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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Matthias Schröder, Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942-1945. "Rußland kann nur von Russen besiegt werden": Erhard Kroeger, Friedrich Buchardt und die "Russische Befreiungsarmee", Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2001, 2. Aufl. 2003, 256 S., geb., 34 EUR.

Bereits bei der korrekten Schreibweise des Namens fangen die Unsicherheiten an: Vlasov, Wlassow oder Vlassow – wie schreibt er sich, der russische General, der in zwei Armeen, unter Stalin und Hitler diente? Die Fragen, die mit der Person Vlasovs verbunden sind, gehen freilich weit darüber hinaus: War er tragischer Held, ausgestoßen von den einen, für die eigenen Zwecke benutzt von den anderen? War er für die deutsche Wehrmacht im Rußlandfeldzug die "vertane Chance", einen aussichtslos gewordenen Kampf noch gewinnen zu können? Oder war er einfach nur ein gefangengenommener General, der clever genug war, seine eigene Haut zu retten? Die Charakterisierungen, die Vlasov bis heute erhalten hat, sind vielfältig: "Feiger Verräter", "Kollaborateur und Quisling von Rußland", "russischer Freiheitsheld", "Märtyrer" und "russisches Gegenstück zu Generalfeldmarschall Paulus und de Gaulle" – Matthias Schröder zählt sie in seiner Studie über "Deutschbaltische SS-Führer und Andrej Vlasov 1942-1945" auf. Das Buch, 256 Seiten stark, ist die überarbeitete Fassung seiner Dissertation, die im Jahr 2000 im Fachbereich Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eingereicht wurde. Soviel vorweg: Schröder fügt den Vlasov-Bildern kein neues hinzu. Die Gestalt des russischen Generals in deutschen Diensten bleibt blass in seiner Darstellung und die im Inhaltsverzeichnis angekündigte Biographie endet irgendwo im Jahre 1942. Die restlichen vier Jahre seines Lebens, Vlasov wurde im August 1946 nach einem Schauprozess in Moskau hingerichtet, muss sich der Leser scheibchenweise in den Kapiteln zusammensuchen.

Sicher: Die vorliegende Studie ist keine Biographie Vlasovs. Der Autor will vielmehr die Diskrepanzen in der deutschen Ostpolitik aufzeigen, die hinsichtlich der Frage der Aufstellung einer russischen Befreiungsarmee unter dem Kommando Vlasovs kulminierten. Seine These: Im wesentlichen standen sich zwei politische Konzeptionen innerhalb der deutschen Führung unversöhnlich gegenüber: zum einen die von Hitler und Himmler propagierte Politik der Eroberung deutschen Lebensraums, die letztlich darauf zielte, das russische Volk ("Untermenschen") zu versklaven und seine politischen Führer zu vernichten (Kommissarbefehl). Zum anderen gab es innerhalb der Wehrmacht Bestrebungen, das Potenzial an russischen Freiwilligen, die bereit waren, gegen das von ihnen gehasste System Stalin zu kämpfen, um ihr Land von der bolschewistischen Diktatur zu befreien, für den Sieg der Wehrmacht im Osten zu nutzen. Je deutlicher das Scheitern des Blitzkriegs und die Übermacht der Roten Armee wurde, desto lauter wurden diese Argumente vorgetragen. Der militärische Sieg galt dem Militär als oberstes Ziel. Wie Schröder jedoch richtig bemerkt, verkannten die Vlasov-Förderer innerhalb der Generalität, dass Hitlers Vernichtungskonzept einen integralen Bestandteil des Unternehmens Barbarossa darstellte und dass eine aus Russen zusammengesetzte Armee, die an der Seite der deutschen Wehrmacht kämpfte, gegen oberste NS-Prinzipien verstieß. Folgerichtig, und für den historischen Betrachter wenig überraschend, verbot Hitler im Sommer 1943 offiziell die weitere Förderung der Vlasov-Bewegung. "Wir bauen nie eine russische Armee auf, das ist ein Phantom ersten Ranges", stellte Hitler einmal klar, und am 27. Januar 1945 ließ er in einer Lagebesprechung verlauten: "Vlasow ist gar nichts. Ich war ja dagegen, daß man sie in unsere Uniformen umkleidet. Aber wer war dafür? Das war unser liebes Heer, das seine eigenen Gedanken hatte."

