ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Günter Grass / Daniela Dahn / Johano Strasser (Hrsg.), In einem reichen Land. Zeugnisse alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Steidl Verlag, Göttingen 2002, 640 S., geb., 34 EUR.

Der Sammelband mit 52 Beiträgen, die in unterschiedlicher Form alltägliche Situationen in Deutschland schildern, die meisten in Aufsätzen, einige in Fotographien, ist lesenswert und verdienstvoll. Von den Lasten alleinerziehender Mütter, dem sozialen Fall von Alkoholikern, gescheiterten Versuchen, in den neuen Bundesländern eine berufliche Existenz aufzubauen, dem Unvermögen, die Regularien des Sozialstaates zu bewältigen, bis hin zur Situation von Aussiedlern, Asylbewerbern, Globalisierungsgegnern in Genua wird ein aspektreiches Stückwerk gesellschaftlicher Bestandsaufnahme geleistet. Die kleinen Essays sind nie langweilig, intelligent vor allem dort, wo verschiedene Seiten der Medaille zur Sprache kommen, wenn z.B. auch die Sachbearbeiterin im Sozialamt ihre Erfahrungen mit den Klienten schildert, wenn einerseits die Freude an der Selbstständigkeit neuer Arbeitsformen, andererseits der Sinnverlust eines sich ständig dynamisierenden Konkurrenzdrucks artikuliert werden.

Mitunter wird etwas zu platt Partei ergriffen. Bei einigen Autoren stehen allzu einfach der gute Globalisierungsgegner, der integrationswillige Straftäter, der selbstverständlich aufrechte Asylbewerber dem niederträchtigen Kapitalismus – der leider nicht zu Wort kommt, sondern anonym bleibt – und dem Staat, seinem Büttel, gegenüber. Man trifft auch auf das typische Argumentationsmuster einer vereinfachten Weltsicht, das die Messlatte hoch hängt und die Wirklichkeit an einem transzendenten Ideal misst. Dann, wie in dem Beitrag von Gert Heidenreich, sind selbst persönliche Schicksalsschläge wie Krankheit und Tod anklagenswerte Unrechtszustände, während die Hilfestellungen und intakte Strukturen der Gesellschaft als trügerische Verschleierungen diskreditiert werden. Allzu einseitig sind beispielsweise die Aufsätze von Gössner und Kramer, die in verschwörungstheoretischer Manier das Ende des Rechtsstaates an die Wand malen.

Die Stärke des Sammelbandes liegt gerade in der Gegensätzlichkeit der Beiträge, die sich einer homogenen politischen Deutung entziehen. Wenn ein Aufsatz mit Betroffenheitsgestus die harte Behandlung von Asylbewerbern geißelt, schildert der folgende die anmaßenden Konsum- und Versorgungsansprüche einer bosnischen Familie, der durch eine deutsche Familie Unterkunft gewährt wird. Das Panoptikum verfehlt seine Intention nicht. Perspektivlosigkeit von Emigrantenkindern, ständige Angst vor Arbeitslosigkeit, die Instabilität familiärer Bindungen, politische und soziale Verwahrlosung in den neuen Ländern, Unsicherheit und Ausbeutung in neuen Arbeitsformen präsentieren sich als Herausforderung für Staat und Gesellschaft. Soziale Härten, dies wird plastisch deutlich, haben sich verschärft. Mitunter scheinen es aber eher die familiären und kulturellen Zerrüttungen zu sein, die Erfordernis von Begrenzung und Erziehung oder auch Probleme der Überforderung mit der Komplexität der Gesellschaft, die persönliche Instabilität schnell zur existenziellen Gefahr anwachsen lassen, als das klassische Ausbeutungsverhältnis und die soziale Ungleichheit. Die Herausgeber freilich verbergen den gemeinsamen Politisierungshintergrund des überzeugt artikulierten Antikapitalismus der 70er Jahre nicht. Für sie scheint die Analyse einfach. Die "Haben-Seite" des Sozialstaates wird ausgeklammert: Der längste und komfortabelste Lebensabend der Menschheitsgeschichte, immer mehr Leiden und Krankheiten und Alterschwäche, die unter Inanspruchnahme der Solidargemeinschaft gelindert werden. Geschwiegen wird auch von den neuen Verteilungsungerechtigkeiten des Transferstaates, der Hinterlassenschaft der Staatsverschuldung und dem unbewältigten Reformstau, die vor allem von den unter Vierzigjährigen abzutragen sein wird. Die "Schadstellen im wohlständigen Gehäuse" (Grass), man hat es ja schon immer gewusst, haben ihre Ursachen im Eigentum, das nicht genug in die Pflicht genommen wird, in der "Sucht nach schnellem Profit", im "außer Kontrolle geratenen Kapitalismus". Von Problembewusstsein über die Grenzen der viel erprobten Rezepte des Transfer- und Wohlfahrtsstaates keine Spur. Für Johano Strasser ist klar, dass es so vielen Leuten "recht schlecht" geht, nur weil es vielen "recht gut" geht. Für dieses Urteil bieten die Beiträge kaum Anlass. Der Sturz in den Alkoholismus, das Unvermögen mit bürokratischen Vorgaben zurecht zu kommen, selbstverschuldete Verschuldung, rechtsextremistische Radikalisierung lassen sich nicht auf Ausbeutungs- oder Ausgrenzungsprobleme reduzieren. Eigentlich ist die Lage zu ernst, um das soziale Gewissen durch untaugliche Schemata zu okkupieren.

Annekatrin Gebauer, Neustadt/W.





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