ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Christine Pieper, Die Sozialstruktur der Chefärzte des Allgemeinen Krankenhauses Hamburg-Barmbek 1913 bis 1945. Ein Beitrag zur kollektivbiografischen Forschung (= Veröffentlichungen des Hamburger Arbeitskreises für Regionalgeschichte [HAR], Band 16), LIT Verlag, Münster 2003, 328 S., kart., 32,90 EUR.

Mit dieser außerordentlich materialreichen Studie legt die Verfasserin ihre am Hamburger Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte entstandene Dissertation vor.

Wie der Untertitel der Arbeit ankündigt, liegt das Besondere dieser Arbeit in ihrem methodischen Ansatz, der Kollektivbiografie. Die Methode der kollektiven Biografik hat bislang vor allem in der Erforschung politischer Eliten Verbreitung gefunden, z. B. der Delegierten zu den Reichsrätekongressen 1918/1919 oder der sozialdemokratischen Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867 bis 1933. (1) Die kollektive Biografik bietet Analysemöglichkeiten in zwei Richtungen: Zum einen erlaubt sie Rückschlüsse auf das Allgemeine, das Typische, die Struktur, zum anderen eröffnet sie Einblicke in das Individuelle, das Besondere. Diese Methode lässt sich freilich nur dort anwenden, wo die Quellenbasis gegeben ist. Es müssen für die in das Kollektiv einzubeziehenden Personen die Quellen zur Rekonstruktion der individuellen Lebensläufe vorhanden sein. Ist dies der Fall, so ist zeit- und arbeitsintensive Quellenarbeit erforderlich, um das biografische Material für Untersuchungszwecke, etwa Vergleiche, aufzubereiten. Hinzu kommt die Einbeziehung nicht personenbezogener Quellen in dem für wissenschaftliche Arbeiten gewohnten Umfang, da ja die Kollektivbiografie keinen Selbstzweck darstellt, sondern eine Methode, die es erlaubt, gewisse Zusammenhänge zwischen biografischen Merkmalen und der Sozialstruktur einer ausgewählten Gruppe handelnder Personen einerseits und historischen Abläufen andererseits aufzudecken und quantitativ zu belegen. Je nach Größe und Zusammensetzung der untersuchten Personengruppe schließt der Untersuchungsaufwand statistische Verfahren ein.

Die vorliegende Untersuchung ist ohne solche Verfahren ausgekommen, weil das Kollektiv aus der überschaubaren Anzahl von 32 Personen bestand. Es handelt sich um alle Chefärzte des Allgemeinen Krankenhauses Barmbek im Zeitraum von 1913 bis 1945. Der Untersuchungszeitraum ist vorgegeben durch die Gründung des Krankenhauses 1913 und das Ende des Zweiten Weltkrieges. Die ersten Chefärzte wurden in den Jahren 1913 und 1914 ernannt. Sie leiteten eine medizinischen Abteilung oder brachten es sogar bis an die Spitze des Krankenhauses.

Anhand der in verschiedenen Beständen des Hamburger Staatsarchivs überlieferten Personalakten bzw. Personalbögen der Chefärzte ließen sich die 32 Lebensläufe nachvollziehen. Zusätzliche biografische Informationen hat die Verfasserin der Studie aus personenbezogenen NS-Beständen im Bundesarchiv und aus regionalen Archiven außerhalb Hamburgs zusammengetragen, da einige Ärzte vor ihrer Hamburger Tätigkeit an Krankenhäusern in anderen Regionen beschäftigt gewesen waren. Neben diesen archivalischen Quellen konnte die Verfasserin auf gedruckte Quellen wie personengeschichtliche Artikel in allgemeinen und Spezialnachschlagewerken und in Handbüchern sowie auf funktionale Lebensbeschreibungen wie Nachrufe oder Jubiläen in allgemeinen und Fachzeitungen und -zeitschriften zurückgreifen. Über diese Vielzahl biografischer Quellen hinaus erforderte die Untersuchung die Auswertung von Sachakten – in erster Linie aus Beständen des Hamburger Staatsarchivs – sowie von zeitgenössischer Fachliteratur, etwa von den Chefärzten selbst verfasster.

Aus der Gliederung der Arbeit lassen sich die inhaltlichen Zielsetzungen, die die Verfasserin mit der kollektivbiografischen Methode verfolgt, ablesen: Auf die Einleitung folgt ein Kapitel II zur geschichtlichen Entwicklung der Allgemeinen Krankenhäuser in Hamburg. Das sich anschließende Kapitel III stellt die kollektiven Lebenswege der Barmbeker Chefärzte vor, von der sozialen Herkunft bis zur ärztlichen und privaten Laufbahn. Kapitel IV analysiert das ärztliche Engagement auf dem Gebiet der kommunalen Gesundheitsfürsorge, das Kapitel V analysiert die standespolitischen Aktivitäten, das Kapitel VI das ärztliche Fortbildungs- und Universitätswesen.

Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt also auf der Ermittlung der gesundheits-, standes-, wissenschafts- und parteipolitischen Aktivitäten sämtlicher Chefärzte. Am Beispiel mehrerer Zweige staatlicher Gesundheitsfürsorge zeigt die Autorin, wie sich mindestens zwanzig der 32 Mediziner ehrenamtlich in den staatlich getragenen gesundheitsfürsorgerischen Einrichtungen engagierten. Ihr Spektrum der Betätigungen reichte von dem Entwurf theoretischer Konzepte über die Mitarbeit in einer Beratungsstelle bis hin zur Gründung und Leitung gesundheitsfürsorgerischer Einrichtungen einschließlich der Schulgesundheitsfürsorge und der Volksheilstättenbewegung für Tuberkulosekranke. Wie in dem folgenden Kapitel V über die standespolitischen Aktivitäten der Chefärzte auch, schildert die Autorin sehr detailliert das Engagement einzelner Ärzte, ohne daraus Schlussfolgerungen für das untersuchte Kollektiv zu ziehen und die Details mit den ermittelten Lebensläufen in Beziehung zu setzen. Angesichts des profunden Quellenstudiums und der Fülle erhobener Daten ist der Verzicht auf resümierende und interpretierende Passagen in der Arbeit bedauerlich. Die Untersuchungsergebnisse wirken so, wie sie präsentiert werden, oft recht zusammenhanglos. Ein resümierendes Kapitel am Übergang zum nächsten großen römischen Kapitel hätte die Fakten strukturieren und nach Zusammenhängen zwischen lebensgeschichtlichen Daten, sozialer Herkunft oder medizinischem Spezialgebiet und dem ärztlichen Verhalten in Standesorganisationen oder Parteien fragen können. Hier wäre auch der Ort gewesen, um vorherrschende Verhaltensweisen, etwa die mehrheitliche Zuwendung zum rechten Parteienspektrum in der Weimarer Republik, dem Versuch einer Deutung zu unterziehen. Das Schlusskapitel der Arbeit, in dem die Autorin einige Ergebnisse ihrer Studien auf den Punkt bringt und zu interpretieren versucht, bietet leider keinen Ersatz für diese Desiderate im Hauptteil der Arbeit.

Zu den gelungensten Teilen der Arbeit gehört die individualbiografisch sowohl in den Kapiteln des Hauptteils als auch im Schlusskapitel gut herausgearbeitete Person des Arztes Andreas Knack. Auf der Folie der kollektivbiografischen Darstellung trägt die Verfasserin der besonderen Lebensgeschichte dieses Chefarztes auch in interpretatorischer Hinsicht Rechnung. Als einziger des Kollektivs stammte er aus der Schicht der ungelernten Arbeiterschaft, verdiente sich sein Studium selbst. Aktiver Sozialdemokrat, gelangte er 1923 als ärztlicher Direktor an die Spitze des Allgemeinen Krankenhauses Barmbek. Wie kein anderer des Kollektivs engagierte sich Knack insgesamt in sechs verschiedenen Zweigen der Gesundheitsfürsorge. Unter den dem Sozialprofil des gehobenen Bürgertums entsprechenden übrigen Chefärzten heben sich einige durch Engagement in NS-Organisationen oder als Verfolgte des NS-Regimes hervor.

Die Arbeit schließt mit Kurzbiografien aller 32 Ärzte und einem tabellarischen Anhang, in dem viele im Text verarbeitete Forschungsergebnisse übersichtlich präsentiert werden, etwa die Studienorte, das Heiratsalter oder die Berufe der Väter.

Trotz der genannten Schwäche der Arbeit liegt ihr Verdienst sicher darin, den Nutzen kollektivbiografischer Ansätze für die medizingeschichtliche Forschung aufzuzeigen. Ihre in den Bereichen kommunale Gesundheitsfürsorge und ärztliche Professionalisierung zu Tage geförderten Erkenntnisse könnten vergleichbare Arbeiten der Medizin- und Sozialgeschichte anregen. So wäre es interessant, diese Haupttendenzen gesundheitspolitischer Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch in anderen medizinischen Berufsgruppen nachzuvollziehen, beispielsweise durch die Untersuchung der Kollektivbiografie von Assistenzärzten oder Angehörigen des Pflegepersonals – sofern die Quellenlage dies gestattet.

Elke Hauschildt, Koblenz/Hamburg


Anmerkung:

(1) Sabine Roß, Politische Partizipation und nationaler Räteparlamentarismus. Determinanten des politischen Handelns der Delegierten zu den Rätekongressen 1918/1919. Eine Kollektivbiografie, Köln 1999; Wilhelm Heinz Schröder, Sozialdemokratische Parlamentarier in den deutschen Reichs- und Landtagen 1867-1933. Biografien – Chronik – Wahldokumentation. Ein Handbuch, Düsseldorf 1995.


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