondern der auch gelegentlich mit Knallerbsen beworfen wird, geht der Autor in die historische Totale der preußischen Machtpolitik, um schließlich eine Nahaufnahme des Attentäters zu machen. Der 22jährige Student Ferdinand Cohen-Blind, dessen Leben Ullrich als biographisches Flickwerk darstellt, hoffte, durch einen Mord an Bismarck einen Krieg gegen Österreich abwenden zu können. Die Reportage endet mit der Frage, warum Bismarck zwar eine ganze Denkmalslandschaft hinterlassen hat, aber ein Visionär wie Cohen-Blind gänzlich in Vergessenheit geraten ist - eine allgemeingültige Frage für die aktuelle Erinnerungskultur.

Diese Vorgehensweise der Fokussierung, Überblendung und anschließenden Transponierung in die Gegenwart nutzt Ullrich fast durchgehend für seine Reportagen. In Kapitel 5 "Das Geheimnis der Miss Love" nimmt der Autor eine Skandalgeschichte um die Affäre einer Edelprostituierten mit Wilhelm II. als Aufhänger für die Rekonstruktion des schwierigen und gespannten Verhältnisses zwischen dem Monarchen und Bismarck und dessen Söhnen, um gleichzeitig ein Sittengemälde der zeitgenössischen Doppelmoral zu entwerfen. Im sechsten Beitrag "Parlament der Säbel" wird anhand der Geschichte des Reichstagsgebäudes die mühsame Entwicklung des Parlamentarismus aufgeblättert, in "Sozialismus, dein Reich komme" erzählt Ullrich entlang des 1. Mai Feiertages den Nutzen und Mißbrauch von Visionen und Symbolen. Das achte Kapitel mit dem Titel "...deutsches Blut zu rächen" beschäftigt sich mit der Entgrenzung und Brutalisierung deutscher Kolonialpolitik am Beispiel des niedergeschlagenen Herero-Aufstandes 1904, bei dem von etwa 60.000-80.000 Herero nur etwa 16.000 überlebten (S. 93). Im darauffolgenden Aufsatz "Ein Sommer, wie er keiner mehr war" flicht Ullrich Alltagsgeschichte in das Weltgeschehen. Die große Hitze des Sommers 1914, die neuen Bademoden nutzt er als bis heute gültige Erkennungsmerkmale, um den Lesenden den Zugang zur Epoche zu ermöglichen. Mit vielen O-Tönen skizziert er die Beschleunigung der aufziehenden Moderne und ihre spezifische Sinneserfahrungen: Foxtrott, stinkende Automobile, der Erfolg des Filmes "Engelein" mit Asta Nielsen beschäftigten die Menschen, während die europäische Welt kurz vor dem Krieg stand und sich innerhalb kurzer Zeit in einen Massenrausch fallen ließ. "Dafür hält man für sein Land den Schädel hin!" untersucht die "Judenzählung" im deutschen Heer 1916, die ein Schlaglicht auf den herrschenden Antisemitismus im Militär wirft und die zwiespältige Position der jüdischen Soldaten beleuchtet, die durch die Zählung ausgegrenzt und stigmaisiert wurden. Die Reportage "Frieden und Brot" liefert eine Innenansicht aus dem "Schlüsseljahr 1917". Nicht nur die Szenen eines totalisierten Krieges, sondern auch die Erfahrungsmomente im Land werden skizziert: Eine Zeit der "Ersatzstoffe aller Art" (S. 121). Spots werden auf Mata Hari und Sigmund Freud, auf die für Brot und Freiheit demonstrierenden russischen Textilarbeiterinnen und auf die Veränderung des geschlechtspezifischen Rollenverhaltens während des Krieges gerichtet.

Die nächsten vier Beiträge beschäftigen sich mit dem der Zeit zwischen Kriegsende und Nationalsozialismus. "Die ungeliebte Revolution" zeigt die verpasste Neustrukturierung Deutschlands und zeichnet nach, warum die Revolution im November 1918 nicht für einen positiven Gründungsmythos genutzt wurde und wie die Ereignisse im Nachhinein umgedeutet, schließlich verdrängt wurden. "Steckt die Villen in Brand" erzählt die Geschichte des revolutionären Bandenführers Karl Plättner, der sich von einem sozialdemokratischen Musterknaben zum gerechten Banditen entwickelte. "Der Feind steht rechts außen" stellt den Mord an dem Außenminister Walter Rathenau nach, und "Das Weimarer Syndrom" berichtet von der Parteienverdrossenheit in der ersten deutschen Demokratie. Die letzten drei Beiträge fallen in die Zeit des Nationalsozialismus: "Kampflose Kapitulation" handelt von der "Selbstgleichschaltung" der deutschen Gewerkschaften und deren folgenschwere, aus Verunsicherung entstandenen Entscheidung, sich dem NS-Regime anzupassen. "Den Mut haben, davonzulaufen" rekonstruiert das Schicksal der Deserteure während des Zweiten Weltkrieges und verfolgt die bittere Geschichte der Fahnenflüchtigen bis zur späten Rehabilitierung. "Wir haben nichts gewußt" fokussiert schließlich auf das Phänomen des Verdrängens, oder wie Ullrich den Beitrag untertitelt: "Über die deutsche Nationalmelodie im Frühjahr 1945". Der Autor entwirft hier ein Psychogramm der Deutschen, das eine bizarre Mentalität zwischen Gafferei und Wegschauen offenbart, ohne alle Beteiligten gleichermaßen zu denunzieren.

Trotz der Themenvielfalt bekommt man bei der Lektüre keineswegs den Eindruck von Beliebigkeit. Die Motive, die Fragen des Autors nach Einzelpersonen, nach Mentalität und Alltag und vor allem die Frage nach dem Verlauf von Visionen halten das Gebinde stringent zusammen. Die Beiträge sind nicht alle von gleich hoher Qualität. Sie bringen auch nicht alle neue Erkenntnisse und manche Fragen bleiben offen. Aber vor allem dort, wo der Autor augenscheinlich eigene Forschungen betrieben hat, fallen seine wunderbar zu lesenden Erzählungen durch Präzision und neue Perspektiven auf die allgemeine Geschichte auf. Nur möchte man z.B. bei dem Bericht über den revolutionären Bandenführer Karl Plättner genaueres wissen und fühlt sich etwas dürftig abgespeist – hier ist wohl ein Köder ausgelegt, um die von Ullrich 2000 veröffentlichte Biographie zu erstehen. Für alle Beiträge gilt, dass sie Geschichte zugänglich machen und vorhandene, aber brach liegende Kenntnisse aktivieren. Zudem liefern sie einen soliden und aktualisierten Forschungsüberblick. Vor allem aber kann man Studierenden und Geschichtsschreibenden das Buch zu Lektüre empfehlen – damit sie lernen, wie gut sich fundierte Wissenschaft mit erzählerischer Vermittlung verträgt.

Anna-Katharina Wöbse, Bielefeld





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