ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
DEKORATION

Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, R. Oldenbourg Verlag, München 2001, 445 S., geb., 48,90 EUR.

Thomas Etzemüllers Tübinger Dissertation beleuchtet die Rolle von Werner Conze im Rahmen der Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 und der Etablierung von "Sozialgeschichte". Die frühe Sozialgeschichte war – für Etzemüller – stets "politische Geschichte" (S. 1), worunter er eine Geschichte versteht, die eine politische Aufgabe für die Gesellschaft übernimmt. Hier wird schon im Titel der Arbeit deutlich, dass Etzemüller nicht auf eine ideengeschichtliche Beschreibung kognitiv-wissenschaftsinterner Entwicklungsbedingungen, sondern auf eine grundlegende methodische Regulierung von Historiographiegeschichte durch eine Verschränkung von ideen- und sozialgeschichtlichen Zugängen abzielt. Indem er nach der Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik, Gesellschaft und der Rolle des Historikers in dieser Gesellschaft fragt (S. 1), wirft Etzemüller die Frage der inneren, ideellen und äußeren Beeinflussung von Wissenschaft auf, die in den neueren historiographiegeschichtlichen Debatten immer wieder zentral ist. Die Frage, wie es zum Erfolg der Sozialgeschichte kam, wie der konkrete Durchdringungsprozess in der von der Politikgeschichte dominierten Geschichtswissenschaft aussah, wird mit der Frage verbunden, warum und wie sich neue Sichtweisen auf die Vergangenheit durchsetzen. Etzemüller versucht nicht nur die Entstehung der Sozialgeschichte neu zu interpretieren, sondern auch gleichzeitig einen neuen konzeptuellen Rahmen für Historiographiegeschichtsschreibung zu entwickeln. Die von ihm zur Diskussion gestellten methodischen Konzepte sollen im folgenden den Schwerpunkt der Rezension bilden.

Neue Sichtweisen auf die Vergangenheit setzen sich – so Etzemüller in einer ersten "negativen" Annäherung an die Problematik – nicht durch, (1) weil eine Zeit eine neue Sicht auf die Vergangenheit benötigt, (2) weil einer neuen Sicht eine Qualität innewohnt, die sie nicht mehr ignorierbar macht, (3) weil sich Historiker nach einer rationalen Prüfung darauf verständigen: "Die erste Vorstellung übertreibt den Einfluss der Gesellschaft, die zweite stützt den Mythos von der reinen Idee, die dritte den des rationalen Diskurses." (S. 2) Etzemüller hält es dementsprechend für sinnvoll, in erster Linie "Handlungen" zu untersuchen, da ohne diese neue Sichtweisen – wie die Sozialgeschichte – kaum in die Öffentlichkeit treten würden: "Wahrnehmung muss zuerst initiiert werden." (S. 2) Er trennt analytisch zwischen strategischem und habituellem Handeln, obwohl er beide als in der Praxis aufs engste verwoben sieht. Zum strategischen Handeln gehören Maßnahmen, die ergriffen werden, um einer Idee, einer Interpretation oder einem Ansatz Gehör und Geltung bzw. Relevanz zu verschaffen. Dazu gehört das Besetzen von institutionellen Positionen. In Anlehnung an Foucault betont Etzemüller die Bedeutung der "Position des Sprechers" (S. 3) für den Wahrheitsanspruch des Gesagten. So wird Conzes strategisches Handeln ausführlich herausgearbeitet (S. 90-176) Conze musste seine Vorstellungen von einer Durchdringung der allgemeinen Geschichte mit Sozialgeschichte "durch ständige Wiederholungen in den Vorstellungsschatz seiner Kollegen, in das Archiv der sinnvollen Aussagen, einspeisen." (S. 90) Hier thematisiert Etzemüller Conzes langsamen Aufstieg in der Historikerzunft, seine Wortmeldungen auf Historikertagen, seine Rezensionstätigkeit und seine Publikationen, in denen er seinen Ansatz erprobte. Er thematisiert aber auch den langen Weg zum Ordinariat, schließlich seinen Ruf nach Heidelberg, das Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (ISW) und den Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte, der die dritte Institution darstellt, mit der Conze seine "Position des Sprechers" absicherte: "Es war dieses dreifach gestützte institutionelle Podium, von dem herab die Sozialgeschichte mit Erfolg publik gemacht werden konnte." (S. 157) Diese Institutionalisierungsarbeit fand aber nicht im luftleeren Raum statt. In der Geschichte der frühen Bundesrepublik, der Entwicklung des Bildungswesens, bestimmter Nachbarwissenschaften und der Geschichtswissenschaft selbst, sieht Etzemüller das Umfeld und den "Resonanzboden" (S. 177) für Conzes Handeln. Der gesellschaftliche Kontext begünstigte also das strategische Handeln Conzes, da von ihm ein Umformungsdruck auf die Geschichtswissenschaft ausging, der die Etablierung der frühen Sozialgeschichte positiv beeinflusste, da sie eine damals attraktive Deutung der gesellschaftlichen Prozesse liefern konnte.

