ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Norbert Finzsch/Hermann Wellenreuther (Hrsg.), Visions of the Future in Germany and America, Berg Publishers, Oxford/New York 2001, 580 S., geb., 55,00 £.

Der von Norbert Finzsch und Hermann Wellenreuther herausgegebene Sammelband präsentiert die Vorträge und Kommentare des 1999 abgehaltenen Krefelder Symposiums unter dem etwas vagen Titel "Visions of the Future in Germany and America", der zugleich den vielleicht einzigen gemeinsamen Nenner der ansonsten überaus heterogenen Beiträge bildet. Mit diesem Thema steht der Band in einer Reihe von Tagungen und Publikationen, die sich nach der Ausrufung des "Endes des utopischen Zeitalters" (Joachim Fest) und im Angesicht der Jahrtausendwende der "vergangenen Zukunft" widmen, d.h. dem Erwartungshorizont und wahrgenommenen Gestaltungsraum früherer Generationen. [1]

Zukunftsvorstellungen können sich prinzipiell auf jeden Gegenstand richten und spielen in vielen politischen und gesellschaftlichen Diskursen eine zentrale Rolle, so dass die Definition des Themas nur durch diesen Begriff ein weites Feld eröffnet, dem sich die Konferenz in ausgewählten Teilbereichen widmete. So nimmt sich denn auch die Gliederung des Sammelbandes, die der Sektionseinteilung der Tagung entspricht, weniger als eine Systematisierung des Forschungsfeldes "vergangene Zukunft" aus, denn als Versuch der Integration eigentlich disparater Vorträge unter Großrubriken: Die Themen Religion, Außenpolitik, utopische Gemeinschaften, utopische Staatskonzepte und Science Fiction/Popkultur werden jeweils in zwei bis vier Beiträgen entweder für die USA oder für Deutschland untersucht, während die zugehörigen Kommentare vergleichende Perspektiven entwickeln. Die kurze von Norbert Finzsch zusammengestellte Bibliographie am Ende des Buches gibt einführende Literatur zu den verschiedenen Themen an, steht jedoch nur in losem Zusammenhang mit den einzelnen Beiträgen.

Denkt man über die unterschiedliche Bedeutung von Zukunftsvorstellungen in der Geschichte Deutschlands und Amerikas nach, so fällt zunächst die entscheidende Differenz auf, dass viele Migranten mit Amerika als dem Land ihrer persönlichen Zukunft konkrete Visionen und Utopien verbanden. In der Sektion über "transatlantischen Milleniarismus" werden insbesondere die religiösen Vorstellungen, die sich mit der Immigration verbanden oder sich in Amerika entwickelten, untersucht. So beschäftigt sich A. Gregg Roeber mit den Visionen der Pietisten und Methodisten in Amerika und William R. Hutchison untersucht die europäischen Antworten der verschiedenen Religionen auf die amerikanischen religiösen Erneuerungsbewegungen, die sich jeweils um konkrete Zukunftsvorstellungen drehten.

Für den Bereich der Außenpolitik sieht Paul T. Burlin die Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert geprägt durch das Streben nach einer globalen "Pax Americana", das aus dem Glauben an die exzeptionelle Rolle der eigenen Nation und die damit verbundene Mission resultiere. Dieser These widerspricht Ralph Dietl in seinem Kommentar, der das rationale "national interest" der USA als Leitkategorie der amerikanischen Politik begreift (246). Daneben argumentiert Gunther Hellmann auf der Basis einer Analyse der außenpolitischen Entscheidungen und der öffentlichen Meinung in Deutschland seit der Wiedervereinigung für einen Trend zur "Normalisierung" der deutschen Außenpolitik, im Zuge derer sich die Bundesrepublik als verlässlicher internationaler Partner in die NATO und ihre neue weltpolitische Rolle einfügen werde (198).