War Vlasov und seine "Befreiungsarmee" also bloß ein Hirngespinst verzweifelter deutscher Generalität, vergleichbar mit Hirngespinsten von anderen Wunderwaffen? Zumindest Ende 1944 wurde aus der von Vlasov befehligten Phantomarmee Realität, wenn auch eine militärisch eher unbedeutende. Schröder macht darauf aufmerksam, dass der Begriff "Befreiungsarmee" in die Irre führt, da es sich vielmehr um kleine Verbände handelte, die eher politisch als militärisch von Brisanz waren. Die ROA-Einheiten (ROA stand für Russkaja Osvoboditel’naja Armija) wurden Anfang 1945 dem Oberbefehl Vlasovs übergeben. Somit kämpfte der populäre und hochdekorierte General der Roten Armee zumindest die letzten vier Kriegsmonate auf Seiten der Wehrmacht gegen jenen Stalin, der ihn einst ausgezeichnet hatte. In der Studie finden sich leider kaum Informationen über die Kampfmoral der russischen Truppen auf deutscher Seite. Wo wurden sie eingesetzt? Der Leser erfährt lediglich, dass Vlasov bei Kriegsende zur Verteidigung im Raum Linz zugange war, von wo aus er im April 1945 über Emissäre in Kontakt zu den vorrückenden amerikanischen Truppen trat. Ihnen wollte sich Vlasov als politischer und militärischer Partner im gemeinsamen Kampf gegen die Sowjetunion anbieten, im Rahmen der Repatriierung wurde er jedoch von den Amerikanern den Sowjets ausgeliefert. Der erneute Seitenwechsel in seinem Leben hatte nicht geklappt.

Das eigentliche Thema des Buchs ist aber nicht so sehr der russisch-deutsche General Vlasov, als vielmehr die Bestrebungen im Reichssicherheitshauptamt und im SS-Hauptamt, eine "Russische Befreiungsarmee" unter Führung Vlasovs aufzustellen. Schröder skizziert auf den ersten knapp hundert Seiten die Biographien von Ernst Kroeger (SS-Hauptamt) und Friedrich Buchardt (RSHA), jene Männer, die auf der dritten Ebene der Dienststellenleiter fungierten – also unterhalb der Minister und der Amtschefs – und von dort in "reibungsloser Zusammenarbeit" die Aufstellung der Freiwilligenverbände organisierten. Kroeger, Jahrgang 1905, und Buchardt, Jahrgang 1909, waren beide in Riga/Lettland geboren. Sie wurden früh politisiert, herbeigeführt durch den Statusverlust der eigenen Volksgruppe und dem Bewusstsein, zu einer Minderheit zu gehören, aber, stellt der Autor fest, im Gegensatz zur deutschen Jugend in Weimar standen ihr keine radikalen Strömungen als Ausdrucksmittel des politischen Protests zur Verfügung, weder auf der Linken noch auf der Rechten. Beide entsprechen in vielen Punkten der von Michael Wildt beschriebenen Täterelite im RSHA: unfähig zum politischen Kompromiss, selbstbewusst und intellektuell überlegen und vielseitig einsetzbar. Im Krieg erlebten beide einen Wechsel von administrativen Aufgaben und Aufgaben an der Front. Als Leitideen verfolgten beide einen ausgeprägten Antibolschewismus, der sich in ihrer Jugend herangebildet hatte und eine paternalistische Russlandliebe. Beides zusammen führte sie zu dem Glauben, mit Hilfe eines Russen das Stalin’sche Russland besiegen zu können. Bis zuletzt, als russische Truppen längst auf deutschem Boden standen, glaubten sie an ihre Vision. Ihrem Zutun ist es vor allem zu verdanken, dass der Mythos Vlasov von der tragischen Symbolfigur, der im gerechten Kampf gegen den Bolschewismus eine verspielte Chance des NS-Staats war, sich bis in die 80er Jahre hielt. Kroeger und Buchardt wandelten sich nicht zu Demokraten. Sie hielten daran fest, dass der "gerechte Kreuzzug" gegen den Sowjetstaat mit Hilfe Vlasovs hätte gewonnen werden können. Anders als der General selbst, wechselten sie in ihrem Leben nicht die Seite.

Diese spannenden Parallelen und Gegensätze herausgearbeitet und ansprechend aufbereitet zu haben, ist das Verdienst Schröders. Er hat sich für seine Studie durch zahlreiche umfangreiche Aktenbestände gearbeitet. Ein Fleiß, der mit einer inhaltlich und sprachlich sauberen Studie belohnt worden ist. Zu den Stärken des Buchs gehören die biographischen Skizzen Kroegers und Buchardts sowie deren ostpolitische Konzeptionen. Das größte Manko des Buches aber ist der Titel: zu lang, zu wenig aussagekräftig und nicht nur auf den ersten Blick verwirrend. Schade, denn dadurch gehen dem Buch sicherlich Leser verloren, die es verdient hätte, auch auf Grund der beängstigenden Aktualität, die das Thema "Vlasov" gerade in Kriegszeiten gewinnt.

Christian Sonntag, Düsseldorf





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