Neue Sichtweisen auf die Vergangenheit – wie die frühe Sozialgeschichte – benötigen aber mehr als ein günstiges gesellschaftliches Umfeld, da die Umsetzung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen in Geschichtsschreibung für Etzemüller eine "Sache der Zunft" ist: "Es ist die Zunft, die durch ihre Traditionen und erprobte Sicht auf die Welt neue Perspektiven formiert." (S. 212) Hier arbeitet Etzemüller überzeugend die Netzwerkpolitik der "Rothfels-Gruppe" (S. 236-250) heraus. Sie bildete "mit ihrem Oberhaupt Hans Rothfels eine starke pressure group innerhalb der Geschichtswissenschaft, sie besetzten wichtige Lehrstühle und übernahmen gegen Ende der fünfziger Jahre eine immer wichtigere Rolle im Historikerverband. Ihre Bedeutung für Werner Conzes sozialgeschichtliche Konzeption ist nicht zu unterschätzen, denn sie sicherten seine Bemühungen innerhalb der Zunft ab und verliehen ihnen Gewicht, wie man am Beispiel der Historikertage seit 1958 sehr gut sehen kann." (S. 212)

Neben der strategischen Ebene behandelt Etzemüller hier auch das, was er habituelles Handeln nennt. Strategisches Handeln geschieht zu einem großen Teil automatisiert bzw. habitualisiert. Historikerinnen und Historiker wissen unbewusst, was richtig, falsch oder opportun ist. Für diesen Analyseschritt bezieht sich Etzemüller insbesondere auf zwei Konzepte, die Ludwik Fleck (1896-1961) [1] für die Analyse der Wissensproduktion in den Naturwissenschaften entwickelt hat. Mit Fleck geht Etzemüller davon aus, dass Tatsachen nicht vorgefunden, sondern konstruiert sind, dass die Konstruktion keine reine intellektuelle Leistung, sondern im hohen Maße durch soziale Tätigkeiten bestimmt ist, dass sie nicht beliebig ist, sondern durch die "psychologische Stimmung" einer Zeit wie durch den "Denkstil" eines "Denkkollektivs" gesteuert wird. (S. 6) Unter Denkkollektiv versteht Etzemüller eine Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die in gedanklicher und sozialer Wechselwirkung stehen und die Träger eines spezifischen Denkstils sind: "Der Denkstil ist eine gedankliche Verarbeitung der Welt, die an einem Denkkollektiv hängt und seine Mitglieder zwingt, die Welt auf eine bestimmte Art zu sehen. Er eint das Kollektiv, das Kollektiv sozialisiert seine Mitglieder in diesem Denkstil und tradiert ihn auf diese Weise. Er ist gerichtetes Gestaltsehen, d.h. man strukturiert den Wert der Daten nicht, weil die Realität eine Struktur aufscheinen lässt, sondern weil man in einem langen Sozialisationsprozess gelernt hat, ein bestimmtes Bild wahrzunehmen – oder gerade nicht […]." (S. 6, zit. nach Fleck) Etzemüller unterscheidet den Denkstil von Foucaults Diskursbegriff, sieht aber als Gemeinsamkeit von Denkstilen und Diskursen, dass sie "verborgene Formatierungsprinzipien" sind, "die das Bild, dass ein Historiker von der Vergangenheit sieht und niederschreibt, prägen; diese Formatierungsprinzipien entdeckt man in der Narratio seiner Geschichte." (S. 7) Mit Flecks Denkstil-Konzept versucht sich Etzemüller der Sozialisation bzw. Konstruktion wissenschaftlicher Subjekte zu nähern. Der Denkstil ließ das Denkkollektiv der "Rothfels-Gruppe" bzw. der "Königsberger", die Welt auf eine bestimmte Art sehen und formierte ihre Texte. Conze wurde in Königsberg ausgebildet, was seinen Ansatz und die Art, wie er Gegenwart und Vergangenheit betrachtete, prägte. In Königsberg schloss Conze sich einem Personenkreis an, der seinen Denkstil verfestigte und ihm institutionellen Rückhalt bot. Conze wanderte nach Kriegsende mit den Königsbergern in den Westen, mit ihrer Hilfe gelang es ihm, sich erneut in der