ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE
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Rezensionen aus dem Archiv für Sozialgeschichte online

Lawrence D. Stokes, Der Eutiner Dichterkreis und der Nationalsozialismus 1936 – 1945. Eine Dokumentation. Mit einer Einleitung von Kay Dohnke, Wachholtz Verlag, Neumünster 2001, 470 S., brosch., 35 EUR.

Historiker und Literaturwissenschaftler haben es traditionellerweise schwer miteinander; ihre Perspektiven gehen nur zu leicht auseinander. Wenn der Historiker Lawrence D. Stokes das Fazit, das er aus seiner umfangreichen Dokumentation der Aktivitäten des "Eutiner Dichterkreises" ziehen will, programmatisch mit der den Buchtitel variierenden Frage eröffnet: "War der Eutiner Dichterkreis eine nationalsozialistische Organisation?" (430), dann kennzeichnet er sein Interesse an diesem für die kulturelle Konstellation der 30er Jahre vielleicht nicht zentralen, aber doch auch charakteristischen Zusammenschluss ziemlich eindeutig.

Der Eutiner Dichterkreis war eine von 1936 bis 1942 aktive, nach Kriegsende im Ungewissen hindümpelnde, während der 30er Jahre 27 Mitglieder umfassende Vereinigung von Schriftstellern und Kulturfunktionären, die mit der Wahl ihres Namens als ein Remake jenes "Eutiner Kreises" erscheinen sollte, der sich in der kleinen fürstbischöflichen Residenzstadt Eutin zwischen 1782 und 1802 um Friedrich Leopold v. Stolberg und Johann Heinrich Voß geschart und gleichsam prototypisch (bildungs-)bürgerliche Geselligkeitsformen herausgebildet hatte.[1] Der mit der Namensgebung signalisierte Anschluss ans Regionale war für die Mitglieder, die meist aus Schleswig-Holstein bzw. dem territorial zugehörigen Oldenburg i. O. stammten, insofern von Belang, als sie sich regional und landsmännisch gebunden fühlten und ihre Existenz in dieser Territorialisierung nicht allein als sinnvoll, sondern darüber hinaus nachgerade als sinnstiftend empfanden. Allerdings war trotz der markanten Erweiterung des Namens nur die Hälfte der Mitglieder von Beruf Schriftsteller, diese aber – wie Hans Friedrich Blunck, Hermann Claudius, Edwin Erich Dwinger, Gustav Frenssen, August Hinrichs, Alma Rogge oder Helene Voigts-Diederichs – zumeist auch jenseits der regionalen Grenzen sehr erfolgreich, um nicht zu sagen: berühmt. Die germanistische Forschung hat sich ihrer – vor allem natürlich Frenssens[2] oder Bluncks[3] – zumindest ansatzweise angenommen und ihre Bindung an ideologische und machtpolitische Positionen zu klären versucht.

Im Mittelpunkt von Stokes‘ Recherche stehen die politische Orientierung der Vereinigung wie der einzelnen Mitglieder und deren Beziehungen zu Personen und Institutionen des Staates wie zu ideologischen und politischen Positionen des Nationalsozialismus. Mit dieser Zentrierung der Aufmerksamkeit auf das Einzelne ordnet der Autor seine Dokumentation in eine Reihe von vergleichbaren Studien zur Kulturgeschichte des Dritten Reichs ein, die besonders während des letzten Jahrzehnts den Blick aufs Detail gelenkt haben, etwa auf regionale Strukturen, [4] auf die Verlagslandschaft, [5] auf Publikationsorgane[6] oder dichterische Vereinigungen, [7] die für die Organisation des literarischen Lebens während der 30er Jahre von zentraler Bedeutung gewesen sind. Damit sind örtliche Kommunikationsstrukturen durchsichtig und gleichsam mikrologische Widerlager zur makrologischen Kulturpolitik des Dritten Reichs[8] freigelegt worden. Methodisch schlägt Stokes Wege ein, die seit den Sammlungen von Joseph Wulf[9] und Ernst Loewy[10] in der einschlägigen Forschung etabliert sind; er selbst ist sie übrigens vor fast zwei Jahrzehnten schon einmal mit Erfolg gegangen. [11] Die Materialsammlung ist über ihren speziellen Anlass hinaus für kulturpolitische und -historische Untersuchungen zu den 30er Jahren gerade deswegen interessant, weil sich an den Dokumenten die Verknüpfung zwischen kultureller und politischer Sphäre diskutieren lässt. Aber genau dort liegt auch das Problem von Stokes‘ Zusammenstellung. Sie schließt nicht nur beide Bereiche schnell kurz, sondern sammelt die Dokumente bereits im Lichte dieses kurzen Schlusses. Als provokativ kann dieses Verfahren allenfalls empfunden werden, weil es in den lokalen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit (etwa aus Anlass von Benennungen von Straßen) nur zu gern abgewehrt und im allgemeinen Interesse am Schrifttum dieser Periode (falls es jenseits spektakulärer Konstellationen denn überhaupt besteht) eher vermieden wird.

