Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online
Bernd Ulrich / Jakob Vogel / Benjamin Ziemann (Hrsg.), Untertan in Uniform. Militär und Militarismus im Kaiserreich 1871 bis 1914. Quellen und Dokumente, S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2001, 236 S., kart., 13,90 EUR.
Mit der vorliegenden Quellensammlung verfolgen die Herausgeber das Ziel, "zu einer Nuancierung und Differenzierung des Bildes vom Militär im Deutschen Kaiserreich 1871-1914 beizutragen". (S. 27) Sie wenden sich insbesondere gegen die karikaturhaften Überzeichnungen des Militarismus in liberalen und sozialdemokratischen Zeitschriften. "Diese Karikaturen zeigen zumeist eine von Zivilisten ehrfurchtsvoll angebetete Pickelhaube oder einen monokeltragenden adligen Leutnant, der mit schnarrendem Tonfall Gemeinplätze verkündet." (S. 15) Wahrscheinlich haben die Herausgeber mit ihrer Vermutung recht, dass die Karikaturen des preußisch-deutschen Militarismus noch immer in unseren Köpfen umherspuken. Ihr Anliegen, dieses Zerrbild für ein breiteres Publikum in einem historischen Lesebuch zu korrigieren und zu nuancieren, ist also durchaus begrüßenswert. Der Titel ist allerdings irreführend, unterstreicht er doch geradezu das hartnäckige Stereotyp des "Untertanen in Uniform" als Sinnbild der wilhelminischen Epoche [Fn.1] und suggeriert die Gleichung Untertanenmentalität = Militarismus. Ein einfaches Fragezeichen hinter dem Titel hätte schon geholfen.
Für die Quellensammlung wurden rund 150 Schriftstücke aus verschiedenen Militärarchivbeständen, der Militärpublizistik, Ausschnitte aus den stenographischen Berichten des Reichstages, autobiographische Selbstzeugnisse sowie zehn Abbildungen ausgewählt, die ein breites Licht auf Militär und Gesellschaft im Kaiserreich werfen. Sie sind in sechs thematischen und chronologischen Blöcken angeordnet Militär und Nationsbildung, allgemeine Wehrpflicht, "militärische Gesellschaft", Militär und Politik, Militarismus und Antimilitarismus und "Von kommenden Kriegen" und unter Stichwörtern in kleinen Gruppen gebündelt. Kurze Einführungen erläutern jeweils den Entstehungszusammenhang und den historischen Hintergrund der Quelle. Der inhaltliche Schwerpunkt der Dokumente liegt dabei auf dem inneren sozialen Gefüge der Armee und verschiedenen Aspekten der Militarisierung der Gesellschaft. Innerhalb dieses Rahmens vermittelt die Quellensammlung tatsächlich ein lebendiges Bild des Militärs in all seiner Widersprüchlichkeit, das zum kritischen Nachdenken über seine Rolle im damaligen Deutschland anregt. Das Problem des vorliegenden Lesebuches besteht weniger in den dargebotenen als vielmehr in den ausgelassenen Themenfeldern, allen voran "der weitläufige Komplex der wilhelminischen Flottenrüstung und Flottenpropaganda", wie die Herausgeber selbst konzedieren. Einige Auslassungen lassen sich "aus Platzgründen" in einem schmalen Lesebuch sicher rechtfertigen. (S. 24) Wie aber sollen Militär und Militarismus im Kaiserreich verstanden werden, ohne dass ein Blick auf die Marine, die Flottenrüstung und den gewaltigen Militarisierungsschub, den sie unter bürgerlichen Männern, Frauen und Kindern auslöste, geworfen wird? Gerade in der weltanschaulichen Aufsplitterung des preußisch-deutschen Militarismus in eine eher konservative Strömung und eine bürgerlich-radikalnationalistische Massenbewegung, die sich mit Vorliebe um die kaiserliche Flotte als Symbol imperialer Machtpolitik scharte, liegt doch eines seiner Spezifika. [Fn.2]
Ein grundsätzliches Problem einer jeden Beschäftigung mit Militarismus liegt ferner in der sinnvollen Verzahnung der Begriffe "Militär," "Militarisierung(en)" und "Militarismus". [Fn.3] Ist alles, was mit Militär zu tun hat, Militarismus? Inwiefern bedeutet "allgemeine Wehrpflicht" eine "Militarisierung der Gesellschaft", wie dies eine Kapitelüberschrift nahe legt? (S. 57) Anstelle einer Definition spüren die Herausgeber in der Einleitung zunächst der Geschichte des pejorativen Schlagwortes "Militarismus" nach. (S. 11-18) In der kurzen Periode zwischen 1867 und 1870 avancierte der Begriff zur massenwirksamen Kampfparole, mit der Partikularisten, süddeutsch-großdeutsche Liberale, Arbeitervereine und Katholiken ihrem Unmut gegen den preußischen Staat und seine Militärinstitution des stehenden Heeres mit allgemeiner Wehrpflicht Luft machten. Den Hauptstrom der Militarismuskritik brachte 1893 der linksliberale Historiker und Pazifist Ludwig Quidde mit seiner "Anklageschrift" zu Papier, in der er den "Militarismus in der Armee", "in seiner Einwirkung auf die bürgerliche Gesellschaft und Volksgeist" sowie "im Staate, in der Regierung, Verwaltung und Gesetzgebung" scharf kritisierte. [Fn.4] Damit