ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Michael Gehler, Zeitgeschichte im dynamischen Mehrebenensystem. Zwischen Regionalisierung, Nationalstaat, Europäisierung, internationaler Arena und Globalisierung (= Herausforderungen. Historisch-politische Analysen, Band 12), Verlag Dr. Dieter Winkler, Bochum 2001, 246 S., kart., 33 EUR.

In Deutschland ist die Zeitgeschichte seit der Wiedervereinigung tendenziell nationalgeschichtlicher und somit provinzieller geworden, als dies früher schon einmal der Fall war. Auch die Zeitgeschichte im benachbarten Österreich hat bisher – von vereinzelten löblichen Ausnahmen einmal abgesehen – nicht durch eine größere Internationalität in ihrer thematischen Ausrichtung oder europäischen und weltweiten Vernetzung geglänzt. Insofern kommt das Buch von Michael Gehler, der an der Universität Innsbruck an einem der wenigen Institute für Zeitgeschichte im deutschsprachigen Raum lehrt, gerade recht. Er fordert eine geographische und zeitliche Neuausrichtung der Zeitgeschichte ein, die ihre nationalstaatsgeschichtliche Fixierung überwinden und offen für Forschungen bis in die Gegenwart sein soll, anstatt auf die zumeist dreißigjährige Frist für die Öffnung staatlicher Archivalien zu starren. Dazu macht der Autor einige Vorschläge, die sich in ihrer Struktur an dem Begriff des "Mehrebenensystems", einem politikwissenschaftlichen Begriff aus der europäischen Integrationsforschung, orientieren. Demzufolge sollte zeitgeschichtliche Forschung sich zugleich mit Fragen der Regionalisierung, der nationalstaatlichen Geschichte, der europäischen Integration und Europäisierung und der Rolle europäischer Regionen, Staaten und der heutigen Europäischen Union im Prozess der Globalisierung sowie mit den Verschränkungen dieser verschiedenen Ebenen sozialer Organisation und staatlichen Handelns befassen. Diese Forderungen expliziert Gehler in einem Band, der eher als engagiert geschriebenes, essayistisches Plädoyer geschrieben ist, wie es für diese Buchreihe gewollt und charakteristisch ist, als eine klassische wissenschaftliche Abhandlung, wenngleich es dennoch nicht an Fußnoten mit vielfach nützlichen bibliographischen Hinweisen mangelt.

Nach einem Parforceritt als Einleitung, die die Wechselhaftigkeit der Zeitgeschichte etwas karikiert, so etwa hinsichtlich der jeweils gerade modischen Terminologie von "Taifun-Begriffen" (S. 1) wie "Globalisierung" und "Identität", widmet sich der Autor im zweiten Buchkapitel der Regionalgeschichte, in der er selbst mit Veröffentlichungen zu Nord- und Südtirol hervorgetreten ist. Das dritte Kapitel behandelt die Nationalgeschichte am Beispiel der österreichischen zeitgeschichtlichen Historiographie, die hier in drei Phasen eingeteilt wird (S. 48ff.): eine "harmonieorientiert-konsensuale" nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die These von Österreich als dem ersten Opfer des nationalsozialistischen Deutschlands entwickelt wurde und die Zeitgeschichte eine staatstragende Rolle in der Zweiten Republik spielte; sodann eine zweite, "konfliktreich-kontroverse" Phase der Waldheim-Auseinandersetzung in den 1980er Jahren, in der die Rolle Österreichs und vieler Österreicher im nationalsozialistischen Deutschland nach dem "Anschluss" von 1938 zunehmend kritisch diskutiert wurde; schließlich eine dritte Phase seit den 1990er Jahren, in der die Zeitgeschichte in Österreich begonnen habe, die frühere nationalgeschichtliche Fixierung zu überwinden und sich für komparative und internationale Themen zu öffnen. Dieses Kapitel mit seinen vielfältigen bibliographischen Hinweisen dürfte gerade für deutsche Zeithistoriker interessant sein, die von den österreichischen Debatten zumeist noch weniger wissen und verstehen, als dies andersherum der Fall ist.