In den Einzelcharakteristiken der Mitglieder des "Dichterkreises" (212 – 429) verfährt Stokes immer nach dem gleichen Schema: Einer Gesamteinschätzung ihrer Tätigkeiten während der 30er Jahre folgen Dokumente und öfter ausführliche Zitate aus Publikationen, die unter dem Gesichtspunkt ausgewählt worden sind, was sie über das Verhältnis des Betroffenen zum Nationalsozialismus aussagen. Zwar bemüht sich der Autor um ein abwägendes Urteil, aber am Ende neigen sich die Schalen dann meist doch zuungunsten der Gewogenen. Das erscheint dort unmittelbar einsichtig, wo "Kreis"-Mitglieder Partei- oder Staatsorganisationen angehört haben (und das war bei den meisten der Fall), denn eine solche Mitgliedschaft begründet in Stokes‘ Panorama eine polarisierende Ordnung. Da dieses organisationslogische Distinktionsschema dem Autor aus unerklärten Gründen aber nicht ausreicht, überlagert er es mit einem explikatorischen: er sucht in ausgewählten Texten nach nationalsozialistischem Gedankengut. Dessen Feststellung (und das bedeutet zumeist das Ausmachen von Schnittmengen im Wort- und Argumentationsinventar zwischen den Belegen und nicht weiter differenzierten nationalsozialistischen Textbeständen) wirkt als ein Mechanismus des politisch-moralischen Auslagerns. Dieses Verfahren drückt historisch brisante Fragen nach der Stellung der Inkriminierten im Gesamtzusammenhang der deutschen Geschichte in den Schatten. Da die Beteiligten (mit Ausnahme von Dwinger) zudem am ehesten dem völkischen Spektrum zuzurechnen sind, bleibt Stokes‘ Suche nur zu schnell im Gestrüpp der meist wolkigen Auslassungen der Beteiligten hängen. Literaturwissenschaftliche Ansätze könnten hier sicherlich ergänzend zu genaueren Einschätzungen führen. So bringt die Recherche in diesem Abschnitt kaum wirklich Neues ans Licht, obwohl die Dokumentation einschlägige Quellenbestände intensiv durcharbeitet.