war ein "Militarismus nach innen" umrissen. [Fn.5] Gleichzeitig verengte sich der Militarismusvorwurf immer mehr auf die adelige Präponderanz in der Armee und gerann zu einer satirischen Karikatur. Aus der Genese des Militarismusbegriffs als Kampfbegriff, dem die politische Instrumentalisierung in die Wiege gelegt war, ziehen die Herausgeber den Schluss, dass "sich eine ,militaristische Position nur in der Verschränkung von Fremdwahrnehmung und Selbstbeschreibung hinlänglich definieren [ließ]". (S. 25) Diese Sicht auf Militarismus als gesellschaftliches Konstrukt ist völlig legitim, sie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gegenseitigen Zuschreibungen der Zeitgenossen sich keinesfalls mit dem heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand über Militarismus decken. Hier gilt es sich zu vergegenwärtigen, was Michael Geyer vor nunmehr 25 Jahren mit Blick auf die Militarismuskritik im Wilhelminismus festhielt, nämlich "daß ein Gutteil der Gegnerschaft gegen den preußisch-deutschen ,Militarismus gerade in dem Streben nach einem liberal-imperialistischen Machtstaat zu suchen ist". [Fn.6] Das war das Janusgesicht der wilhelminischen Militarismuskritik, denn sie verdankte sich eben nur noch zu geringen Teilen pazifistischen oder demokratischen Überzeugungen, sondern verkörperte statt dessen einen "Militarismus nach außen" im Sinne gewaltsamer militärisch-industrieller Expansion. [Fn.7]
Die Definitionsproblematik des Militarismusbegriffs hat eine lange Geschichte. [Fn.8] Trotzdem sollte unbedingt an Militarismus als heuristischem Konzept, mit dem sich eine historische Wirklichkeit beschreiben lässt, festgehalten werden. Implizit tun dies auch die Herausgeber, etwa indem sie Stig Försters Modell einer Unterscheidung von konservativem und bürgerlichem Militarismus [Fn.9] aufgreifen (S. 20, 81) und wichtige Erträge der neueren sozialgeschichtlichen Forschung daran anknüpfen. Beispielhaft sei hier auf Untersuchungsergebnisse zum Deutschen Wehrverein verwiesen, einem völkisch-radikalnationalistischen Sammelbecken für Befürworter einer aggressiven Aufrüstungspolitik kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Von hier weisen starke Kontinuitätslinien zur 1917 gegründeten protofaschistischen Deutschen Vaterlandspartei, die sich derselben massenagitatorischen, außerparlamentarischen Methoden bediente und ähnlichen antigouvernementalen Zielen verschrieb. Hartnäckig verweigerte sie sich Reformen im Innern und propagierte selbst dann noch einen Siegfrieden, als die militärische Katastrophe des Deutschen Reiches längst ihren Lauf nahm. "Den" Militarismus im Kaiserreich hat es nie gegeben. Oder doch? Die Antwort wird künftigen Studien, vor allem regional und international vergleichenden, vorbehalten bleiben. Als spannendes Lesebuch trägt die Quellensammlung ihren Teil dazu bei, dass das Interesse an einem der folgenschwersten Phänomene der deutschen Geschichte des späten 19. und 20. Jahrhunderts nicht verebbt, sondern einer breiteren Leserschaft zugänglich gemacht wird.
Wencke Meteling, Tübingen
Fußnoten
1. - Zur Debatte um den Charakter des Kaiserreiches siehe Nipperdey, Thomas, War die wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft?, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1990, S. 208-224 sowie den Forschungsüberblick von Kühne, Thomas, Das deutsche Kaiserreich 1871-1918 und seine politische Kultur: Demokratisierung, Segmentierung, Militarisierung, in: Neue politische Literatur 43 (1998), S. 206-263.
2. - Siehe hierzu die Studie von Förster, Stig, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression 18901913, Stuttgart 1985.
3. - Ein gutes Definitionsangebot bei Wette, Wolfram, Für eine Belebung der Militarismusforschung, in: ders. (Hrsg.), Militarismus in Deutschland 1871 bis 1945. Zeitgenössische Analysen und Kritik (Jahrbuch für Historische Friedensforschung, 8. Jg. 1999), Münster 1999, S. 13-37, hier 13f.
4. - [Quidde, Ludwig], Der Militarismus im heutigen Deutschen Reich. Eine Anklageschrift, Stuttgart 1893, wiederabgedruckt in: ders., Caligula. Schriften über Militarismus und Pazifismus, mit einer Einleitung hrsg. von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt a.M. 1977, S. 81-130, hier 84, 99, 109.
5. - Geyer, Militarismus, S. 34.
6. - Conze, Werner/Stumpf, Reinhard/Geyer, Michael, Art. "Militarismus", in: Brunner, Otto u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 1-47, hier 33.
7. - Geyer, Militarismus, S. 34.
8. - Als Überblick über die Forschungsgeschichte Berghahn, Volker R. (Hrsg.), Militarismus. Die Geschichte einer internationalen Debatte, Hamburg/Leamington Spa/N.Y. 1986.
9. - Förster, Der doppelte Militarismus.