Im vierten Kapitel plädiert Gehler für ein erweitertes Verständnis der europäischen Nachkriegsgeschichte und der Geschichte der internationalen Beziehungen, ohne aber für eine völlige Abkehr von der Beschäftigung mit den Nationalstaaten als Akteuren der europäischen und internationalen Politik einzutreten. Gehler vertritt sogar im Gegenteil die Auffassung, dass der Integrationsprozess im wesentlichen von den Mitgliedsstaaten initiiert und seitdem gesteuert worden sei, und spricht sich in diesem Kontext für eine stärkere Orientierung am "neorealistischen" Ansatz aus, der machtstaatliche Verhandlungsprozesse immerhin stärker als früher gesellschaftlich eingebettet untersucht (S. 105). Vor allem setzt sich der Autor energisch für eine Erweiterung der Forschung zur europäischen Integration über die "Kernstaaten" der ursprünglichen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hinaus auf die später beigetretenen Staaten wie Österreich und periphere europäische Länder und für eine stärker vergleichende Perspektive ein, zu der er selbst schon mit Beiträgen über die Europapolitik der europäischen Neutralen beigetragen hat. Im Anschluss daran schlägt der Autor eine Öffnung hin zur stärkeren Berücksichtigung transnationaler Interessengruppen und Organisationen und deren Rolle im Integrationsprozess vor, wobei er in dieser Hinsicht mit einschlägigen Forschungen zur transnationalen Kooperation christlich-demokratischer Parteien in Europa hervorgetreten ist.

Das sechste Kapitel ist schließlich der Geschichte der Internationalisierung oder Globalisierung gewidmet. Hier vertritt Gehler eine wissenschaftlich eher konservative Position, indem er die Staaten durch die Globalisierung sogar gestärkt sieht. Nichts könne "gegen sie entschieden werden" (S. 122). An dieser Stelle schimmert ein womöglich zu enges politikgeschichtliches Verständnis der Globalisierung durch, welche zwar durch regulative staatliche Maßnahmen bis zu einem gewissen Grade gesteuert werden kann, aber primär durch strukturelle Innovationen und Veränderungen gekennzeichnet ist, etwa in der Informationstechnologie, die eine eigene Dynamik entwickeln können und nur sehr schwer kontrollierbar sind. Seit dem Abschluss des Buchmanuskripts hat das Attentat auf das World Trade Center am 11. September 2001 in dramatischer Weise deutlich gemacht, wie gering selbst die Kontrolle der einzigen verbliebenen Supermacht der Welt nicht nur über ihr internationales Umfeld, sondern sogar über die innere Sicherheit ist.

Im abschließenden Kapitel kritisiert Gehler mit offenen Worten die Zeitgeschichte wie die Geschichtswissenschaft insgesamt und plädiert für einen transparenteren Leistungsbezug sowie eine größere Rolle in öffentlichen Debatten über politische Themen mit zeithistorischem Bezug. Er wendet sich schon zuvor energisch gegen das "Gutachterunwesen" (S. 128), mit dessen Hilfe oft genug einige politisch besonders einflussreiche Historiker die Vergabe von Projekten und Druckkostenzuschüssen kontrollieren; sodann gegen die "Ideologieanfälligkeit" der Zeitgeschichte, die sich zu oft für politische Ziele vereinnahmen lasse (S. 191) und in Deutschland genauso wie in Österreich hochgradig politisiert ist; gegen die althergebrachte Habilitation mit ihrer "völlig veralteten" Förderung von "Einzelarbeitern", obwohl in der modernen Zeitgeschichte nur noch mit "Teamarbeit" erfolgreich zu größeren Themen geforscht werden könne (S. 196); schließlich für mehr englischsprachige Veröffentlichungen, damit die deutschsprachige Zeitgeschichte zu größeren als nur nationalgeschichtlichen Themen auch international wahrgenommen wird (S. 203). Jeder Blick auf die deutschsprachige Zeitgeschichte von außen, insbesondere aus den angelsächsischen Universitätssystemen, lässt diese Forderungen als selbstverständlich erscheinen, doch sind sie es in Österreich genauso wie in Deutschland noch lange nicht. Nicht zuletzt deshalb ist die Lektüre dieses längeren Essays erfrischend – auch wenn Gehlers Ansatz für manchen wohl zu eng politikgeschichtlich in einem durchaus klassischen Sinne sein mag und gelegentlicher sozialwissenschaftlicher Jargon (Interdependenz, Mehrebenensystem etc.) ohne expliziten Bezug zum sozialwissenschaftlichen Forschungsstand den Lesefluss an einigen Stellen stört.

Wolfram Kaiser, Portsmouth





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