ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Rita Aldenhoff-Hübinger, Agrarpolitik und Protektionismus: Deutschland und Frankreich im Vergleich 1879-1914, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, 257 S., kart., 28 EUR.

Dass Deutschland und Frankreich als Motor der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenfinden konnten und hierbei der Agrarpolitik eine herausragende Bedeutung für die Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der nachfolgenden EU zukam, hat nicht zuletzt mit parallelen Entwicklungen in der Agrarpolitik beider Länder seit Ende des 19. Jahrhunderts zu tun. Wie es zu dieser synchronen Entwicklung auf einem wichtigen Politikfeld trotz unterschiedlicher ökonomischer, politischer und sozialer Rahmenbedingungen kommen konnte, ist Thema der vergleichenden Studie von Rita Aldenhoff-Hübinger. Hierbei steht für die Autorin die Schnittstelle von Wirtschaft und Politik im Vordergrund. Inwieweit bestimmen rein wirtschaftspolitische Interessen auf der einen und differierende Traditionen bzw. historisch und kulturell vermittelte Leitbilder auf der anderen Seite die Wirtschaftspolitik? Welche unterschiedlichen Auswirkungen kann eine fast identische Wirtschaftspolitik in verschieden verfassten Gesellschaften haben? Wieso gelang es in Frankreich, eine agrarprotektionistische Politik im breiten gesellschaftlichen Konsens zu realisieren, während im Deutschen Reich diese Frage eher polarisierend wirkte?

Die Autorin bietet einen differenzierten Vergleich der deutschen und französischen Entwicklung, wie er bisher für diese beiden wichtigen europäischen Kernländer fehlt. Der Schwerpunkt liegt auf einer detaillierten Analyse des politischen Entscheidungsprozesses unter Berücksichtigung ökonomischer, sozialer und politischer Faktoren. Sie verfällt dabei nicht in den häufig begangenen Fehler, aus den gleichen Ergebnissen eines historischen Prozesses, in diesem Falle einer hochprotektionistischen Agrarhandelspolitik, auf bis ins Detail ähnlich lautende Erklärungen, Motivationen und Handlungstriebkräfte zu schließen. Erstmals wird für den Bereich der deutschen und französischen Agrarpolitik 1880-1914 ausführlich analysiert, wie sich eine republikanische, auf breiten Konsens ausgerichtete Politik in ihren Maßnahmen, Begründungen, aber auch den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln von einem obrigkeitsstaatlichen, stark administrativ ausgerichteten Staatsverständnis und Handeln unterscheidet. Gleichzeitig gelingt es der Autorin klar herauszuarbeiten, wie eine in ihrer gesamtgesellschaftlichen Konzeption stark voneinander abweichende Agrarpolitik dennoch zu denselben Maßnahmen führen kann. Diente Agrarprotektionismus in Frankreich zur Festigung der französischen Republik auf dem Land und der Bekämpfung ausgeprägter monarchistischer Tendenzen, so galt es im Kaiserreich genau umgekehrt die ländliche Bevölkerung an den Obrigkeitsstaat zu binden. Beide Politiken waren dabei gemäß ihrer genuinen Zielsetzung erfolgreich, mit weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen. Der "republikanische Ansatz" führte in Frankreich dazu, dass bei allen Bevorzugungen für (Groß)agrarier anders als im Deutschen Reich ein Weg gefunden wurde, Agrarprotektionismus in einem breiten gesellschaftlichen Konsens zu realisieren. Dies war zum einen möglich durch den Umstand, dass sich in Frankreich extreme Begünstigungen für einzelne kleine Gruppen nicht in dem Maße durchsetzen ließen wie im Kaiserreich. Es gab zwar auch in Frankreich einflussreiche, gut organisierte Großagrarier, aber nicht eine staatstragende Kaste, die den ostelbischen Junkern vergleichbar wäre. Zum anderen lagen in Frankreich wesentlich günstigere demographische und makroökonomische Rahmenbedingungen vor, so dass sich protektionistische Maßnahmen nicht im gleichen Ausmaß in den Agrarpreisen und Reallöhnen niederschlugen. Ganz im Gegenteil, da die französische Industrie wesentlich stärker als die deutsche von der Binnennachfrage abhing, die in erheblichem Maße von ruralen Schichten getragen wurde, führten protektionsbedingte Reallohnzunahmen im Agrarsektor dazu, dass negative Konsequenzen für die Industrie abgefedert werden konnten.

Das eben skizzierte ökonomische Szenario klingt plausibel und fügt sich gut in die Argumentation der Autorin ein. Fraglich ist aber, ob sich die wirtschaftliche Entwicklung in Frankreich tatsächlich so harmonisch in den politischen und sozialen Kontext einfügen lässt. Hier sind aus rein wirtschaftshistorischer Sicht einige Punkte anzumerken. Die vielfältigen engen Beziehungen zwischen Agrarentwicklung und gesamtwirtschaftlichem Wachstum in stark agrarisch geprägten Ländern sind einer der Schwerpunkte entwicklungsökonomischer Forschung der letzten fünf Jahrzehnte gewesen. Man hätte sich gewünscht, dass auf die theoretischen und empirischen Ergebnisse dieser Forschung Bezug genommen worden wäre. Als ein Ergebnis dieser Arbeiten lässt sich dabei eindeutig festhalten, dass eine hohe rurale Binnennachfrage zumindest in einer ersten Entwicklungsphase zwar sehr hilfreich sein kann, sie aber in keinem Fall eine Industriewirtschaft trägt. Dies bedeutet für das um 1880 schon weiter fortgeschrittene Frankreich, dass eine protektionistischen Agrarhandelspolitik und die Binnenmarktorientierung der gewerblichen Erzeugung die Industrie um Exportchancen gebracht und das gesamtwirtschaftliche vor allem das industrielle Wachstum gehemmt haben könnte. Die zu klärende Frage ist nun, ob steigende rurale Realeinkommen diesen negativen Effekt tatsächlich kompensieren konnten. Wäre dies in Frankreich über Jahrzehnte möglich gewesen, so wäre die französische Wirtschaftsentwicklung 1880 bis 1914 ein einmaliger Sonderfall. Eine solch gewagte These muss gut begründet sein. Dies verlangt die Berücksichtigung der gesamten neueren Arbeiten zur französischen Wirtschaftsgeschichte vor 1914. Hierbei seien vor allem die wichtigen Studien von Heywood genannt, die sich intensiv mit den Beziehungen von Landwirtschaft und Industrie in Frankreich vor 1914 beschäftigen und von der Autorin nicht berücksichtigt worden sind.

