ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Einfalt/Joseph Jurt/Daniel Mollenhauer/Erich Pelzer (Hrsg.), Konstrukte nationaler Identität: Deutschland, Frankreich und Großbritannien (19. und 20. Jahrhundert), (= Identitäten und Alteritäten Bd. 11), Ergon Verlag, Würzburg 2002, 298 S., brosch., 32,90 EUR.

Dies ist eine interessante und vielschichtige Sammlung von Studien zur Frage der Nation. Jurt und Mollenhauer sprechen in ihrer Einleitung von einem "regelrechten Boom" dieses Themas und machen seine bleibende Aktualität an einer gewissen Parallelität zur Situation des "nation-building" an der Schwelle des 19.Jahrhunderts fest: den "Verlust herkömmlicher Orientierungsmuster" (S. 7) durch die Herausforderung der Globalisierung. Im weiteren gehen sie der Auferstehung des Konzeptes der Nation entgegen aller Voraussagen Intellektueller wie Jaspers oder Habermas nach dem Zweiten Weltkrieg nach und zeigen sie für Deutschland als Ergebnis des Zusammenbruchs des sozialistischen Systems. Der habe auch in anderen Teilen Europas nationalistische Tendenzen freigesetzt, die - wie in den ethnisierten Auseinandersetzungen innerhalb Jugoslawiens - das "Janusgesicht der modernen Nation" (S. 9): "Gewaltbereitschaft und Partizipationsverheißung" (S. 13) offenbarten.

Die Idee der Nation sei im 19. Jahrhundert zu einer "Orientierungsmatrix" (S. 18) geworden, "einer Art irdischem Gott". Ihre Wirkungsmacht komme aus dem Willen zu "einer grundlegenden Neugestaltung der politischen Ordnung" (S. 19). Die Herausgeber beziehen sich hierbei auf Andersons Begriff der Nation als vorgestellter Gemeinschaft, die mit der Einschließung zur Wir-Gruppe auch die auszugrenzenden Anderen - nach innen wie nach außen - mitdefiniert. Das ist ein sozialer Prozess, der sich vorwiegend im kulturellen Bereich abspielt. In ihm werden die Zuweisung bestimmter Eigenschaften an die Anderen und die Schaffung eigener Gemeinsamkeiten und kollektiver Selbstbilder organisiert. Der vorliegende Band diskutiert einige Aspekte dieses Prozesses in Bezug auf Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Nicht berücksichtigt wird hierbei leider, dass "jeder moderne Nationalstaat ... ein Produkt der Kolonialisierung" ist, wie Etienne Balibar feststellt, inwieweit also Konstrukte nationaler Identität von Kolonialstaaten auch über die Zurichtung der Kolonialisierten erfolgt. (Etienne Balibar, 'The Borders of Europe' in: Peng Cheah, Bruce Robins (eds.), Cosmopolitics: thinking and feeling beyond the nation, University of Minnesota Press, Minneapolis/London 1998, S. 259); "every modern nation-state is a product of colonisation", Übersetzung aus dem Englischen durch die Verfasserin)

Die einzelnen Studien spannen thematisch einen Bogen von der Instrumentalisierung bestimmter Ereignisse durch verschiedene Interessengruppen (die Kategorie Klasse wird hier vermieden) im Prozess der Ausrichtung nationaler Identität über die Bedeutung von Mythen und Literatur bis zur (Um-) Prägung zentraler Begriffe im Nationsdiskurs in Literatur und Wissenschaft. Identitätskonstruktionen wie die deutsche, die über Abgrenzung und Stereotypenbildung nach innen und außen funktionieren, werden kontrastiert mit solchen, für die die Schaffung derartiger Selbstbilder durch die historisch bedingte Hierarchisierung unter den Beteiligten maßgeblich erschwert ist. Hier herrschen Inferioritätsgefühle der Eliten der kleinen Nationen gegenüber der dominanten Nation, findet die "Selbstbehauptung" der "Unterlegenen" (S. 231) ja gerade über Abgrenzung zu dieser statt. Keith Robbins spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer Koexistenz mehrerer Identitätsebenen innerhalb Großbritanniens und fragt sich, ob hierin das größere Interesse von Wales und Schottland im Unterschied zu England an einem vereinigten Europa begründet ist.

