ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Werner Müller/Fred Mrotzek/Johannes Köllner, Die Geschichte der SPD in Mecklenburg und Vorpommern. Mit einem Vorwort von Harald Ringstorff, Verlag J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2002, 272 S., br., 14,80 EUR.

Eine zusammenhängende Politik- und Organisationsgeschichte der Sozialdemokratie in Mecklenburg und Vorpommern war bislang ein Desiderat. Selbst die in Rostock tätigen Historiker Werner Müller, Fred Mrotzek und Johannes Köllner verstehen ihre jüngst in Buchform vorgelegten Forschungsergebnisse als ersten Schritt, dem weitere Arbeiten folgen sollen. Ertragreich wäre eine intensivere Behandlung von sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen, und auch die Heterogenität von unterschiedlich stark ausgeprägten sozialdemokratischen Milieus könnte schärfer konturiert werden. Als vielversprechender Ansatzpunkt für ein solches Unterfangen empfiehlt sich ein Vergleich zwischen der Lebenswelt, die für die wenigen Städte mit Industrieansiedlung charakteristisch war, und dem weitmaschigen Organisationsnetz der Arbeiterbewegung auf dem Lande. Trotz dieser noch zu erbringenden Forschungsleistungen gebührt den Verfassern das Verdienst, nicht bloß einen konzisen und soliden Überblick zu bieten, sondern manches Detail aus der Geschichte der mecklenburgischen SPD und ihrer Umfeldorganisationen zu Tage befördert und erhellt zu haben.

Dabei stand die knapp 150 Jahre behandelnde Darstellung vor einer doppelten Herausforderung: Neben der früheren territorialen Vielfalt des heutigen Bundeslandes führte vornehmlich die über weite Strecken unbefriedigende, wenn nicht sogar desolate Quellenlage zu massiven Problemen. Für die Zeit bis 1933 blieb Müller, Mrotzek und Köllner häufig keine andere Wahl, als sich auf Zeitungen, Landtagsprotokolle und weitere gedruckte Materialien zu stützen. Oftmals ungleich aussagekräftigere Quellen, etwa parteiinterne Korrespondenz, wurden von Sozialdemokraten gezielt vernichtet oder fielen den nationalsozialistischen Machthabern zum Opfer. Noch schlechter ist es mit Zeugnissen aus den Jahren der NS-Herrschaft bestellt. Gerade konspirative Treffen wurden selten per schriftlicher Mitteilung, sondern in aller Regel mündlich verabredet. Obendrein kam es im Zuge der Zwangsvereinigung wiederum zu einer systematischen Vernichtung relevanter Unterlagen – diesmal, um sie nicht in die Hände der Kommunisten gelangen zu lassen. Der chronische Papiermangel nach dem Zweiten Weltkrieg hätte ohnedies eine breite Überlieferung verhindert. Lediglich für die Zeit nach 1989 besteht eine als gut zu bezeichnende Materiallage, obwohl sich manche Akten über die Neugründung der SPD noch unter Verschluss befinden.

Ausgehend von der Konstituierung des ersten Arbeitervereins im August 1848 in Schwerin, gliedert sich die Geschichte der Sozialdemokratie in Mecklenburg und Vorpommern in fünf Abschnitte. Johannes Köllner skizziert die Entwicklung der Arbeiterbewegung bis zum Ersten Weltkrieg. Er würdigt die Rolle des Hofbaurates Georg Adolph Demmler als Nestor der mecklenburgischen Sozialdemokratie und schildert die Auswirkungen des "Sozialistengesetzes". Den SPD-Bezirk Mecklenburg-Lübeck offiziell zu gründen, war erst 1908 nach dem Inkrafttreten des Reichsvereinsgesetzes möglich. Bis dahin bremste ein reaktionäres Vereins- und Versammlungsrecht, das auf den Großherzog von Mecklenburg-Schwerin zurückging und seit 1851 galt, jedwedes Engagement für die Sozialdemokratie.

Das Kapitel über die Weimarer Republik stammt von Fred Mrotzek. Besonders gelungen sind die Passagen, die sich mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch, der Frauenorganisation und dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold beschäftigen. Warum sich die SPD der Landarbeiterfrage zu spät angenommen haben soll, bleibt indes unklar. Diese gerade für das agrarisch strukturierte Mecklenburg bedeutende These hätte einer tiefer gehenden Erläuterung bedurft.

Für die letzten drei Abschnitte, die von 1933 bis in die neunziger Jahre reichen, zeichnet Werner Müller verantwortlich. Er beleuchtet die Handlungsspielräume der Arbeiterbewegung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und beschreibt die im Sommer 1945 in Angriff genommene Wiedergründung der SPD, die nach Anfangsschwierigkeiten rasch Erfolge zeitigte. Die Zwangsvereinigung wird differenziert und mit Rekurs auf die Politik der zentralen Parteiinstanzen in Berlin nachgezeichnet. Etliche Sozialdemokraten wie Albert Schulz, Willy Jesse oder Max Fank bekamen die Repressionen der sowjetischen Besatzungsmacht zu spüren. Die Gründung der SED leitete einen irreparablen Bruch ein. Als sich 1989, nach mehr als vierzigjähriger Unterdrückung und Verfolgung, die SDP im Umfeld von Bürgerbewegungen konstituierte, waren die Traditionslinien der mecklenburgischen Sozialdemokratie nahezu gänzlich verschüttet.

Dem kritischen Leser dürften bei der Lektüre eine Reihe von Ungenauigkeiten auffallen. Um nur einige zu nennen: Julius Asch war von 1926 bis 1929 nicht bloß Landwirtschafts-, sondern auch Finanzminister (S. 96), der für die Darstellung entscheidende Reichstagswahlkreis umfasste neben Mecklenburg auch Lübeck (S. 121), und schließlich war Albert Schulz weder der erste sozialdemokratische Oberbürgermeister von Rostock, noch fungierte er nach seiner Flucht aus der SBZ als Landesgeschäftsführer der SPD im Bezirk Schleswig-Holstein. (S. 210) Überdies wird nicht erläutert, welche Szene das Titelfoto zeigt. Diese Kritikpunkte können den positiven Gesamteindruck jedoch kaum schmälern, zumal das reichhaltige Bildmaterial ansonsten mit größter Sorgfalt aufbereitet wurde.

Meik Woyke, Hamburg





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