Einer Kernfrage der Zukunftsaneignung in Deutschland und den USA im 20. Jahrhundert widmet sich die Sektion über Utopie und Gemeinschaft, die zugleich eine Reihe von Vergleichsperspektiven eröffnet und Differenzen offenbart. Auf der einen Seite beschreibt James B. Gilbert die Geschichte der Versuche der Einrichtung utopischer Siedlungsgemeinschaften als Kristallisationspunkte, an denen sich allgemeine Themen und Probleme der amerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigen lassen. Auf der anderen Seite erklärt Paul Nolte, der die Ergebnisse seiner unlängst erschienen Habilitationsschrift [2] zusammenfasst, dass für Deutschland gerade nicht die kleinen Siedlungskommunen, sondern die Großversuche einer Überwindung der Gesellschaft durch die Gemeinschaft charakteristisch gewesen seien (276), die in Amerika - so wiederum Gilbert - höchstens in der Zeit des New Deal weite Akzeptanz erreichen konnten (264-266). Aus dem "Unschuldsverlust des utopischen Denkens" in Deutschland, den Martin Geyer in seinem Kommentar konstatiert, resultierte eine - von Nolte positiv hervorgehobene - intensivere soziologische Thematisierung der Gesellschaft in Westdeutschland nach 1945.

Die wohl heterogenste Sektion steht unter dem Titel "The Future Society Envisioned" und vereint Beiträge von Dietmar Schirmer über das mögliche Ende des Zeitalters der Nationalstaaten und Leon F. Litwack über "Rassenbeziehungen" in den USA auf der Basis einer Interpretation von Blues-Texten. Systematisch aufeinander beziehen kann man hier lediglich die Artikel von Maria Mitchell und Olaf Stieglitz. Mitchell versucht, die NS-Volksgemeinschaft als eine "applied utopia" zu deuten, die relativ weit etabliert worden sei, da es für ihr Funktionieren und insbesondere die Realisierung ihrer eliminatorischen Konsequenzen nicht notwendig gewesen sei, dass alle die Vision des Nationalsozialismus vollkommen überzeugte (396). Für die USA interpretiert Olaf Stieglitz die Jugendprogramme des New Deal als durch die Furcht geprägt, man könne wie in Europa die Jugend an radikale und antidemokratische politische Bewegungen "verlieren" (413).

Von den letzten Beiträgen, die Norbert Finzsch den in der Geschichtswissenschaft zu Unrecht weniger ernst genommenen "cultural studies" zurechnet (18), sind Susan Strassers Interpretation der ökologisch-apokalyptischen Literatur sowie Susan Winnetts Analyse der Geschlechterverhältnisse in Science Fiction - Erzählungen hervorzuheben. Obwohl der irreale Charakter des Erzählten, die andere Welt der Science Fiction ideale Möglichkeiten böte, die klassischen Geschlechtergrenzen und -differenzen in Frage zu stellen, kann Winnett überzeugend darlegen, dass sich auch in solchen Erzählungen, die eben dies als erklärtes Ziel haben, immer wieder die traditionellen Geschlechternarrative durchsetzen (529).

Insgesamt bietet der Sammelband ein buntes und häufig auch interessantes Panorama des Forschungsfeldes, welches das Stichwort "Zukunftsvorstellungen" eröffnet, durch dessen Studium man in Abhängigkeit vom eigenen Vorwissen durchaus neue Perspektiven auf einzelne Aspekte der "vergangenen Zukunft" gewinnen kann. Darüber hinaus hätte ihm jedoch eine weitergehende Systematisierung gutgetan, Leitfragen zumindest für die einzelnen Sektionen hätten sich förderlich auf seine Stringenz und Konsistenz ausgewirkt und so letztlich auch die Lesbarkeit verbessert. Symptomatisch ist hier, dass die interessanten Vergleichsanordnungen, die eigentlich vorgenommen werden könnten und müssten, erst nachträglich in den Kommentaren entwickelt werden, so zum Beispiel bei David L. Ellis (96) und Ursula Lehmkuhl (304f). Die Ausführlichkeit der Kommentare liefert zudem einen guten und detaillierten Einblick in den Verlauf der Konferenz, was positiv hervorzuheben ist. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass die Beiträge zur Außenpolitik selbst Zukunftsperspektiven enthalten, die durch die weltpolitischen Entwicklungen seit dem 11. September zumindest in Frage gestellt, wenn nicht gar obsolet erscheinen. Insofern stellt der Band nicht nur eine Zusammenstellung historiographischer Arbeiten über vergangene Zukunftsvorstellungen dar, sondern er bildet bereits kurz nach seinem Erscheinen selbst ein historisches Stück "vergangene Zukunft".

[1]. Vgl. dazu Ute Frevert (Hrsg.), Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900 (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 18), Göttingen 2000; Sönke Neitzel (Hrsg.), 1900. Zukunftsvisionen der Großmächte, Paderborn 2002, und Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, München [erscheint in Kürze].

[2]. Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000.

Rüdiger Graf, Berlin





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