Im Abschlusskapitel mit einem Vergleich der Agrarstrukturpolitik Deutschlands und Frankreichs 1880 bis 1914 werden sehr weitreichende Aussagen zur ökonomischen Wirksamkeit der staatlichen Politiken ohne ausreichenden Beleg getroffen. Es wäre besser gewesen, sich hierbei auf die stringente und für den Leser interessante Analyse der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu beschränken, welche die Schaffung der Landwirtschaftskammern in Preußen und des staatlich subventionierten Agrarkredits in Frankreich begleiteten. Die Ausführungen zum Beitrag dieser Politikmaßnahmen für die Agrarmodernisierung sind dagegen aus ökonomischer Sicht nicht befriedigend. So ist die Kernthese der Autorin, dass die Produktivitätsfortschritte insbesondere im deutschen Fall nur durch die staatliche Agrarstrukturpolitik zu erklären seien, nicht belegt. Der Beitrag öffentlicher Investitionen und Einrichtungen für die landwirtschaftliche Entwicklung seit Ende des 19. Jahrhunderts ist in der entwicklungsökonomischen Forschung sowohl theoretisch als auch empirisch intensiv behandelt worden. Bahnbrechende empirische Arbeiten liegen hier vor allem für die USA und Japan vor. Ohne Anwendung ökonometrischer Methoden und produktionstheoretische Kenntnisse lassen sich schlechterdings aber keine brauchbaren Aussagen über den Einfluss staatlicher Maßnahmen auf das agrarische Wachstum und den technischen Fortschritt gewinnen. Solche Studien fehlen für das Kaiserreich. Die bisherige deutsche Literatur zu diesem Bereich bzw. zum Beitrag von Landwirtschaftskammern für die Agrarentwicklung entspricht nicht internationalen Forschungsstandards und hat eher Festschriftcharakter. Eine Aufzählung der Tätigkeiten einer Landwirtschaftskammer, wie sie die Autorin bringt, sagt noch nichts über den Beitrag dieser Institution für das Agrarwachstum oder den technischen Fortschritt aus. Hinzu kommt, dass solche Ausführungen die Gefahr in sich bergen, dass ganz im Sinne einer borussischen Geschichtsschreibung preußische Agrarentwicklung als Ergebnis einer vorausschauenden Verwaltung interpretiert wird. Nicht nur dass diese veraltete Sicht nicht mehr zu halten ist, so dürfte sie auch nicht den Intentionen der Autorin entsprechen. Zur französischen Politik subventionierter Agrarkredite bleibt anzumerken, dass dieses bei Entwicklungspolitikern bis heute sehr beliebte Politikinstrument erhebliche Mitnahmeeffekte mit sich bringt, so dass seine Auswirkungen auf Agrarmodernisierung und Produktivität eher gering ausfallen. Dies wäre auch für den französischen Fall zu untersuchen. Auch zum Beitrag subventionierter Agrarkredite für die landwirtschaftliche Entwicklung gibt es eine umfangreiche Literatur auf die man hätte Bezug nehmen können.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass trotz der Mängel im ökonomischen Bereich aus sozial- und politikhistorischer Perspektive die Studie von Rita Aldenhoff-Hübinger einen wichtigen Beitrag zum Verständnis nicht nur der deutsch-französischen, sondern letztlich der modernen europäischen Geschichte darstellt. Es handelt sich hierbei im besten Sinne um eine gründliche und differenzierte vergleichende historische Studie mit starker Relevanz für die Gegenwart. Als zentrales Ergebnis der Arbeit bleibt festzuhalten, dass sich ein und dieselbe Wirtschaftspolitik, in diesem Falle eine hochprotektionistische Agrarpolitik, gesellschaftlich und politisch sehr unterschiedlich auswirken kann. Für die Analyse der Agrarpolitik in heutigen Entwicklungs- und Transformationsländern durch Ökonomen würde man sich eine solch differenzierte und in die Tiefe gehende Sichtweise wünschen. Die Stärken der Arbeit liegen dabei eindeutig im Bereich einer sozialhistorisch untermauerten Politikanalyse. Die in den ökonomischen Passagen der Arbeit angesprochenen Fragen verlangen dagegen noch eine wesentlich intensivere Bearbeitung und würden für sich genommen schon Stoff für mehrere Studien ergeben. Allerdings werden die Kernaussagen der Arbeit durch die Schwächen in der ökonomischen Analyse nicht berührt.

Michael Kopsidis, Halle/Saale





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Juni 2003