Besonders interessant fand ich die Arbeiten von Jens Oliver Müller, Marina Allar und Berit Pleitner. Müllers Diskussion von Dieter Fortes Romanzyklus hat sofort meine Leselust geweckt, denn welcher "Geschichts-und Identitätsdiskurs" findet heutzutage "im kollektiven Selbst der Deutschen auch immer einen anderen" (S. 209)? Forte, stellt Müller fest, entwickelt das Identitäts-Muster eines jeden Menschen als "Webmuster", gewirkt aus "unterschiedlichen genealogischen Strängen". Für ihn gelte, dass "das Heterogene das Normale, besser: das allgemein Menschliche ist" (S.206), denn "Es gibt keine Norm für Menschen und keine für Völker...mit dem Wort "anomal" wurden ganze Völker in den Tod geschickt." Geschichte ist hier nichts zwangsläufiges, sondern "widerspruchsvoll" und "das Leben ein Nebeneinander von Geschichten" (S. 202). Müller liest Fortes Romantrilogie als Auseinandersetzung mit der engen "Verzahnung von Geschichtsbild, Erinnerung und Identität" (S. 204). Er zeigt, wie Forte über seinen Romanaufbau, in dem die einzelnen Familiengeschichten Schritt für Schritt miteinander verstrickt werden, und durch die beobachtende Haltung zu seinen Figuren Erinnerung als Identitätsprozess – die Konstruktion eines "Selbstbildes, eines (personalen und kollektiven) Sinns" – organisiert. So gelingt es Forte, mit hegemonialen Homogenitätsdiskursen wie Geschichtsbildern zu brechen. Er kontrapunktiert die Kultur des Verdrängens deutscher Geschichte in der Gegenwartsliteratur.

Marina Allar beleuchtet das "Spannungsfeld, in dem die Juden zum inneren Andern der Kultur wurden" (S. 94) und "nationale Feindbild-Motive integriert werden" konnten. Hierzu werden die sich eigentlich widersprechenden Stereotype des ewig wandernden Juden und des Verräters, der versucht hat, die fremde Gemeinschaft zu unterwandern, miteinander verschmolzen. Das Material, das sie nutzt – Romane bis hin zur Trivialliteratur – offenbart, wie tief im Alltag verwurzelt solche Prozesse der Stereotypenbildung ablaufen. Durch die Diskussion von Freytags Soll und Haben und Raabes Hungerpastor zeigt sie, wie dafür in Deutschland gegenüber den Polen das auf den Ostjuden aufbauende Stereotyp des jüdischen Trödlers, gegenüber den Franzosen anknüpfend an Konnotationen zu Judentum und französischer Revolution das des jüdischen Intellektuellen konstruiert wird. In Frankreich wurde die Verbindung von antisemitischem und nationalem Diskurs am Stereotyp des deutschstämmigen Juden, der im Interesse Deutschlands Frankreich verrät, besonders in der Dreyfus-Affäre deutlich. Im Weiteren wurde vor allem in der Trivialliteratur die Figur des deutsch-jüdischen Bankiers kreiert, um so auch noch an den antikapitalistischen Diskurs anknüpfen zu können. Allar verweist auf eine "deutliche Radikalisierung" (S. 93) dieser Feindbilder nach dem Ersten Weltkrieg. Hier wäre es sicher interessant gewesen, auch die rassistische Kampagne gegen die afrikanischen Soldaten innerhalb der französischen Besatzungsarmee im Rheinland – die sogenannte "schwarze Schmach" – einzubeziehen, zumal sie in der Einleitung mit einem Hitler-Zitat die Verknüpfung von Juden- und Schwarzen-Stereotypen im nationalsozialistischen Diskurs eingeführt hat.