Wissenschaft zu etablieren, sie gaben ihm den notwendigen Rückhalt, um seine Ideen zu propagieren: "Die Königsberger bildeten eine Schule, insofern sie die Welt und die Vergangenheit auf eine ganz spezifische Weise ähnlich sahen – weil sie alle ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Sie waren eine Gruppe, insofern sie, geschart um die Vaterfigur Hans Rothfels, eine Gemeinschaft bildeten, deren Mitglieder zusammenhielten – weil sie ein Lebensgefühl teilten. Und sie waren Conzes Hausmacht, insofern sie wichtige und allmählich die wichtigsten Positionen in der Zunft besetzten und damit den Resonanzboden für seinen Ansatz vergrößerten – weil dieser Ansatz ihrer Weltsicht nicht fremd war." (S. 11-12) Etzemüller geht davon aus, dass er diesen Denkstil in der "Narratio der frühen Sozialgeschichte" (S. 270) freilegen kann. Die wichtigsten Elemente dieses Denkstils waren laut Etzemüller ein imaginäres chronologisches Schema, ein Komplex alltagssprachlicher Metaphern, ein System dichotomischer Begriffe und eine mentale Karte (automatische, unreflektierte Vorstellung eines geographischen Raumes): "Die frühe Sozialgeschichte erzählte stets die Geschichte einer Gesellschaftsverfassung, die im Inneren durch die soziale Revolution und von außen durch den Bolschewismus bedroht war, die aber immer wieder stabilisiert werden konnte. Dieser plot ist der Tatsache geschuldet, dass der Denkstil der Königsberger stark durch ihr politisches Leben geprägt war. Sie hatten nach dem Ersten Weltkrieg die politische und gesellschaftliche Instabilität als Dauerzustand erfahren, ihr Ziel war die Überwindung des Chaos in einer stabilen Gesellschaftsordnung. Die Erfahrung der Unordnung grub sich tief in ihr Bewusstsein ein, nicht bewusst wurde ihnen jedoch die Tatsache, dass sie mit ihren Texten nicht die Realität abbildeten, sondern ihren Denkstil." (S. 270-271) Etzemüller sieht diesen Denkstil aber nicht auf den Kreis der Sozialhistoriker beschränkt. Er betraf auch Soziologen und Politikhistoriker, wurde auf Schüler übertragen, aber auch auf jüngere Historiker, die nicht aus dem Umkreis der Königsberger hervorgegangen sind: "Wenn also der Denkstil nicht allein von den Königsbergern getragen wurde, sondern von einem größeren, heterogeneren Kreis, so hat doch eindeutig er – und kein anderer Denkstil – der frühen Sozialgeschichte ihre eigentümliche Ausformung verliehen; ein klar abzirkelbares Denkkollektiv, die Königsberger, war einer seiner Träger und tradierte ihn bis in die achtziger Jahre hinein." (S. 271) Die Westbindung des demokratischen westdeutschen Staates und sein antikommunistischer Grundkonsens erlaubte Wissenschaftlern wie Conze die Weiterarbeit mit alten Denkmustern: "Die große Transformationsleistung der Wissenschaft war die, den Symbiosepartner, das politische System, wechseln zu können, ohne die eigene Linie aufgeben zu müssen. Aus durchaus sachlichen Gründen wurden Inhalte ausgewechselt, man reagierte auf vergangene und gegenwärtige Entwicklungen […] Darunter bestand, unerkannt und stabil, der Denkstil fort, derjenige Komplex aus Bildern und Metaphern, mit dessen Hilfe man seine Deutung der Welt in anschauliche Texte umsetzte und der gleichzeitig die Deutung der Welt steuerte, ohne dass man dessen gewahr wurde. Er konnte fortbestehen, da die Ereignisse nicht die Macht gehabt hatten, nach 1945 eine grundlegend neue Deutung der Welt zu provozieren." (S. 308) Zugleich geht Etzemüller aber davon aus, dass sich mit in anderen Denkkontexten aufgewachsenen Nachwuchshistorikern seit den sechziger Jahren parallel ein anderer Denkstil entwickelt und festgesetzt hat.

