ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Hermann Glaser, Kleine Kulturgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, Verlag C. H. Beck, München 2002, 385 S., geb., 14,90 EUR.

Zum wiederholten Male hat Hermann Glaser eine Kulturgeschichte Deutschlands vorgelegt. Diesmal greift er über seine Darstellungen zur Bundesrepublik hinaus und nimmt sich das gesamte vergangene Jahrhundert vor. Mit der Einbeziehung der Kulturgeschichte der DDR wird außerdem ein weiteres Desiderat von Glasers kulturhistorischen Darstellungen abgearbeitet. Dabei strebt er, wie die "Vorbemerkung" ausdrücklich betont, keine erschöpfende Enzyklopädie der deutschen Kulturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts an, sondern er präsentiert eine "essayistische" Sammlung kulturhistorischer Miniaturen, die in chronologisch und thematisch loser Folge die Leser auf eine Art Streifzug durch die Soziokultur fünf verschiedener Staaten und Gesellschaftssysteme entführen. Soviel kann schon vorab prophezeit werden: Die interessierten Laien werden das preiswerte Taschenbuch der dicht gepackten Information und des souveränen und überaus lesbaren Stils wegen lieben, die Fachhistoriker wohl hingegen herablassend die Nase rümpfen.

Einen Außenseiter des akademischen Betriebs, wie Glaser einer ist, sollte das zunächst nicht weiter stören. Denn gemessen am eigenen Anspruch kann die "kleine Kulturgeschichte" nämlich auf den ersten Blick als rundum gelungen bezeichnet werden. An Stelle eines systematisch angelegten Kapitelaufbaus orientiert sich Glaser an einzelnen Begriffen, Konzepten und zeitgenössischen Schlagwörtern, die er variationsreich und gut informiert, gleichzeitig ohne allzu großen Respekt vor den Grenzen der Disziplinen oder der verschiedenen kulturellen Gattungen, anschaulich auszuleuchten vermag. Unter der Überschrift "Der kühle Blick" kann Glaser zum Beispiel auf wenigen Seiten Querverbindungen zwischen der Weimarer Architektur, Malerei und Literatur ziehen, die bei einem herkömmlichen Aufbau der Darstellung unsichtbar oder nur mühsam nachvollziehbar geblieben wären. Diese motivische Konstruktion verleiht der Darstellung eine konzentrierte Beweglichkeit, die in ihrer empirischen Dichte zum Lesevergnügen wird. Beinahe jede einzelne Aussage seiner Darstellung illustriert oder untermauert Glaser mit einem Quellenzitat, ohne das sich den Lesern der Eindruck einer schwer lesbaren "Materialschlacht" aufdrängen würde. Ob jüngere Generationen der historischen Zunft das darstellende Schreiben noch so souverän und ausbalanciert beherrschen, darf füglich bezweifelt werden.

Dabei kommt Glaser allerdings auch eine Erzählhaltung zu Hilfe, die demgegenüber als kritikwürdig gelten muss: Seine Wegmarken der deutschen Kulturgeschichte entstammen einem inzwischen deutlich in die Jahre gekommenen Modernisierungsglauben, der die Kultur allzu schnell in Progressivität einerseits und Reaktion andererseits unterteilt. Eine vielfach notwendige Differenzierung in Analyse und Darstellung fällt durchgängig dem – zugegeben erfrischenden – Erzählduktus zum Opfer. Während diese moralische Grundhaltung Glasers von keinem politisch und kulturell gebildeten Beobachter missbilligt werden kann, entstehen damit grundsätzliche interpretatorische Probleme: Der Nationalsozialismus schlägt unvermittelt in eine deutsche Kulturlandschaft ein, die sich 150 Seiten lang auf einem nicht unproblematischen, aber hoffnungsvollen Grat zwischen Décadence und Modernität zu behaupten schien. Die abgründigen Ambivalenzen der deutschen Moderne bleiben dabei ebenso unklar wie die sektorale Modernität des Nationalsozialismus. Einige nationalsozialistische Wegbereiter werden im NS-Abschnitt nachgereicht, aber insgesamt entsteht der Eindruck, es habe sich seit 1933 um einen Aufstand der kulturlosen "Blut-und-Boden"-Außenseiter gehandelt, denen ein breites Spektrum der "Modernen" nichts entgegenzusetzen hatte. Die (wenn auch sicher nicht ausschließlichen) Wurzeln des Nationalsozialismus in der ökonomischen, wissenschaftlichen und technologischen Rationalität der Moderne sind da schon vor Jahrzehnten von Adorno so klar gesehen worden, wie umgekehrt zum Beispiel schon seit längerer Zeit die Anbiederungsversuche einiger Lichtgestalten aus dem Bauhaus gegenüber dem Regime von 1933 zum Thema der Kulturgeschichte geworden sind. Glasers klare Zäsuren müssen bei näherer Betrachtung durch eine erkenntnisleitende Interpretationshaltung der Ambivalenz ersetzt werden.