Aufschlussreicher ist die Sammlung dort, wo Stokes die Geschichte des "Dichterkreises" nachzeichnet und dokumentiert (42 – 187), denn sie wurde in der Tat durch kulturpolitische und machtstrukturelle Initiativen geprägt. Die Protagonisten dieser Darstellung sind lokale (Kultur)Politiker, in erster Linie Jochen Schmidt, ein ehemaliger Sekretär H.F. Bluncks, der rabiate Oldenburger Regierungspräsident SA-Gruppenführer Böhmcker und im schattigen Hintergrund der "Altpräsident" der Reichsschrifttumskammer Blunck selbst. Die zügige Gründung im Jahre 1936 sollte – zumindest in den Augen der Betreiber – vornehmlich darauf gerichtet sein, die kulturelle Brückenfunktion Schleswig-Holsteins in den "Norden", d.h. nach Skandinavien, kulturpolitisch zu stärken. (Fremdenverkehrspolitische Interessen und regionale Profilierungssüchte treten in Stokes‘ Überlegungen deutlich zurück.) Einmal mehr fällt ins Auge, wie stark zumindest auf regionaler Ebene die Organisationsstruktur der 30er Jahre an personelle Konstellationen gebunden gewesen ist, denn nach Böhmckers baldigem Abgang von der Eutiner Szene zerbröselte der "Dichterkreis" im Stellungsspiel der lokalen Partei- und Staatsgrößen sowie in der Konkurrenz zu der seit 1921 bestehenden, völkisch orientierten "Nordischen Gesellschaft" und zu Bluncks eigenem "Deutschen Auslandswerk". Da Stokes auf einen Begriff von "dem" Nationalsozialismus festgelegt ist, entgleiten Divergenzen innerhalb des Machtapparates, die nach der regionalen Neustrukturierung Schleswig-Holsteins im Jahre 1937 (personalisiert in Böhmcker, dem Gauleiter Hinrich Lose und der NSDAP-Kreisleitung) auftraten, nur zu leicht der Aufmerksamkeit; der Literaturwissenschaftler mag auch in diesen Passagen die schnelle Zusammenführung der politischen und kulturellen Sphären bedauern, weil die politischen Dimensionen kultureller Konstellationen nicht recht in den Blick kommen. Was bedeutete es etwa, dass auf dem (geplanten) Treffen im September 1939 Johannes Brahms‘ Zweite Symphonie auf dem Programm des "Festlichen Konzerts" stehen sollte, oder dass 1937 auf der Zusammenkunft des "Dichterkreises" eine Ausfahrt mit Jagdwagen durch die Waldungen am Kellersee stattgefunden hat? Was mag einen gestandenen Autor wie Gustav Frenssen bewogen haben, sich so entschieden in den von Partei und Staat ausgelegten Rahmen des "Dichterkreises" einzupassen? Wo lag das so starke politische Interesse am "Niederdeutschen"?[12] Warum fanden die nationalsozialistischen Granden – und an deren Spitze ausgerechnet der Straßenkämpfer Böhmcker – einen solchen Gefallen an den bildungsbürgerlichen Geselligkeitsformen einer Dichterversammlung?

Das materielle "Produkt" des "Dichterkreises" nahm sich im übrigen durchaus bescheiden aus, und es spielte innerhalb des kulturellen Betriebs der End-30er Jahre keine große Rolle. Außer bei Gelegenheit der Herbst-Zusammenkünfte, die 1936 bis 1938 und dann noch einmal 1942 stattfanden und der nationalsozialistischen wie regionalen Öffentlichkeitsarbeit dienten, wurde der "Dichterkreis" nur in dem von ihm bestrittenen, zwischen 1936 und 1940 herausgegebenen Eutiner Almanach sichtbar; dessen Erfolg blieb begrenzt. Stokes‘ urteilt auch darüber (188 – 211) etwas holzschnittartig, so wenn er etwa "dem" Nationalsozialismus eine "ausgeprägte Neigung" glaubt attestieren zu können, den "Naturkräften den Vorrang vor technologischen Errungenschaften zu gewähren". (195) [13]

Der Dokumentation ist eine zwar knappe, aber instruktive Einleitung von Kay Dohnke, einem intimen Kenner niederdeutscher Literatur, vorangestellt (12 – 41), die um die von Stokes gesammelten und interpretierten Texte einen breiteren historischen und methodischen Rahmen legt. In gedrängter Form gibt Dohnke einen sehr informativen Überblick über die Entwicklung der norddeutschen "Heimatliteratur" seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei vermittelt er den literarischen Bereich in erster Linie in einer ideologiekritischen Perspektive mit dem politischen Bereich (ohne die Schwierigkeiten dieses Verfahrens zu verschweigen). Er verortet den "Eutiner Dichterkreis" als eine folgerichtige Erscheinung in einer langen Entwicklung im "niederdeutschen" Raum.

Uwe-K. Ketelsen


Fußnoten




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