ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Frank Hatje, "Gott zu Ehren, der Armut zum Besten". Hospital zum Heiligen Geist und Marien-Magdalenen-Kloster in der Geschichte Hamburgs vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Convent-Verlag, Hamburg 2002, 735 S., Ln., 39,90 EUR.

"Gott zu Ehren, der Armut zum Besten" prägt als Leitbild die 775jährige Geschichte des Hospitals zum Heiligen Geist, dessen 775. Jubiläum den Anlass zur Herausgabe dieses stattlichen Bandes gab. Der Autor hat alle Möglichkeiten ausgeschöpft, die in der Abfassung einer Stiftungsgeschichte angelegt sind. Er hat die Stiftungsgeschichte zur Stadtgeschichte Hamburgs hin und zur Sozialgeschichte hin gleichermaßen ausgeweitet, wobei die Sozialgeschichte dominiert. Dabei hat ihm die Beständigkeit von Stiftungen über die Zeitläufte hinweg einen weiten Untersuchungszeitraum vom 13. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts vorgegeben. Der vorliegende Band bietet einen – lediglich an manchen Stellen durch die Quellenlage begrenzten – umfassenden Einblick in 700 Jahre Stiftungsgeschichte, die hier überwiegend Sozialgeschichte ist.

Der Verfasser hat sich der Mühe eines gründlichen Quellenstudiums unterzogen, um nicht den besonders in der älteren Literatur zur Stadtgeschichte Hamburgs enthaltenen Ungenauigkeiten aufzusitzen. Der Schwerpunkt der Darstellung vom 16. bis 19. Jahrhundert ergab sich aus der Quellenlage. Im Staatsarchiv Hamburg hat der Verfasser vor allem Bestände zu den einzelnen Einrichtungen – vor allem des Hospitals zum Heiligen Geist und des Marien-Magdalenen-Klosterssowie des Senats – ausgewertet.

Die Arbeit gliedert sich in 15 Kapitel, die vier chronologischen Teilen zugeordnet sind. Die ersten drei Kapitel, die den Teil I (Mittelalter) bilden, entfalten die Gründungsgeschichte der drei Stiftungseinrichtungen: des Franziskanerklosters St. Marien Magdalenen, des Hospitals zum Heiligen Geist und des Hospitals St. Elisabeth. Das Franziskanerkloster und die Kirche St. Marien Magdalenen waren eine Stiftung Graf Adolfs IV. von Schauenburg in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Das Hospital zum Heiligen Geist, dessen Gründungsgeschichte im Dunkeln liegt, geht wahrscheinlich auf eine Initiative Hamburger Bürger zurück, die es als "ihr" Hospital betrachteten und zwei Ratsherren als Provisoren einsetzten. Um 1400 wurde es um die Heiliggeistkirche erweitert. Zu diesen beiden Stiftungen, die in der Reformation 1527/28 vereinigt wurden, kam noch das von einem Ratsherrn im 15. Jahrhundert gestiftete St. Elisabeth Hospital. Zwischen den drei Stiftungen gab es personelle Verbindungen in der Verwaltung. Teil II umfasst 6 Kapitel und ist der Zeitspanne von der Reformation bis 1815, dem Ende der "Franzosenzeit", gewidmet. Mit der Einrichtung des Gotteskastens und der Kistenordnung 1527 sowie der Wahl der Gotteskastenvorsteher (Diakone) erfuhr das Armenwesen eine grundlegende Veränderung. Das Gemeindeprinzip löste die alte Almosenpraxis ab. Das Oberaltenkollegium verwaltete fortan die Stiftungen.

Nicht nur gemessen am Seitenumfang stellt Teil II den Hauptteil des Buches dar, sondern auch unter inhaltlichen Aspekten. Der Autor durchbricht in diesem Teil die chronologische Gliederung seiner Darstellung und flicht strukturelle Kapitel ein, da die Quellenlage für diese Periode am günstigsten ist. In den strukturellen Kapiteln 5 bis 9 erfährt der Leser Näheres über die Personen, die im Dienste von Hospital und Kloster standen, und über die Menschen, die als Insassen in den Einrichtungen lebten. In Ermangelung von Aufnahmeregistern, die erst ab 1822 erhalten sind, lassen sich die Aufnahmekriterien für das Hospital im 18. Jahrhundert nur mühsam rekonstruieren. Die Oberalten scheinen – auch im 19. Jahrhundert – flexibel über die Aufnahme in das Hospital entschieden haben, wie der Autor an zahlreichen Einzelfällen belegt. Ein wichtiges Kriterium scheint – neben Mittellosigkeit und Erwerbsunfähigkeit – das Lebensalter jenseits der Fünfzig gewesen zu sein. Das Hospital bot seinen Bewohnern Unterkunft, Kleidung, Nahrung, Versorgung und Pflege bei Krankheit sowie seelsorgerische Betreuung und schließlich ein christliches Begräbnis. Ausführlich geht der Autor auf die Ernährung ein. Speiseplan, Auswahl und Zusammenstellung der Speisen unterlagen starken kirchlichen oder liturgischen Einflüssen. Für das Kloster waren die Aufnahmebedingungen indes klarer: Die Frauen durften nicht jünger als 40 Jahre und mussten verwitwet oder ledig sein. Als Gegenleistung für ihre Einkaufssumme erhielten die Frauen im Kloster eine kleine Wohnung, Verköstigung, Taschengeld und ein Begräbnis auf dem Chor zu St. Marien Magdalenen. Hospital und Kloster gehörten zur Hauptkirche St. Nikolai, deren Pastoren sich auch heute noch um die seelsorgerische Betreuung der Bewohner des heute im Stadtteil Poppenbüttel gelegenen Hospitals zum Heiligen Geist kümmern.