Das gilt in ähnlicher Weise für seine Darstellung der Nachkriegszeit. Während einerseits die westdeutsche Kultur und Gesellschaft unter dem Eindruck der "Westernization" während der fünfziger Jahre ihre Ankunft in der Moderne nachgeholt habe und von Glaser (mit der einzigen Einschränkung der auch kulturell versäumten Aufarbeitung der vergangenen Verbrechen) beinahe uneingeschränkt positiv bewertet wird, steht für ihn die Kultur der DDR durchweg unter der Knute eines Kleinbürgerregimes; selbst in den Bereichen relativer Kreativität – Literatur, Theater, Film – zeichnet Glaser eine implizite Parallele zur Kulturgeschichte unter dem Nationalsozialismus. Kultur in dem von ihm akzeptierten Sinne habe sich nur in prekären Nischen oder in der innerdeutschen Emigration behaupten können. Hier klingt noch einmal eine Totalitarismus-Theorie an, die nicht unbedingt zum allerneuesten Inventar der historischen Wissenschaften gehört. Vor dem Hintergrund dieser Perspektive wirkt der kulturelle Aufbruch der Sechzigerjahre seltsam unmotiviert, verfehlt und überflüssig, und mit den alternativen und post-modernen "Unübersichtlichkeiten" der letzten Jahrzehnte weiß Glaser nicht mehr so recht etwas anzufangen; seine Darstellung gleitet hier in eine Ereignisgeschichte ab. Am Ende steht ein überzeugtes, aber seltsam unhistorisches Bekenntnis des Autors zum aufgeklärten Humanismus, das auf wenigen Seiten alle denkbaren Problemfelder der Gegenwart anzusprechen versucht und mit Thornton Wilder in einen modernisierten Sisyphos-Mythos mündet. Das wirkt – wie gesagt – sympathisch, ist aber kein besonders aufschlussreiches Interpretationsangebot.

Schließlich stellt sich die Frage nach dem Status einer Kulturgeschichte. An Glasers Darstellung fällt die Periodisierung nach politischen Zäsuren auf. Für den Laien ergibt sich daraus der Vorteil einer schnell erfassbaren Übersichtlichkeit, doch gleichzeitig verpasst Glaser damit die Chance, nach eigenen Entwicklungslogiken des Kulturellen Ausschau zu halten. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass Glaser "Kultur" nur als Kommentar zum Politischen auffasst. Dieser Eindruck wird durch einige seltsam unverbundene (und überhaupt nicht kulturhistorische) Kapitel politischer Ereignisgeschichte verstärkt, so z.B. zur Revolution 1918, zum Zusammenbruch 1945, zu Theodor Heuss und Walter Ulbricht und der SED und schließlich zu beinahe allem, was sich nach 1975 ereignete. Kompliziertere kulturelle Phänomene, die sich nicht so leicht in Glasers Dichotomien verorten lassen, geraten demgegenüber aus dem Blick: der Dadaismus, die Satire sowohl der wilhelminischen als auch der Weimarer Zeit (die "Weltbühne" wird gerade mal in einem Klammereinschub erwähnt) oder die Jugendkultur der DDR, die auf Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W." herunterdestilliert ist. Überhaupt kann Glaser die überragende Bedeutung der kommerzialisierten Popkultur für das ausgehende 20. Jahrhundert nicht mehr fassen. Überraschend ist demgegenüber, dass auch der Erste Weltkrieg in Glasers Darstellung keinerlei kulturhistorische Perspektive zu erlauben scheint; er wird schlicht übersprungen. In seiner politisch zentrierten Kulturgeschichte bleibt Glaser zudem deutlich hinter den aktuellen kulturhistorischen Debatten zurück, die darauf drängen, dass "Kulturgeschichte" keinen gesonderten Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaften sondern eine Methode der Analyse und Reflexion darstellen müsse, die letztlich auf jeden denkbaren historischen Gegenstand Anwendung finden können muss (Ute Daniel). Was die neuere Kulturgeschichte damit beabsichtigt, wäre eben eine Kulturgeschichte des Politischen, des Sozialen, der Wissenssysteme, der alltäglichen Praktiken, der Geschlechter, der Marginalisierten, des Konsums, um nur die nächstliegenden Anschlussmöglichkeiten zu nennen. Dieser Diskussion stellt sich Glaser aber erst gar nicht. Stattdessen bietet er eine materialgesättigte und glänzend erzählte Einführung in die deutsche Kulturgeschichte des vergangenen Jahrhunderts. Die einen werden ihm für seine griffige Darstellung danken, die eindeutige Orientierungen verspricht, die anderen seinen Kulturbegriff und seine Interpretation kritisieren, die häufig nur einen gutgemeinten Holzschnitt anbietet.

Aribert Reimann, Köln





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