ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hans Ulrich Schiedt, Die Welt neu erfinden. Karl Bürkli (1823-1901) und seine Schriften, Chronos Verlag, Zürich 2002, 384 S., geb., 39.90 EUR.

Der Zürcher Karl Bürkli gehört zu den Pionieren der schweizerischen Arbeiterbewegung, deren Entwicklung er während mehr als fünfzig Jahren wesentlich mit geprägt hat. Sein vielfältiges Wirken war mehrfach Gegenstand ideen- und organisationsgeschichtlicher Abhandlungen. Die Dissertation von Hans-Ulrich Schiedt führt über diesen Rahmen weit hinaus. Die konsequente Analyse der Bezüge zwischen Individuum und Umwelt, die Rekonstruktion von familiären und sozialen Strukturen und die Darstellung von Verarbeitungsformen gesellschaftlicher Erfahrungen eröffnen neue Perspektiven. Die materialreiche Studie illustriert damit auf eindrückliche Weise die Leistungsfähigkeit der neueren sozialgeschichtlichen Biographieforschung.

Hans-Ulrich Schiedt baut seine Arbeit im Wesentlichen chronologisch auf. Vor- und Rückgriffe verbinden die einzelnen Teile, was da und dort notgedrungen zu Redundanzen führt. Wichtigste Quellengruppen sind die zahlreichen Artikel und Broschüren Bürklis, die Zeitungen und die teilweise erhaltene Bibliothek, die rund 400 Bände umfasste und seinen Zeitgenossen als vollständigste Sammlung fourieristischer Schriften galt. Da Bürkli keinen geordneten Nachlass hinterlassen hat, bleibt sein Privatleben weitgehend im Dunkeln. Die überlieferten Dokumente zeigen Bürkli hauptsächlich als öffentliche Person, allerdings in einer für ihn typischen Vermischung von Privatsphäre, Geschäft und Politik.

Karl Bürkli entstammte einer der ersten Zürcher Familien. Ganz im Widerspruch zu seiner vornehmen Herkunft absolvierte er nach dem Abbruch des Gymnasiums eine Gerberlehre. Die Gesellenwanderung führte ihn in die Westschweiz und in die größeren Städte Frankreichs. In Paris schloss er sich dem frühsozialistisch-fourieristischen Kreis der "Ecole sociétaire" an. Bürkli blieb zeitlebens Fourierist und er war dafür weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Seine umfangreiche Bibliothek diente als Requisitenkammer für die theoretischen Auseinandersetzungen, aus der sich nicht nur August Bebel und Herman Greulich dankbar bedienten. Die Ideen Fouriers propagierte Bürkli in zahlreichen Artikeln und Übersetzungen und er versuchte auch, sie in der Praxis umzusetzen. 1851 gehörte er zu den Gründern des Zürcher Konsumvereins und drei Jahre später beteiligte er sich am Projekt der Gründung eines Phalansteriums in Texas. Nach dem schnellen Scheitern des sozialutopischen Experiments kehrte Bürkli nach Zürich zurück. Mit wechselhaftem Erfolg engagierte er sich nochmals beim Konsumverein. Danach führte er in der Zürcher Altstadt ein Wirtshaus, das ein Zentrum oppositioneller Strömungen wurde. In den 1860er Jahren wurde Bürkli zum einflussreichen Agitator der demokratischen Volksbewegung, die 1868 den Sturz der liberalen Regierung um Alfred Escher erzwang. In dieser Volksbewegung profilierte sich Bürkli als Arbeiterpolitiker. Er präsidierte der im Sommer 1867 gegründeten Zürcher Sektion der Internationalen Arbeiterassoziation. Im Rahmen der Ersten Internationale war Bürkli mit den für ihn charakteristischen Themen und verschiedenen Funktionen sehr präsent: mit seiner Wehrreform, seiner Bank- und Papiergeldkonzeption, mit Genossenschaftsfragen, als Spezialist und Vertreter direktdemokratischer Strukturen und nicht zuletzt als Organisator mit überdurchschnittlichen Sprachkenntnissen. Wie der Autor ausführt, wurde der Beitrag Bürklis für die I.A.A. unterschätzt, weil die Forschung bisher allzu stark auf den Generalrat fokussiert blieb und die frühsozialistischen Positionen gegenüber der marxistischen weitgehend ausgeblendet hat. Wie Hans-Ulrich Schiedt zeigen kann, genoss Karl Bürkli dann in der Zweiten Internationale eine ausgesprochene Ehrenstellung. Er verkörperte in hervorragender Weise die Kontinuität der Arbeiterbewegung und genoss ein Renommee, das ihn schließlich auch den Maßstäben der Alltagspolitik und der Linientreue entrückte.

Als Publizist und Politiker entwickelte Bürkli eine sozialistische Doktrin, die typisch schweizerische Traditionen zu integrieren suchte und immer an die aktuelle politische Diskussion anknüpfte. Auch bei Herman Greulich sollte später das Bekenntnis zu einer entwicklungsfähigen direkten Demokratie das Rückgrat des politischen Weltbildes bilden. Bürkli war ein politischer Agitator, der wie kein anderer den Wandel von der Honoratiorenpolitik zur parteipolitischen Interessenvertretung verkörpert. Als gewitzter Redner und Pamphletist gelang es ihm, die breite Masse anzusprechen und für sozialdemokratische Anliegen zu mobilisieren. Wie der Autor eindrücklich zeigen kann, hatte Bürkli mit seinen Ideen in politischen und gesellschaftlichen Krisensituationen die größte Wirkung. In Phasen der Polarisierung und politischen Zuspitzung gelangte er ins Zentrum, während er nachher, in Phasen der Deeskalation und Konsolidierung, immer wieder an den Rand geriet.

Die Arbeit von Hans-Ulrich Schiedt porträtiert eine Persönlichkeit, die sich ein Leben lang mit der Arbeiterbewegung identifizierte und an den programmatischen Diskussionen ebenso beteiligt war wie an den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen. Bürkli gab der sich formierenden Arbeiterbewegung auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene wichtige Impulse. Bedeutung hat er in erster Linie als Vermittler der Ideen Fouriers und Rittinghausens, die er unter teilweise beträchtlichem finanziellen Engagement in konkrete Projekte umzugießen versuchte. Karl Bürklis Lebensgeschichte ist abenteuerlich und reich an Turbulenzen und Brüchen. Sie führt in ganz unterschiedliche soziale Milieus und sie erhellt die Bedingungen, unter denen politische Ideen entstehen, rezipiert, vermittelt und verwirklicht werden oder aber scheitern. Schiedts Biographie zeigt uns eine eigenwillige Persönlichkeit mit widersprüchlichem Profil. Als Spross des Zürcher Patriziats war Bürkli nicht zum Arbeiterpolitiker prädestiniert. Wie der Autor festhält, hat sich in seinem Fall die individuelle Konstellation gegenüber der "Klasse" oder der "reinen Gedankentradition" durchgesetzt. Parallelen zu anderen Vertretern der ersten Führungsgruppe der Arbeiterbewegung sind dabei unübersehbar.

Urs Kälin, Altdorf





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