ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Peter Winzen, Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily-Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung und Dokumentation. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2002, 369 S., geb., 88 EUR.

Unbestritten ist seit langem die Bedeutung der Daily-Telegraph-Affäre genannten innenpolitischen Krise des Jahres 1908 für die Geschichte des deutschen Kaiserreichs (Schüssler, 1952; Hiller von Gaertringen, 1956). Der Rang der Daily-Telegraph-Affäre für die deutsche Außenpolitik ist hingegen erst 1994 von dem englischen Historiker Thomas G. Otte untersucht worden, während Fritz Fischer 1991 – freilich ohne eigene Archivstudien – auf das Interview des deutschen Kaisers mit dem amerikanischen Geistlichen und Journalisten William Bayard Hale vom 19.7.1908 an Bord der "Hohenzollern" vor Bergen in Norwegen aufmerksam gemacht hat.

Peter Winzen hat nun beide Interviews, ihre Genese, ihren Inhalt und die sich anschließenden Debatten in einer zweigeteilten Publikation vorgelegt. Die Dokumentation enthält 130 Aktenstücke (S. 93-343) und reicht von 1907 bis 1931. Bisher ungedruckte Stücke aus Nachlässen im Bundesarchiv, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts und in Staatsarchiven werden überwiegend ohne Kürzungen präsentiert. Das Hale-Interview, dessen Veröffentlichung im amerikanischen Monatsmagazin Century vom Auswärtigen Amt in letzter Minute bei Zahlung von 3 500 Dollar verhindert werden konnte (Aufkauf der 150 000 bereits gedruckten Exemplare für das Dezember-Heft 1908) und zwei weitere damit im Zusammenhang stehende für die politische Auffassung Wilhelms II. bezeichnende Stücke werden erstmals veröffentlicht. Der vereinzelte Wiederabdruck von Dokumenten v. a. aus der Großen Politik ließ sich nicht vermeiden.

Was Winzen zusammengetragen und überaus sachkundig ediert und kommentiert hat, ist in der Tat ebenso detailliert wie aufschlussreich. Wie der Herausgeber überzeugend herausstellt, rechtfertigt die Dokumentation der Daily-Telegraph-Affäre (28.10. – 17.11.1908) keineswegs die Auffassung, es handele sich lediglich um eine historische Momentaufnahme. Verschlungene Wege führten von Juli bis Dezember 1908 zu den verschiedenen Versionen des Hale-Interviews. Theodore Roosevelt und den Außenministern in London und Tokio sowie Redaktionen renommierter internationaler Zeitungen war das Hale-Interview ebenso bekannt wie im Kern der französischen und schwedischen Regierung. Es wurden ursprüngliche Aussagen des deutschen Kaisers über England gestrichen. "He poured out a steady stream of insult upon the English for two hours", so Hale an Reick, den Besitzer der New York Times, am 19.7.1908. Ebenso wurde sodann der Anspruch des deutschen Kaisers auf die Gestaltung der weltpolitischen Zukunft durch die USA und das Deutsche Reich unterdrückt.

Nach Winzen ist "nahezu hundertprozentig" anzunehmen, dass Bülow den ursprünglichen Text des Daily-Telegraph-Interviews gelesen hat, bevor er ihn dem Auswärtigen Amt zur Überprüfung zuleitete, und sodann den Kaiser belog. Umgekehrt belog der Kaiser den Kanzler, als er ihm versicherte, mit Hale nicht über die Beziehungen zu England gesprochen zu haben.

Der Darstellungsteil (S. 19-88) beschäftigt sich überwiegend mit Bülows Krisenmanagement in der Daily-Telegraph-Affäre. Er zeichnet minutiös, soweit möglich, die Verbindungen zum Hale-Interview, das z. T. zeitgleich das Auswärtige Amt in Atem hielt, und seine "Behandlung" nach. Das Resümee (S. 88-91) bietet in acht Thesen die Ergebnisse der Darstellung und versucht, die "Kristallisationskerne für die Katastrophe von 1914 und den Umsturz von 1918" in der Novemberkrise des Jahres 1908 zu ermitteln (Schwinden des Kaisermythos; Unbehagen an der internationalen Ausgrenzung; wachsende Bereitschaft, die Zukunftsfragen mit Waffengewalt zu lösen). Hier hätte man sich mehr Differenzierung gewünscht. Gleichwohl bleibt beängstigend, wie auch aus der seitens des Auswärtigen Amts entschärften Fassung des Hale-Interviews, die Kriegsbereitschaft des deutschen Kaisers, ja sogar seine Erwartung eines militärischen Konflikts mit England hervortritt.

Die Unglaubwürdigkeit der Beteuerungen seiner Englandfreundschaft im Daily-Telegraph-Interview wird umso handgreiflicher. Die Idee einer militärischen Machtdemonstration vor Casablanca zur selben Zeit macht die gezielte Auskreisungsstrategie in der deutschen Reichsführung vollends deutlich.

Das heuchlerische und dabei überaus geschickte Krisenmanagement des Kanzlers, die bis jetzt unverständlicherweise aus dem Blick geratene Beteiligung des Staatssekretärs des AA, von Schoen, die psychisch bedingte Anfälligkeit und Rätselhaftigkeit des Kaisers (Grey: "not quite sane"), aber auch die Entschlossenheit führender Parteipolitiker in der Reichstagsdebatte am 10.11. einschließlich der dezidierten Presseäußerungen (F. Naumann u. a.) werden von Winzen sorgsam zu einem Gesamtbild vereint. Einen spektakulären Höhepunkt der Verschleierungsstrategie Bülows bildet das sekretierte Ergebnisprotokoll der Sitzung des Preußischen Staatsministeriums vom 11.11.1908, das Winzen aufgestöbert hat (Nr. 61). Es zeigt nicht nur die bekannte skrupellose Entschlossenheit des Kanzlers, im Amt zu bleiben. Vielmehr gab es Bülow eine "Abmahnung" an Wilhelm II. "für sein öffentliches Auftreten ohne ein verfassungsmäßiges Mandat" (Winzen, S. 58) an die Hand. Als ausgewiesener Kenner (u.a. Bülows Weltmachtkonzept. Untersuchungen zur Frühphase seiner Außenpolitik 1891-1901, 1977) hat Winzen umfassendes Material und seine Interpretation zum Verständnis eines Krisenjahres der deutschen Innen- und Außenpolitik vorgelegt. Der Titel "Das Kaiserreich am Abgrund" kann – mit Blick auf die vor 1914 gescheiterte Verfassungsreform – in doppelter Hinsicht als Fanal gelten.

Michael Behnen, Göttingen





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