ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Torsten Diedrich, Waffen gegen das Volk. Der 17. Juni 1953 in der DDR, R. Oldenbourg Verlag, München 2003, 259 S., geb., 19, 80 EUR.

Nur wenige Tage in der deutschen Geschichte sind so unterschiedlich interpretiert worden wie der 17. Juni 1953. War dieser Tag für viele Ostdeutsche mit der Erinnerung an den Aufstand gegen eine verhasste Staatsmacht verbunden, so war er für die Herrschenden in der DDR eine Quelle ständiger Sorge, der "Tag X" eines vom Westen gesteuerten faschistischen Putsches. In der Bundesrepublik schnell zum Nationalfeiertag avanciert, hielten ihn die einen für einen antitotalitären Volksaufstand, die anderen für einen sozial bedingten Arbeiteraufstand. Für immer mehr Bundesdeutsche war er jedoch nur noch ein Feiertag im Juni mit unklarem Hintergrund, der nach der deutschen Wiedervereinigung durch den 3. Oktober als Tag der deutschen Einheit ersetzt wurde.

In dieser Situation war es mehr als verwunderlich, dass der 50. Jahrestag dieses Aufstandes eine solche öffentliche Aufmerksamkeit erregte, wie nach der friedlichen Revolution von 1989/90 kein anderes zeitgeschichtliches Ereignis. Dies war einer kleinen Gruppe von Historikern, Politikwissenschaftlern, Vertretern von Opferverbänden und Politikern zu verdanken, die rechtzeitig die Bedeutung des 17. Juni 1953 für die bundesdeutsche kollektive Erinnerung begriffen. Die Grundlage für das mediale Interesse schuf auch eine große Anzahl neuer Veröffentlichungen zu diesem Thema, die unsere Kenntnis über den Charakter, die Führer und das Ausmaß des Aufstandes erheblich erweiterte. So sind Streiks, Demonstrationen und Proteste, an denen sich breite Schichten der Bevölkerung beteiligten, jetzt in mehr als 700 Orten nachweisbar. Die Zahl der Demonstranten lag über der Grenze von 500.000 Menschen und es wäre möglich, dass sich eine Million Ostdeutscher an dem Aufstand beteiligten.

Bei einer Analyse der jetzt vorgelegten Arbeiten fallen jedoch erheblich qualitative Unterschiede auf. Zu den besten Arbeiten zählt die von Torsten Diedrich, weil er die Vorgeschichte des 17. Juni 1953 präzise beschreibt, die definitorischen Probleme bei der Beschreibung des Aufstandes analysiert, und vor allem, weil er den Einsatz bewaffneter Kräfte gegen das Volk erstmals so umfassend darstellt. Der Verfasser beschreibt den Aufstand als Symbol deutscher Demokratiebestrebungen für Selbstbestimmung und Freiheit. Die revolutionäre Situation in Ostdeutschland entstand durch die ab 1952 forcierten Bestrebungen zum Aufbau eines Sozialismus stalinistischer Prägung, wobei Diedrich zu Recht die sonst weitgehend vernachlässigten Bestrebungen zur Hochrüstung der neu zu erstellenden ostdeutschen militärischen Kräfte beschreibt. Dieses auf Wunsch Moskaus vollkommen überspannte Rüstungsprogramm veränderte die Strukturen der Volkswirtschaft und führte zu einer Reduzierung sozialer Standards und des Niveaus der Versorgung der Bevölkerung. Letztlich war die SED-Führung nicht in der Lage, eine 300.000 Mann starke Armee aus dem Boden zu stampfen und riskierte auf dem Weg zu diesem imaginären Ziel die eigene Herrschaft. So brachten die Versuche, die auch aus der Rüstung entstandenen ökonomischen Probleme administrativ zu lösen, die Bevölkerungsstimmung auf den Siedepunkt.