Insgesamt werden die Überschneidungen von Nationsdiskursen mit anderen, die durch die Kategorien Geschlecht, Klasse, Rasse und Kultur bezeichnet werden, allerdings nur partiell Gegenstand der Untersuchungen. Zu Recht weist Berit Pleitner darauf hin, dass es um "die Funktionsweise dieser sozialen Prozesse" geht und nicht "die angeführten nationalen (oder anderen) Kriterien untersucht (werden), sondern ihre Position im diskursiven Umfeld" (S.172). Die Herausarbeitung des Autostereotyps der vernünftigen Deutschen durch Analyse der Heterostereotypen der faulen, zivilisationslosen Polen und der auf Äußerlichkeiten setzenden, überzivilisierten Franzosen aus Zeitschriftenartikeln gelingt ihr so bildhaft wie überzeugend. Sie zeigt, wie dies insbesondere durch die Verknüpfung des Nationsdiskurses mit dem Klassendiskurs funktioniert. Denn das Bürgertum ist "thätig, wirtschaftlich, intelligent, vorwärtsschreitend und gemäßigt, ... gleichsam eine moralische Reserve des nationalen Verstandes und Geistes". Entsprechend schließt sie: "Die Verbindungen zwischen bürgerlichem und nationalem Diskurs sind so eng, daß es einem guten Bürger gar nicht mehr in den Sinn kommen kann, nicht national zu sein" (S. 187). Interessanter als ihre Frage nach dem möglichen Perspektivenwechsel – ob zuerst der bürgerliche Diskurs da war und sich des nationalen bediente oder umgekehrt – fände ich allerdings eine Erweiterung ihres Analyseansatzes, inwieweit die beiden Diskurse sich gegenseitig benutzen, auf das Geschlechterbild, wie von ihr selbst in einer Fußnote bereits vorgeschlagen (S. 179) und die Herausarbeitung des Verhältnisses von bürgerlichem, nationalem und Geschlechter-Diskurs.

Die jeweiligen Fragestellungen der einzelnen Aufsätze sind umfassend und materialreich recherchiert. Sie zeigen, wie wichtig historisches Arbeiten auch zur Theoriebildung ist. Inhaltlich decken sie ein weites Spektrum ab. Disziplinär bewegen sie sich zwischen Geschichte und Literaturwissenschaft, hier Romanistik und Germanistik. Dieser Sammelband ist ein gutes Beispiel dafür, wie anregend Interdisziplinarität ist, allerdings auch dafür, dass diese Begrenzung immer noch zu eng ist. Eine Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Fragestellungen könnte ihn enorm bereichern und einzelnen Studien größere Bedeutungsmacht über den jetzt schon interessierten Wissenschaftskanon hinaus verleihen. Einen Ansatz dazu bieten mehrere Arbeiten (Mollenhauer, Pleitner, Sven Oliver Müller) zum Beispiel mit der Rolle des Begriffs der Arbeit bei Identitätskonstruktionen und Abgrenzungen, ohne diese jedoch tiefergehend zu analysieren und weiter zu verfolgen. Denn, um mit Seyla Benhabib zu sprechen, Auseinandersetzungen um Identität und Alterität gehen immer auch um Verteilungsfragen. Dieser Aspekt wird hier trotz Ausnahmen wie Sven Oliver Müllers Arbeit, in der nationale Verantwortung und Verrat an der Nation anhand der Streiks im britischen Kohlebergbau während des Ersten Weltkriegs diskutiert werden, nur am Rande thematisiert.

Der vorliegende Band ist ein Muss für alle an der Frage der Konstruktion nationaler Identitäten Interessierten und darüber hinaus eine durchweg spannende Lektüre.

Simone Borgstede, Hamburg





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