FES: Archiv für Sozialgeschichte - Online: 43. [2003] / Rezensionen

ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Jürgen Martschukat (Hrsg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Campus Verlag, Frankfurt/Main 2002, 287 S., kart., 34,90 EUR.

Jürgen Martschukat hat im Oktober 2001 die erste geschichtswissenschaftliche Foucault-Tagung in Deutschland organisiert. Die Beiträge dieser wichtigen Veranstaltung, die eine Wende zu einer offeneren, sachlichen und produktiven Auseinandersetzung mit methodischen Anregungen aus Foucaults Werken signalisiert, sind im Herbst 2002 in einem Sammelband erschienen. Laut Martschukat entfaltet das Foucaultsche Projekt, über historisch-philosophische Betrachtungen eine Diagnose der Gegenwart zu leisten, zunehmend Wirkungen, die "das derzeitige historiographische Feld in Schwingungen versetzen". (S. 7) Foucaults "Werkzeugkiste" scheint immer weniger aus dem Spektrum der deutschsprachigen Geschichtsschreibung wegzudenken zu sein. Martschukat hält konkrete Erprobungsversuche für die produktivste Form der Auseinandersetzung mit dem Denken Foucaults. Dementsprechend finden sich neben Martschukats Einführung, welche die Rezeption von Foucault in der deutschsprachigen Historiographie noch einmal Revue passieren lässt, und drei eher theoretisch angelegten Aufsätzen vor allem Beiträge jüngerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in diesem Band, die Anregungen Foucaults im Rahmen ihrer eigenen Arbeiten erproben. Martschukats Ziel ist es, durch Praxisnähe und Konkretisierung eine Transparenz zu erreichen, die zeigt, wie vielfältig und anregend "Geschichte schreiben mit Foucault" sein kann. Er siedelt die Beiträge des Bandes auf drei Ebenen der foucaultschen Analyse an: Diskurs, Macht und Subjekt.

Während im theoretischen Vorlauf die Soziologin Hannelore Bublitz die "Geschichte der Wahrheitsproduktion" unter die Lupe nimmt, Ulrich Brieler die Verbindungen im Denken von Marx und Foucault beleuchtet und die Kriminologin Susanne Krasmann noch einmal grundlegende Gedanken zur "Gouvernementalität" referiert, untersucht – im dem Diskurs gewidmeten Teil – Martin Dinges Männlichkeitskonstruktionen aus Patientenbriefen und Jürgen Martschukat erörtert die Verflechtung von Medizin und Strafrecht in den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhand der Diskussionen über und der Entwicklung des elektrischen Hinrichtens. Insbesondere Martschukats Beitrag verdeutlicht interessante Aspekte der Foucaultschen Diskursanalyse, da er die Verflechtung von medizinischem und strafrechtlichem Diskurs herausarbeitet. Unter dem Begriff "Macht" analysiert Maren Möhring "Nacktheit als disziplinäre, normalisierende Macht- und Wissenstechnik" (S. 156), als Sichtbarmachung des Körpers, während Heiko Stoff mit Foucaults Konzept der Bio-Macht die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung als das "herausragende körperpolitische Charakteristikum des 20. Jahrhunderts" diskutiert. Foucaults Subjektkonzeption sind vier Beiträge gewidmet: Philipp Sarasin verortet Foucaults Spätwerk im sozialhygienischen Diskurs des 19. Jahrhunderts, Claudia Bruns versucht den Begriff der "Regierung" für eine veränderte politische Geschichtsschreibung zu nutzen, Olaf Stieglitz begreift das Denunzieren während der McCarthy-Ära als Selbsttechnologie und Norbert Finzsch untersucht die Fremdlenkung und Selbstregierung von African Americans in den USA seit 1965 mit Hilfe der Foucaultschen Überlegungen zur Gouvernementalität.

Martschukat spricht in seiner Einleitung von einer "Verschiebung historiographischen Denkens". (S. 7) Wie stellt sich diese in den Beiträgen des Bandes dar? Insgesamt variiert die Qualität der Beiträge: Die Praxisnähe führt manchmal zu einer Entfernung von Foucaults Konzepten – hier besteht die Gefahr einer Verwässerung des methodischen Potenzials. Außerdem wird Foucaults Diskursanalyse gelegentlich als modische Verpackung benutzt, um eine "aufgemotzte" Ideengeschichte zu betreiben. Es finden sich aber auch wichtige Anregungen für die Sozialgeschichte in dem Band. So stellt das Konzept der Gouvernementalität eine wichtige Perspektivenerweiterung für sozialgeschichtliche Forschungen dar. "Regieren" wird hier nicht in erster Linie als Herrschaft und Unterdrückung verstanden, sondern als Versuch, das Feld eventuellen Handelns anderer zu strukturieren. Die Analyse der Verknüpfungen von Herrschafts- und Selbsttechnologien bietet wichtige Denkanstöße für eine Praxeologie von Herrschaft und damit verbundenen Überlegungen zur Entwicklung von Staatlichkeit in der Frühen Neuzeit, aber auch im 19. und 20. Jahrhundert, da der Regierungs-Begriff in seiner Scharnierfunktion zwischen den strategischen Machtbeziehungen und den Herrschaftszuständen eine offenere Thematisierung des gesellschaftlichen Zusammenhangs ermöglicht als die gängige Addition von makro- und mikrohistorischen Erwägungen. Bei der Analyse von Macht und Herrschaft könnte eine eingehendere Rezeption und Erprobung des Gouvernementalitäts-Konzepts zu weitreichenden Verschiebungen im historiographischen Denken führen. Martschukats Sammelband stellt eine wichtige Zeichensetzung dar, insofern eine nachwachsende Generation von Historikerinnen und Historikern bisher zuweilen ungeprüft abgelehnte sozialtheoretische Denkangebote – wie sie Foucaults Werk zur Verfügung stellt – "sachlich" im Rahmen ihrer Forschungen erprobt. Die Sozialgeschichte, wie die Geschichtswissenschaft überhaupt, kann von einem "Mehr" an sozialtheoretischem Denken bei der Bearbeitung ihrer Forschungsprobleme nur profitieren.

Michael Maset, Kassel





DEKORATION

©Friedrich Ebert Stiftung | Webmaster | technical support | net edition ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE | Mai 2003