Jetzt musste die Führung der Staatspartei auf Druck der Sowjetunion ihre bisherigen Maßnahmen in einem "Neuen Kurs" revidieren, der verschiedenen Bevölkerungsschichten Erleichterungen brachte, die Arbeiter jedoch weitgehend vernachlässigte. Dies war ein schwerwiegender Fehler, wie sich spätestens am 16. Juni 1953 zeigte. Zuerst ging der Protest von Bauarbeitern aus, um dann auf große Teile der Bevölkerung überzuspringen, wie Diedrich eindrucksvoll zeigt. Genauso gelingt es ihm, das Übergreifen der Proteste von Berlin auf die DDR zu schildern und darzustellen, dass sich West-Berliner deshalb im Ostteil der Stadt engagierten, weil sie diese als Einheit begriffen und er hat auch Recht, wenn er meint, dass der RIAS den Aufstand zwar nicht organisierte, zu seiner Verbreitung durch seine Sendungen jedoch maßgeblich beitrug.

Die Führung der SED setzte ihre militärische Macht nur begrenzt zur Niederschlagung des Aufstandes ein. So wurde die kasernierte Volkspolizei für einen Einsatz gegen die Aufständischen als nur bedingt einsatzfähig angesehen. Ausschlaggebend dafür waren ideologische Bedenken, außerdem versagten Alarmsysteme, es fehlte an Waffen, Munition und an Verpflegung. Letztlich war diese Truppe zwar systemloyal, jedoch für den Einsatz bei inneren Unruhen nicht geeignet. Die dafür geschaffene Geheimpolizei des Ministeriums für Staatssicherheit versagte dagegen grundsätzlich, und auch auf die Volkspolizei war nur begrenzt Verlass. Letztlich blieben zum Machterhalt lediglich die Truppen der ehemaligen sowjetischen Besatzungsmacht übrig. Diese setzte ihre Führung zwar massiv ein, doch führte sie lange zurückhaltend. Das änderte sich erst, als die Protestierenden auch dieser Macht nicht weichen wollten. Allerdings weist der Verfasser zu Recht darauf hin, dass Schüsse aus den Panzerkanonen auch in dieser Situation nicht nachweisbar sind.

Rückblickend wird deutlich, dass der 17. Juni ein "Lernschock" für Herrschende und für Beherrschte war. Die Herrschenden bauten einerseits das Unterdrückungs- und Denunziationsinstrumentarium in bisher nicht gekannter Weise aus, hatten aber auch begriffen, dass die materiellen und sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung nicht einfach ignoriert werden konnten. Den Ostdeutschen war deutlich geworden, dass auf Freiheitsbewegungen mit Panzern geantwortet wurde und aus dem Westen keine Hilfe zu erwarten war. Dies ließ sie bei der Artikulierung politischer Hoffnungen in Zukunft vorsichtig sein.

Schließlich äußert Diedrich Zweifel daran, dass 1953 Forderungen der Aufständischen nach Demokratie und freien Wahlen "automatisch" zur deutschen Einheit geführt hätten. Dies ist dann berechtigt, wenn die außenpolitischen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden, wäre allein das Wollen der Ostdeutschen ausschlaggebend gewesen, dann wäre bereits 1953 die deutsche Teilung überwunden worden. Und dass es den Menschen in der DDR damals zuerst um eine demokratische Reform der Diktatur gegangen wäre, vermag nicht zu überzeugen. Dagegen kommt auch Diedrich zu der Erkenntnis, dass die Herrschaft der SED ohne das militärische Eingreifen ihres sowjetischen Partners schon 1953 am Ende gewesen wäre. Dann wäre auch – anders als Diederich meint – d er Aufstand endgültig zur Revolution geworden.

Heute wird geschichtspolitisch der Volksaufstand der Ostdeutschen weiterhin von großer Bedeutung bleiben und es kommt jetzt darauf an, die Erinnerung an diesen Tag auf Dauer zu stellen. Wenn dies gelänge, dann würde dieser Aufstand gegen totalitäre Machtanmaßung endgültig zur demokratischen Tradition der Bundesrepublik zählen. Forschungsmäßig wird allerdings nach der Flut der Veröffentlichungen im Jahr 2003 auf lange Zeit nichts Neues mehr zu erwarten sein. Bestenfalls könnten einige Regionalstudien unser Wissen über den 17. Juni 1953 erweitern. Dagegen wird die Zukunft vergleichenden Studien gehören, an deren Ende eine umfassende Darstellung deutscher und demokratischer Freiheitsbewegungen stehen sollte.

Rainer Eckert, Berlin/Leipzig





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