Teil III mit den Kapiteln 10 bis 12 behandelt das Jahrhundert von 1815 bis 1914, eine Periode weitreichender Reformen. Teil IV ist mit weniger als 50 Seiten Umfang, die sich auf drei Kapitel verteilen, der am kürzesten ausgefallene Abschnitt des Buches. Der Untersuchungszeitraum endet in den 1950er-Jahren. Der Nationalsozialismus fand in den Stiftungen, wie der Verfasser mit Verweis auf die Dürftigkeit der Quellenlage ausführt, so gut wie nicht statt. Angeblich wurden lediglich die Aufnahmebedingungen für Bewohner den nationalsozialistischen Kriterien angepasst, indem die Einrichtungen nur noch Deutschen arischer Abstammung offen standen. Der Verfasser erwähnt knapp eine "1936 eingeleitete Modernisierung", die "gute Voraussetzungen für die künftige Existenzfähigkeit des Hospitals" schuf. Der historisch versierte Leser, der um die Janusköpfigkeit von Modernisierung im Nationalsozialismus weiß, wird hier misstrauisch. Insofern ist es bedauerlich, dass der Autor in keiner Weise erläutert, welche konkreten Maßnahmen sich hinter der von ihm erwähnten Modernisierung von 1936 verbargen. Dieses Übergehen des Nationalsozialismus wirkt vor dem Hintergrund der zunehmenden Erforschung von Einrichtungen der Diakonie im "Dritten Reich" beinahe anachronistisch und provoziert viele Fragen.

Dieses trifft auf die übrigen Teile der Studie nicht zu. Im Gegenteil, der Autor versteht es, auch den nicht historisch vorgebildeten Lesern komplizierte Zusammenhänge verständlich zu machen, ohne den Historiker zu langweilen. Der ausführliche Anmerkungsapparat führt jeweils eine Auswahl an einschlägiger Sekundärliteratur an, mit deren Hilfe sich der interessierte Leser nach Bedarf eingehender informieren kann.

Entscheidend für die Lesbarkeit der umfangreichen Darstellung ist der – gemessen am anspruchsvollen Sachverhalt – ausgesprochen eingängige Stil des Autors. Damit kann er es sich leisten, selbst den historischen Laien nicht mit Theoriediskussionen innerhalb der Geschichtswissenschaft zu verschonen. Das stilistische Geschick des Autors lässt sich am Beispiel seiner Kritik am Konzept der Sozialdisziplinierung veranschaulichen. Um zu zeigen, dass das Konstrukt der Sozialdisziplinierung dazu verführt, die Norm für die Praxis zu nehmen, bemüht der Autor den Vergleich mit der Straßenverkehrsordnung, die keine Rückschlüsse auf das tatsächliche Verhalten der Autofahrer zulässt. Wer die Verhältnisse auf deutschen Straßen allein von der Straßenverkehrsordnung her erforschen wollte, der käme zu verzerrten Resultaten bzw. an die Wirklichkeit gar nicht heran.

Anschaulichkeit erreicht der Autor, indem er zahlreiche Quellenzitate in den Text einbaut. Zahlreiche Tabellen ergänzen die Ausführungen im Text. Darüber hinaus findet der Leser viele, auch farbige Reproduktionen zeitgenössischer Stiche und Zeichnungen.

Die Darstellung des Historikers wird eingerahmt von den für Festschriften üblichen Gruß- und Geleitworten sowie einem Nachwort des Direktors im Vorstand der Stiftung. Das Nachwort nennt die wichtigsten, zumeist verwaltungsgeschichtlichen Einschnitte und Entwicklungen in der Stiftungsgeschichte von den 1950er Jahren bis zum Jahr 2000. Der Direktor im Vorstand der Stiftung geht dabei auch auf die jüngsten, von der 1994 eingeführten Pflegeversicherung verursachten Problemlagen ein, mit denen stationäre Alten- und Pflegeeinrichtungen heute zu tun haben.

Dass in diesem inhaltlich wie handwerklich fast vorbildlichen Buch die Register nicht fehlen, braucht eigentlich gar nicht mehr der Erwähnung. Es ist dem Buch zu wünschen, dass es nicht als Nachschlagewerk genutzt wird, sondern als Geschichtsbuch gelesen wird. Wer sich durch den Umfang nicht abschrecken lässt und erst einmal einige Seiten gelesen hat, wird sich schnell packen lassen von der lebendigen Darstellung, wie sie für ein fundiertes historisches Werk – leider – eher untypisch ist.

Elke Hauschildt, Koblenz/Hamburg





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