ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Beatrix Müller-Kampel, Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert, Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2003, 258 S. + 16 S. Bildteil, kart., 29,80 EUR.

"Hanswurst, Bernardon und Kasperl nehmen innerhalb der europäischen Komikgeschichte einen prominenten Platz ein", betont die Verfasserin mit Recht in ihrer Vorbemerkung und stellt zugleich fest, dass die drei Lustigmacher trotz ihrer Bedeutung und zahlreicher Forschungsliteratur immer noch "zu den unterschätzten, verkannten (...) Akteuren einer noch zu schreibenden Geschichte des Lachens" gehören, die "Bedingungen und Ausdrucksformen" des Lachens ebenso untersuchen müsste wie seinen "zeitlichen und räumlichen Bestand" sowie seine "Funktionen und prozessualen Veränderungen."

Dazu leistet Müller-Kampel einen wichtigen Beitrag mit ihrer Arbeit, in der sie einen "Rundblick über die phänotypischen Eigentümlichkeiten und Zusammenhänge der Lustigen Figur" geben will. Ganz bewusst schreibt sie keine Geschichte der Institutionen oder der Darsteller und Autoren, vielmehr will sie mit ihrer ausführlichen "Deskription und Analyse" der "komischen Rede- und Aktionsformen von Hanswurst, Bernardon und Kasperl (...) Einblick in (...) politik- und mentalitätsgeschichtliche Bedingtheit und (...) Ausblick auf (...) zivilisationsgeschichtliche und anthropologische Horizonte" der Lustigen Person ermöglichen.

Sie konzentriert sich dabei auf das "Alt-Wiener Spaßtheater" (S. 29) im 18. Jahrhundert, dessen Entwicklung sie von Stranitzkys Haupt- und Staatsaktionen im Kärntnertortheater bis hin zu den Werken Perinets und Henslers für den Kasperl-Darsteller La Roche im Leopoldstädter Theater verfolgt. Als Materialgrundlage zieht sie exemplarisch die von R. Payer von Thurn veröffentlichten 14 Wiener Haupt-Staatsaktionen heran, die Bernardoniaden von Felix Kurz-Bernardon sowie Maschinenkomödien und Zauberpossen von Marinelli, Cremeri, Hafner, Perinet bis hin zur "Zauberflöte" von Mozart und Schikaneder.

Im ersten Teil stellt Müller-Kampel die Werke vor, ordnet sie gattungsgeschichtlich ein und befasst sich mit einigen wesentlichen Motiven und der Dramaturgie und beschreibt ausführlich die Lustige Figur in diesen Werken.

Ausgehend von der fiktiven Biographie des Lustigmachers, seinem "Beruf" als Sauschneider, seiner Funktion als Diener und seinem Kostüm, entfaltet Müller-Kampel akribisch die Eigenschaften des Lustigmachers, die sie aussagekräftig in den Kapitelüberschriften zusammenfasst: "Narr und Galgenstrick", "Freßsack und Säufer", Hosenscheißer und Windmacher" "Frauensammler und Sexualphantast", "Analphabet und Illiterat", "Feigling und Prahlhans" , "Zankteufel, Raufbold und Leichenschänder" "Hanswurst und das Geld." Diese stets komisch gewendeten und dargestellten Eigenschaften beschreibt Müller-Kampel anschaulich anhand zahlreicher Textstellen, wobei sie als zentrales und stets wiederkehrendes Moment der Komik die "Wiederholung und Kontrastierung des Geschehens der höheren auf niederer Ebene" und die "Herabsetzung des Helden-, Liebes- und Tugendideals der Herren durch den Materialismus des feigen, ehrvergessenen und leibversessenen Dieners" betont. Anhand der Texte kann sie einerseits die Verwandtschaft der verschiedenen Figuren über das ganze Jahrhundert hinweg belegen und andererseits nachweisen, wie im Laufe des Jahrhunderts die aufsässigen und ganz fleischlichen Genüssen ergebenen Figuren Hanswurst und Bernardon zum "geschlechtslosen" Kasperl gemacht werden, der nur noch ein "Diminutiv der hanswurstischen Leiblichkeit von einst" und im "Vergleich mit Stranitzkys Hanswurst und Kurz’ Bernardon entdämonisiert, entzaubert und verharmlost" wurde.

Diesen Veränderungen, die sie als "Rationalisierungsschub" und "Psychologisierung der Glücksvorstellung" des Lustigmachers beschreibt und die vor allem ab der Mitte des 18 Jahrhunderts feststellbar sind, geht Müller-Kampel im zweiten Teil ihrer Untersuchung nach. Sie ordnet diesen "Zivilisations- und Verbürgerlichungsprozess" in den Kontext des "mariatheresianisch-josefinischen Reformwerks" im 18. Jahrhundert ein, setzt sich aber bei der Diskussion um diese Veränderung auch mit sozialwissenschaftlichen Theorien von Max Weber bis zu Foucault auseinander und versucht, diese "makrohistorischen Prozesse" von einem "einzelnen Phänomen" her zu durchleuchten; dabei weist sie anhand des Phänotypus Lustigmacher auf "Widersprüche, Ungleichzeitigkeiten, Brüche" hin und konstatiert, dass das "Wiener Unterhaltungstheater viel länger als jenes in den protestantischen deutschen Ländern (...) an antididaktischen und amimetischen Komikkonzepten und Komikformen" festhielt, worin sie eine "Ungleichzeitigkeit in der Etablierung des Aufklärungsparadigmas" sieht, die "zivilisationsgeschichtlich ein Phänomen der Verspätung genannt werden" darf.

Dieser Schlussfolgerung mag man für das Wiener Spaßtheater nach den von Müller-Kampel ausgebreiteten Befunden durchaus zustimmen, doch ist ihre Feststellung dass sich im Gegensatz dazu im "norddeutsch-sächsisch-protestantischen Raum das wohlgegliederte, individualisierende, sittenkonforme und tendenziell didaktisierende Lustspiel durchgesetzt" habe, nicht in gleichem Maße von ihr belegt, da sie Repertoire und Spielweise der zahlreichen Wandertruppen nicht untersucht hat, was auch den Rahmen ihres sehr konzisen und prägnant geschrieben Buches gesprengt hätte.

Ergänzt werden die Ausführungen durch siebzehn – überwiegend bekannten – Illustrationen der Lustigen Figur vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, von denen die einzige, die Hanswurst, Arlequin, Pierrot und Scanarelle bei ihren "orgiastischen Ausschweifungen" zeigt, freilich ein französischer Kupferstich ist. Im 3. Teil sind verschiedene zeitgenössische Texte abgedruckt, u.a. derbe Hanswurst-Arien aus dem Kärntnertortheater aus den 1730er-Jahren, eine Burleskentravestie von Hafner sowie Arien und zwei Szenarien von Kurz-Bernardon, dessen außerordentliche Bedeutung als "dramaturgiegeschichtlichen Dreh- und Angelpunkt" Müller-Kampel zu Recht betont. Das umfangreiche Verzeichnis von Primär- und Sekundärliteratur belegt nicht nur eindrucksvoll die breite Recherche der Verfasserin, sondern sollte zugleich andere Forscher dazu anregen, weiter an der noch zu schreibenden Geschichte des Lachens zu arbeiten, für die Müller-Kampel mit diesem Werk eine tragfähiges Fundament geschaffen hat.

Helmut G. Asper, Bielefeld





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