Etzemüllers historiographiegeschichtlicher Ansatz zielt auf die "subkutane Wirkung" (S. 309) von Geschichtsschreibung ab. Hinter den expliziten Ideen und Begriffen ist er auf der Suche nach den Metaphern, die das "wahre" Denken der Historiker preisgeben, um somit die Wertungen aufdecken zu können, die Geschichtsschreibung bei den Lesern auslöst. Eine solche Denkstilanalyse hält er nur auf der Basis eines anderen Denkstils für möglich. (S. 309, Anm. 120) Sehr gelungen sind die Teile der Arbeit, die sich dem strategischen Handeln widmen. Hier kann Etzemüller die Bemühungen Conzes zur sozialgeschichtlichen Durchdringung der Geschichtswissenschaft überzeugend herausarbeiten. Weniger überzeugend (bzw. mit vielen Fragezeichen versehen) ist die Verwendung des Denkstil-Konzepts von Fleck. In seiner mangelnden Komplexität – aber augenscheinlichen Griffigkeit – erinnert dieses sehr allgemein von Etzemüller verwendete Konzept an die magischen Tricks der alten Ideengeschichte. Der Denkstil ist das, was "unbewusst" in Wissenschaftlern denkt, was sie "zwingt", die Welt auf eine bestimmte Art und Weise zu sehen. Hier erscheint das wissenschaftliche Subjekt aufgrund seiner Sozialisation in einem bestimmten Denkstil als weitgehend "formatiert" und vorherbestimmt. Etzemüller geht es aber doch gerade um die aktive Entwicklung und Propagierung von Sozialgeschichte durch den Akteur Werner Conze. Dabei gerät ihm jedoch der Denkstil, der bestimmte Bedingungsfaktoren beschreiben soll, der als Hintergrundfolie und denkhorizontlicher Rückhalt für Conzes Ideen in einem Teil der Geschichtswissenschaft seiner Zeit steht, zu sehr zu einer unspezifischen, die eigentlichen Akteure zur Passivität zwingenden, geheimnisvoll im Hintergrund wirkenden Macht. Hier ist eine weitere Erprobung und exaktere Operationalisierung des Denkstil-Konzepts angezeigt. Dabei müsste deutlicher die Entstehung, Kohäsion, Trägerschaft (generationsspezifisch?), Konkurrenz, Veränderung bzw. Entwicklungs- oder Adaptionsfähigkeit sowie die Ab- und Auflösung von Denkstilen herausgearbeitet werden.

Michael Maset, Kassel


Fußnoten:




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